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Präziser Schatten

Ich fragte Kachelbad, ob er das Gefühl kenne, wenn man sich bewusst macht, dass man gerade in diesem einen Augenblick existiere, und Kachelbad wusste, wovon ich sprach: Es dauert nur wenige Sekunden, wenn man darüber nachdenkt und schon wird einem mulmig und bekommt das Gefühl, zu verschwinden. Als sei man immer weniger Körper und immer mehr Gedanke. Fast meint man, sich von hinten zu sehen, sich in Auflösung zu begreifen und nur noch zu denken. So ein Himmel und so eine Situation provozieren jenes Gefühl vielleicht auch. Doch seit meiner Kindheit überfallen mich derlei Gedanken. Ich mache mir bewusst, dass ich gerade nun in diesem Augenblick existiere, dass es all das gibt, was ich sehe und spüre und fühle, dass es die Physik gibt, dass Handlungen Konsequenzen haben, ich sehe meine Hände, begreife meine Augen und verstehe, dass niemand frei ist, weil alles Konsequenzen hat, auf die man reagieren muss. Doch das Denken bleibt abstrakt, so lange, bis ich fast mantrisch immer wieder um den Gedanken kreise, dass ich jetzt gerade hier in diesem einen Moment existiere und dass das nicht anzweifelbar ist, eben weil dieser Gedanke sich durch die Zeit bewegt und eine Geschichte und eine Zukunft hat, er steht vor der Geschichte und macht deutlich, dass Entscheidungen erforderlich sind (Atmung, Nahrung, Bewegung, Leben oder das Gegenteil), und mir wird mulmig zumute, noch mulmiger. Gleichzeitig aber gibt es keinen anderen Modus, in dem ich so deutlich meine Existenz spüre. Die Vorstellung, was wäre, wenn das nicht wirklich sei, was also die Alternative zum Dasein wäre, ist undenkbar, sie bleibt abstrakt.

Hendrik Otremba, Kachelbad’s Erbe, 369-370. Hoffmann und Campe, 2019.

Es ist eine einigermaßen spezifische Empfindung, und sie derart präzise formuliert zu lesen, macht ein bemerkenswert warmes und verstörendes Gefühl, der lebende Schatten des eigenen Inneren auf einem Display eines Ultraschallgeräts.

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