electricgecko.de

Abstract Grace

Der folgende Text ist eine längere Version meines Tweets vom 24. Oktober, mit dem im Grunde bereits alles gesagt war.

Lagrangian points are positions in an orbital configuration of two large bodies where a small object affected only by gravity can maintain a stable position relative to the two large bodies. The Lagrange points mark positions where the combined gravitational pull of the two large masses provides precisely the centripetal force required to orbit with them. There are five such points, labeled L1 to L5, all in the orbital plane of the two large bodies.

I

Lee Gamble bemüht sich in seiner Arbeit um eine Form abstrahierter Eleganz, eine Eleganz zweiter Ableitung. Bereits auf seinen frühen Releases ist die Musik stets die Funktion eines Anderen, generiert aus dessen Anwendung auf sich selbst – so unter anderem geschehen mit den Leerstellen und Abwesenheiten von Jungle (exzellent: Diversions 1994-1996) sowie den löchrigen Möglichkeiten generativen Renderings (Koch). In allen Fällen ist die Folge eine spezifische Art fragiler Schönheit, die bei aller Konzentration auf sich selbst immer auf den weiten Horizont ihres Schöpfers hinweist. Lee Gamble sieht weiter und schärfer als die meisten seiner Peers, und totz aller laddishness ist er sich seines ironiefreien Anspruchs bewusst:

He wanders into an extended metaphor involving the Voyager probe and space debris. I don’t know whether that just sounds utterly pretentious. At the end of the day, we’re in the arts, aren’t we? Allow it, man. It’s fucking dull otherwise. I mean, it’s not dull, but you know what I mean! (Lee Gamble im Gespräch mit Angus Finlayson bei RA).

II

Aus dieser Perspektive betrachtet ist die Bedeutung des Materials für Lee Gambles Arbeit evident – Themen mit hinreichender Tiefe werden gesammelt und auf Brauchbarkeit für die nächste Schicht untersucht, Worte in erster Linie nach ihrem assoziativen, weniger ihrem semantischen Wert beurteilt1. Seine Quellen wandeln sich, und mit ihnen die ästhetischen Schwerpunkte seiner Releases. Fixpunkte sind auszumachen: Technologie und die Arbeit der Menschen daran, Mimese, World Building, Rendering, Voyager 1 und überhaupt das All, Staub, analoge Schleifen.

III

Das Release von Mnestic Pressure ist nun eine weitere Ableitung in der Auseinandersetzung des angehäuften Materials. Im Vergleich zu Koch aus dem Jahr 2015 ist es konzentriertere, dichtere Musik, mit größerem Interesse an einer kohärenten Stimmungskurve. Dennoch bleiben die 13 Tracks auf sich selbst bezogen, mit der experimenthaften Untersuchung ihrer eigenen Prämissen befasst, ihr Groove nach Innen gerichtet. Das sind alles wahnsinnige Hits, nur halt nicht in der Welt, unter dem Atmosphärendruck des allzu Physischen.

Ich habe der Folge von You Hedonic und UE8 wenig entgegen zu setzen, das ist Musik, die mich unmittelbar in sich auflöst. Die Schönheit dieser Tracks speist sich bei aller Strenge aus der Offenheit ihrer Strukturen, bei aller Macht aus der Tiefe der Räume in denen sie verhallen (Ignition Lockoff). All diese abstrakten Maneuver bleiben dabei in der analogen Skala ihrer Ausgangsmaterialien verankert. Anders als auf dem vorangegangenen Album widmet sich Lee Gamble weniger der Output-Exegese digitaler Tools – an dessen Stelle tritt die Auseinandersetzung mit der durch diese Tools geformten Welt.

Dies mag ein Grund sein, warum Mnestic Pressure eine dieser Platten ist, die hilft, die Welt zu verstehen – oder sehr viel treffender: to make sense of the world. Da ist dieser unfassbare, völlig konkrete Groove, der die ersten 15 Sekunden des Albums einnimmt. Ein Fake-out, und so etwas wie die Passage aus der Welt der Dinge in die ungleich sinnvollere Welt von Mnestic Pressure.


  1. Jove Layup, 23 Bay Flips, Voxel City Spirals, You Hedonic, You Concrete, q.e.d. 

Aktuelle Texte Archiv (2012 – 2024)