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Musik die es nicht gibt

Eine merkwürdige Platte, Unexplained Sky Burners, liegt quer in der zweiten Hälfte dieses Jahres und fordert kognitiven Raum. Es ist ein wortloses Release, ein Album gefüllt mit Bildern, wie sie an den Enden von analogen Fotofilmen zu finden sind. Brechende Farben, Motive die keine sind, grafische Kompositionen, die niemand gestaltet hat. Der Titel unterstreicht es: Was hier vor sich geht, ist unklar, aber spezifisch. Nichts zu lesen, alles zu fühlen. Es ist vertraute Musik, die es nicht gibt.

Die Tracks bedienen sich aus einer imaginierten kollektiven Erinnerung, sie scheinen aus Versatzstücken gesampled zu sein, die niemals vollständige Tracks waren. Diesen Club gab es nicht, und wir waren nie zusammen dort, wir haben diese Musik nicht gehört – aber wenn ich nachts die Goltzstraße hinabgehe, dann gehen Menschen durch ihre Straßen in Taipeh und Istanbul, hören diese Musik und fühlen was ich fühle, davon bin ich überzegt. Unexplained Sky Burners wendet sich gegen Nostalgie für die neunziger und nuller Jahre, zieht ein künstlich geschaffenes Hier und Jetzt verklärten Erinnerungen vor.

Die Kunst von Paul Dickow besteht im Zerlegen des bestehenden Materials in seine feinsten Bestandteile, molekulare Musik, Musik aus elementaren Bestandteilen von Techno: Wobbles, Stabs, Slaps, Horns und Klicks und weitere hoffnungslose Lautmalereien der Soundbeschreibung werden in disparate Arrangements verstrickt, die soch scheinbar schon immer so zusammengehört haben müssen. In dieser Hinsicht sind die Tracks also from first principles gebaut, also weder neu noch alt, sondern die Gegenwart eines Paralleluniversums, dass von außen, durch den Himmel in unser Ravekontinuum drängt. They are a specific attempt to grapple with iconic samples in a kind of archaeological dissection, sagt der Waschzettel1 ganz treffend.

Wenn Blue Situation und Bassmaker aufeinander folgen, könnte ich überall sein, aber ich bin in Porto und habe noch vier Kilometer und zehn Katzen vor mir, Pace, Traktion und Bodenhaftung könnten nicht besser sein.


  1. 1998–2003: Die Worte aus meiner Zeit bei der Zeitung, sie werden nie verschwinden. 

Pléïades

[Xenakis‘ music] is an alien shard, glimmering in the heart of the West. (Alex Ross)

Zeit ist vergangen, zwei Jahre und fast ein weiteres, und manchen Erinnerungen1 begegne ich wie ein Fremder, oder ein Anderer. Das Atonal-Festival war eine Konstante und eine Bestätigung, ein Denkmal für das Richtige in der Welt und in der Musik. Es gab kein Festival in diesem Jahr, aber X100, Konzerte und Inszenierungen zum hundertsten Geburtstag von Iannis Xenakis2. Eine Veranstaltung mit vergleichbaren Mitteln, aber transformierter Perspektiven: Unten ein Perkussionsensemble am Boden des Lichtschachtes. Vor und hinter uns die Serialität und Modulation der aus Stahlrohr errichteten Bühnen, sie sehen aus wie gefrorene Equalizer. Über uns die Weite von Bau und Raum und Zeit. Dieses mal ist nicht Techno der Ausgangspunkt unserer Aufmerksamkeit, es sind ältere Zuwege, ein tieferes Verständnis von Musik.

Ohne Kontext und Reihenfolge:

Pléïades, the circulating, layered, intersecting, air-compressing percussive piece, is reverberating upwards and around us and towards Kraftwerks stoic t-beams. Its rhythm is taking on tectonic qualities, intersecting and locking itself in place, suspended in air and held without external force. Music of wooden strength and earthen power. This is analogue body music.

Infinite complexity, infinite modulation of ideas, destruction of direction, reassembly: a swarm of small grey fish in algorithmic motion in a rock basin by the Atlantic coast.

The guidebook speaks of diffusion, rather than performance of these works. Sergio Luque recites Hibiki Hana Ma (composed for Expo ’70, Osaka): re-assembling its audio frames by bouncing boomy reverbs across six dimensions. Once again, this venue plays the artists.

The kind of precisely metered drumming that has put species under spell for milenia, the primal tick tock, is performed here and now by Valentina Magaletti. There is a dark drone beneath, its complexity wrapped in felted wool. Blue smoke slowly oozes along dark floors, I find myself transported into Michael Mann’s questionable setting of The Keep (1983), must be the palette, or my haunted longing.

This music is not performance, it’s more like weather, a condition of space and time.

Utmost concentration and concentricity in Rides of Discord, the piece comissioned from Puce Mary and Bill Kouligas. It presents a clear diametral arrangement around an algorithmic string progression: opening with shaped noise (a hint of groove, remarkably) and closing with explosions of light synced to brash white flares of analogue synths. Onyx shattering, voids beyond the beams, the dark between the stars.


  1. Bei meinem ersten Besuch entschied ich mich, Notizen zu machen und wenige Bilder. Ich schrieb Reaktionen im Moment des Erlebens in eine Textdatei auf meinem Telefon. In späteren Jahren habe ich einige dieser Notizen hier veröffentlicht. Wenn ich sie heute lese, erinnere ich mich präzise an den Moment und wie sich das anfühlte, aber ich scheine von einem anderen Ort herüber zu blicken. Gleicher Aufstieg, anderes Plateau. 

  2. Nach einigen Begegnungen bei meiner Arbeit mit Ensemble Resonanz war es vor allem The Architect is Absent, das Xenakis für mich fassbar machte. Ich empfehle es sehr. 

Abstand von den Dingen

Luxus ist Abstand von den Dingen, Raum der keinen Nutzen hat, nur die Unterscheidung überdeutlich markiert, weit und leer genug, damit du dich darin selber aufhalten kannst. Die Leere ist das Essentielle, ihr Gegenüber existiert nur als Gegengewicht und Markierung, der Garten definiert das Haus. Das sind keine neuen Ideen. Ich denke und schreibe immer wieder über Nichts und ungefüllten Raum – nicht als eine Abwesenheit oder etwas das fehlt, sondern als etwas Absichtsvolles, Leere die besteht, Leere als Luxus, Abstand a priori. Jedenfalls, Musik.

Die Musik von Relaxer ist luxuriös auf diese Weise. Es sind Zeit und Licht und Raum, aufgehoben in weiten Umlaufbahnen, gerade weit genug ausgearbeitet, um Rotation und Balance zu erhalten, floaty Meditations on a Garage-type Beat. Bei aller Bestimmtheit bleibt diese Musik ergebnisoffen, sie ist unversell zur Zeit: angemessen für das allgemeine Gefühl hier und jetzt, und doch ohne jede direkte Anschlussfähigkeit für ein Thema oder einen Aggregatszustand1. Relaxer operiert derart präzise dazwischen und daneben, wie es sonst nur Lee Gamble kann, oder halt Ital bereits auf Planet Mu konnte, das inzwischen abgelegte primäre Projekt von Daniel Martin-McCormick.

In manchen Tracks auf Concealer herrscht eine rastlose Spannung, ein Oszillieren auf der Stelle, das die Schwingungen der Atome aufrecht erhält. Organismus und Technologie sind gleich schwer und gleich bedeutsam in diesen Räumen. Erst der letzte Track, der titelgebende Concealer, macht spürbar, wie viele Ecken und Klingen sich in den Weiten dieser Musik verborgen haben müssen. Er verweist zurück auf den Luftdruck und das Metall in Traps and Lures, das Aufrastern der Klangplatten in Excision in Androgyne; Mello war offenbar das Echo eines Ravehits von 1998? Und natürlich war da der Beginn, die zunehmend androide Stimme von Kahee Jeong, eerie und verführt: Let The Walls Drip. Hier war nichts leer. Du warst hier und du hast dich aufgehalten.


  1. Auf Licking, dem neueren Release vom Anfang dieses Monats geht es konkreter geradeaus: Der Titeltrack samt Kilbourne Remix und Disinfectant sind reines Momentum. Doll allerdings klingt wie der elfte Track, der Concealer noch gefehlt hätte. Ein windendes, schillerndes Stück Musik. 

Gegenwart

Ein silberner Zug zieht seine Bahn durch eine Landschaft in der Abendsonne, schnell und gemessen, ein leichter Geruch von Ozon geht vom ihm aus. Lok und Waggons sind aerodynamisch wie ein Nozomi-Triebwagen, aseptisch und warm zugleich, wie ein fabrikneues Abteil der New Yorker U-Bahn, ein industrielles Objekt, das es nicht gibt. Dieser Zug durchquert das Grenzland meines Sommers, der kein Sommer ist, sondern das erste fühlbare Stadium des Welt-Untergangs in Zeitlupe. Es ist Borderland, das gemeinsame Projekt eines deutschen Adligen und einem Funkadelic-Kid aus Detroit1, zwei Releases aus den Jahren 2013 und 2016. Damit fallen diese Platten in den Zeitraum, in dem ich die mit Samt ausgekleideten Releases auf Dial und Delsin hinter mir gelassen hatte, es ging rauer zu in den zehner Jahren. Ich bin zurück.

Transport und Borderland sind Lektionen in Präsenz, es ist eine Musik der vollständigen Anwesenheit in der Gegenwart. Oder vielleicht eine Musik der Nostalgie für die Gegenwart, die es nicht mehr gibt. Die Tracks sind ganz konzentriert auf den Prozess ihrer eigenen Entwicklung, methodisch und in sich wiederholenden einfachen Schritten. In Ruhe, mit Nachdruck. Natürlich geht es auch um Oberflächen, Dubtechno ist Sounddesign, die kontrollierte Präzision der 1980er Jahre hallt durch Sub und Main. Es ist Architektenfunk, eckiger, verhaltener Groove aus Düsseldorf, der in den Händen und den gekaperten Maschinen von Musikerinnen der urbanen afrikanischen Diaspora zu etwas spirituellem wurde – ohne seine grafischen Klarheit zu verlieren, Magie der Echos.

Transport ist die bessere der beiden Platten, und sie begleitet mich seit dem Frühjahr durch ein Jahr des Rückzugs in die Gegenwart. Lightyear und Riod, Tracks die niemals Hintergrund sind und dennoch Raum lassen, der Vergangenheit und Zukunft verbindet. Das ist monumentale Musik, die nichts betäubt. Sie ist leicht zu unterschätzen in ihrer Smoothness, ihre Komplexität entfaltet sich erst in der Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Kontexten – Odyssey gleicht einem Miegakure-Arrangement, Tag und Nacht, Tau und Wüste, ein gleitender Zug des Hier und Jetzt. Ich habe meine Faszination für diese Form nicht verloren, und sie ist präsenter als sie es lange Zeit war – am Ende sind es immer die gleichen, wenigen Menschen, die etwas Übergeordnetes verstanden haben und es ausdrücken können, das ist rar und alles, zumal im hier (Berlin) und jetzt (2020–).

Es sei ihm bei den Millionen von Schritten aufgefallen, dass es eine Gegenwart nicht gab, nicht geben könne. Jeder seiner Schritte war bereits Vergangenheit, und jeder neue die Zukunft. Der Fuß angehoben bereits Gewesenes, den Fuß in den Schlamm vor sich niedersetzen noch in der Zukunft. Wo war die Gegenwart?

Werner Herzog berichtet über Hiroo Onoda, aus Das Dämmern der Welt, Seite 125.


  1. Natürlich: Moritz von Oswald und Juan Atkins 

Dust Gods

Journey Index (released today by Heathered Pearls) is completed by a rhythmic cicadae hum, a thousand voices unisono, filtered through flimsy noise cancelling algorithms rendered hapless by chitine percussion, at La Serre dei Giardini in Bologna. The track’s slow drone emulsifies with this summer day’s relentless heat, subduing this universe to a heavy slow motion crawl: All is bound and connected to its irresistible momentum. The sound design might lean towards Detroit, but this is a decidedly rural affair, under the sky and close to nature. Like Detroit once, it points to the future. A majestic, monastic desert planet idleness has befallen this place of advanced permaculture agritech, casting humanity as a mute witness, as silent dust ghosts, at the edge of an end and the beginning of another era. I can feel it, this soft track, this soft moment.

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