electricgecko.de

Null Radius

Es gehört zu den Konstanten der Kulturproduktion, dass die ursprüngliche Formulierung einer Idee zu ihrer Messgröße wird. Sie markiert einen neuen Punkt im System des Gesamtwerks, von dem aus Fortschreibungen, Verbindungen und Revisionen möglich sind – doch es ist diese erste Formulierung, in der die Idee ihre größte Präzision und Wildheit erfährt. A.k.a.: Die erste Platte ist immer besser als alle Folgenden.

Case in Point: The KVB sind inzwischen zu einer Gebrauchsmusikband mit einem großen Repertoire aus Wave- bis Darkwave-beinflusstem Pop geworden. Ihre aktuelle Veröffentlichung (Mirror Being) ist das Joy Division Best-Of einer alternativen Timeline, in der sich Ian Curtis nicht in seiner Küche erhängt, sondern als ausgewaschener Mitfünfziger schließlich mit allem seinen Frieden gemacht hat. Klingt ganz gut, auch von oberflächlich interessierten Zeitgenossen ästhetisch decodierbar, egale Musik.

Allerdings gab es den Punkt, an dem The KVB einen spannenden Vorschlag gemacht haben: Eine Reihe von Releases zwischen 2011 umd 2013, beginnend mit ihrem Debut Into the Night, über die exzellente Always Then bis zu Immaterial Visions. Alle diese Releases gingen zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung an mir vorbei. Die Folge: Ich verbringe den zögerlich beginnenden Sommer des Jahres 2015 mit den atmosphärisch vollkommen unpassenden Tracks Captives und For the Day, die eher in den dunklen Hamburger Oktober gehört hätten. Doch ich kann nicht anders; das ist ganz unwiderstehliche Musik. Präzise in ihrer Verrauschtheit, reduziert in ihrem Material, mit Atmosphäre, mit Nachdruck. Hinzu kommen einige unterhaltsame Überraschungen, wie etwa der Surf-Opener Shadows, der vor einigen Jahren so auch von den Horrors hätte kommen könnnen – hätten sie etwas mehr Humor.

Diese Alben sind kein Revival, sondern eine ziemlich gut verdichtete Idee zum Zeitpunkt ihrer ursprünglichen Formulierung.

Aktuelle Texte Archiv (2012 – 2024)