electricgecko

August

Es ist eine solche Wohltat, mit Unbekanntem konfrontiert zu werden, mit einem Hinweis, einer Information, die eine andere Antwort vorsieht als das ewige: ja, ich weiß. — Rainald Goetz, Klage, 321

Ich erinnere mich, einmal in einem De:Bug-Interview mit Shed/René Pawlowitz gelesen zu haben, dass er Musik auf zwei verschiedene Weisen produziert. Die 12″, die Hits, sind reduziert auf und zentriert um eine einzige brillante Idee. Bei denen lasse er sich regelrecht gehen. Das Ergebnis sind Veröffentlichungen, die so stark sind, dass selbst ihren Remixern – Mittel- und Materiallos – es nicht gelingt, sie auch nur einen Deut schlechter zu machen. Höchstens besser.

Die anderen Releases1 gehören zur seltenen Gruppe der Techno-LPs, die das Wort tatsächlich verdienen. Nicht aufgrund von Spieldauer oder inhaltlicher Fülle. Sondern weil ihre Tracks nicht ohne einander funktionieren. Weil sie voneinander abhängen, in ihrer gerüsthaften Löchrigkeit, sich gegenseitig stützen. Sie umgehen bewusst, was Shed in seinen Club-Releases so perfekt zu leisten in der Lage ist: die unbedingte Verdichtung, das don’t watch that, watch this des Floors.

Das neue Release dieser Art ist richtigerweise mit The Killer betitelt und verwebt elf Tracks zu einer Geschichte über den Führungsanspruch in Sachen Style und Skills. Trash Talk also, und unverhohlener noch dazu. Kann man machen/sollte man häufiger machen. Vor allem, wenn die Ware so gut ist, wie beschrieben.

Denn die Verhältnisse sind nach Silent Witness und I come by Night klar, Track zwei und drei. Sie sind straighter Techno, gefolgt von verwobenen Ambient/Dub-Fragmenten, die den Druck ihrer Vorgänger nur kurzzeitig zurücknehmen, ihn eher unterstreichen als mindern. Der größte Hit kommt an zehnter Stelle und ist – selbstverständlich – mit The Filler betitelt. Grinsen und aufgeben, weil das so absurd gut ist. Das Selbstzitat im letzten Track (#11) in seiner ganzen Schönheit hinnehmen, sein Titel zuletzt im Display: Follow the Leader.


  1. Shedding the Past, The Traveller und nun: The Killer 

Juli

Alles was es braucht, um ein Setting auszufüllen, ist eine Parole. Mehrere Worte, die sich mit wachsender Intensität erst sagen dann rufen und schreien lassen. Nicht einmal phonetisch gut oder rhythmisch. Sondern in erste Linie spannend und referenzreich, ohne eindeutige Aussage. Außerhalb ihres Kontextes verliert die Parole ihre Wirkung. Sie hat keinen Moment, sie ist der Prozess. A phoneline, a laptop and a box of tangerines.

Juni

Florenz. Es mag eine persönliche Verklärung oder Verschaltung sein, doch wenige Orte gelten rechtmäßiger und vollständiger für das Tempo, die Art und Weise des Lebens in der alten Welt (in Europa). Florenz ist essentiell für die Toskana, der Stadtkern scheinbar ohne Moderne, die Industrie stets nah am Handwerk. Um das zu erkennen, braucht es nicht die Bilderserien von der Pitti, alle halbe Jahre. Auf der anderen Seite des Arno, Otro Arno, ist es schwer, einen Platz zu finden. Also einen Platz, der nicht schön, von idealer Größe und in Farben zwischen Siena und Karmesin gekleidet wäre. Was man in Florenz tut, tut man zuallererst in Florenz – und zwar gerauhte Stoffe tragen, Mode betrachten, Wein trinken und Käse essen. Manchmal ist es leicht, mit der Moderne.

  • Flet

    (Karte)

    Das Flet ist der richtige Ort (selbstverständlich Otro Arno) für Aperitivo in Florenz. Das Niveau der Drinks ist durchweg hoch, Käse und Brot sind von guter Qualität, der Piazza de Nerli liegt weit und dunkelblau vor der Tür. Der angeschlossene Club ist zu meiden. Nach dem dritten Getränk sollte man lieber den Weg ins Viertel fortsetzen.

  • Arno

    (Karte)

    Der Staudamm, der längs der Stadt und quer durch den Arno verläuft, ist von der Promenade zu erreichen. Hier sollte man sich niederlassen, um sich für eine Stunde oder zwei jugendlich zu geben. Und zwar mitten im Fluss, die sockenlosen Schuhe knapp über der Wasseroberfläche, Chinotto trinkend, mißtrauisch die Strömung im Auge behaltend.

  • ‛Ino

    (Karte)

    Ich kann mich sehr genau an das beste belegte Brot meines Lebens erinnern. Ich habe es hier gegessen, bei ‛Ino in Florenz. Ein hübscher, kleiner Deli. Holzofen, gute Olivenöle, frische Nudeln. Zum Brot (toskanische Salami, Honig, Olivenöl, Tomaten, Oliven, geräucherter Mozzarella) trinkt man am besten einen Chinotto des lokalen Herstellers, dessen Namen ich nicht aufschrieb.

  • Il Santo Bevitore

    (Karte)

    Die Speisekarte dieses Restaurants in der zweiten Querstraße Otro Arno trifft die Mitte zwischen Originalität und Mode, ganz wie Interieur und Publikum. Ein angenehmer Ort, um gleich einen ganzen Abend und mehrere Flaschen Wein dort zu verbringen. Unbedingt zu bestellen ist das schwere Holzbrett mit Crudo und Käsen der Region.

  • Luisa Via Roma

    (Karte)

    Wer sich für derlei Dinge interessiert, weiß natürlich, dass Luisa Via Roma einer der bestsortierten Onlineshops für interessante Kleidung ist. Das Ladenlokal in der Via Roma vermeidet colettehafte Inszenierung zugunsten eines großen und wirklich guten Sortiments. Der vollständig schwarze Nebenraum des Obergeschosses allein ist den Besuch wert, von der Dachterrasse ganz zu schweigen.

  • Grom (Karte)

    Ich nannte Grom bereits als Ort für Paris, und ich tue es erst Recht für Florenz. Denn hier eröffnete die erste Filiale der besten und kleinsten Eiscremefranchise der Welt. Auch nach fünf Portionen Grom-Eis warte ich noch darauf, eine bessere Sorte zu essen als Cioccolato Extranoir. Einer der ganz wenigen Orte, an denen man in einer Warteschlange stehen kann.

Framing

Framing (v.), as in: dissecting, adding emphasis, pointing out.

The Hundreds in the Hands – Keep it Low, single Artwork

Ich hatte etwas übrig für die 2010er Releases von The Hundreds in the Hands, das interessante Gegenteil zu den unerträglichen The XX. Neben der Tatsache, dass inzwischen Till für das (abgebildete) Artwork der Gruppe verantwortlich ist, ein hinreichender Grund, der Promotion für das neue Album – Red Night – Aufmerksamkeit zu schenken. Turns out: Zu recht. Denn an Keep it Low, der ersten 12″, ist Andy Stott mit einem fantastischen Remix beteiligt. Schwerfällig und mit gesenktem Kopf stapft seine Version durch die verstaubte Dystopie, dass es nur so eine Art hat. Es ist die angemessenere Kulisse für Eleanore Everdells Stimme, wesentlich besser als die gestrippte Originalversion. Ich will das Haus nach Anbruch der Dunkelheit nicht mehr ohne diesen Track verlassen. Small things cast big Shadows.

  • The Hundreds in the Hands – Keep it Low 12″. Warp, 28. Mai 2012. Andy Stott Remix bei Vimeo.

April

Ich bin in einer Welt aufgewachsen, deren populäre Kultur wesentlich durch die USA geprägt war. Was neu und relevant war, entschied Amerika (sic), also der Mainstream der nordamerikanischen Unterhaltungsindustrie. Diese Welt gibt es schon seit längerer Zeit nicht mehr; was in den schönen Künsten passiert, passiert in Europa.

Dennoch ist und bleibt jede Reise nach Amerika eine Verheißung. Eine leere Verheißung eines weniger gebundenen Lebens, eine leere Verheißung befriedigenderen Konsums, die Verheißung von Weite und Schönheit.

Ich reise am Mittwoch für einige Tage nach San Francisco und Los Angeles, um eine der Besten zu besuchen. Um besseres Koffein zu trinken, um zu arbeiten, nicht um Urlaub zu machen, um das Leben zu leben. Um den Pazifik zu sehen. Vielleicht kaufe ich mir Schuhe von Poell, aber wahrscheinlich nicht. Ich reise, warum ich immer reise: für die Blicke, für die Orte, für den Krach der Straßenbahn, für die Transition, für den State of Flux.

Nachtrag: Es gibt eine Playlist für die Reise, S—F, der bei Spotify ein Track fehlt: Claro Intelecto – It’s getting Late.

Eine der schönen Eigenschaften der Postmoderne ist ihre Unübersichtlichkeit. Egal wie hart die Filter und wie groß die Konsequenz des Blickes – was es wert ist, gesehen zu werden, wird gesehen. Vor zwei Jahren hörte ich in einem Stapel Releases das Staub-12″ auf Giegling durch. Offenbar in der falschen Stimmung oder auf der Suche nach etwas anderem. Heute fiel mir die Platte wieder in die Hände – und mit ihm ein einstündiger Mix aus Vril-Tracks.

Eine massive Angelegenheit, zugegeben – aber zu staubig, zu affirmativ und zu deep, als dass sie zu ignorieren wäre. Ein ruhender Kern, ein Geflecht aus rasiermesserscharfen Sounds, ein Set für hohe, leere Räume bei Nacht. 43:24. Go. Vril ssg special (59:22), courtesy of mnml ssgs.

Das einzige, was mich noch in meinem künstlerischen Schaffen tröstet, sind die folgenden Fragen, die die Millizionäre auf der Straße immer öfter stellen: Wofür ich das fotografiere, „was denn daran schön wäre“.

Entweder braucht es inzwischen gehörigen Schub, um mich aus der Lethargie zu bewegen – oder um den Qualitätsdurchschnitt der Releases des frühen Jahres 2012 ist nicht zum Besten bestellt. Gut, die neue Scuba war erfreulich, die Tracks July und The Hope waren prägend für zwei Wochen, immerhin.

Enter Claro Intelecto. Mark Steward produziert seit den frühen zweitausender Jahren langsame, dubbasierte Clubmusik – zuweilen leicht und nah am House, zuweilen mit brachialem Druck nach vorne schleppend. Letzteres zuletzt auf der Warehouse Sessions1, ersteres zum Beispiel auf Patience einer sehr guten 12″ von 2005.

In diesem Monat erscheint Reform Club, das dritte Album, und zwar bei Delsin. Nirgendwo wäre es besser aufgehoben, denn die neun Tracks reichen weit über den Club hinaus. Sie sind die Nacht und sie sind der Sommer. Second Blood: Dunkel, warm und texturiert, wie der Weg entlang des Paul-Linke-Ufers. It’s getting Late: leicht, körperlos, ohne Ende. Control: Peaktime auf dem Weg nach Hause, auf dem Fahrrad in der Ideallinie.

Reform Club ist die Platte, die den Frühling prägt, bevor er wirklich begonnen hat. Sie gehört in die Rotation, für den Fall, nachts allein auf dem Weg zu sein.

  • Claro Intelecto – Reform Club. Delsin, 23. April 2012.
    Snippets bei Soundcloud.

  1. Compilation. Erschienen auf Modern Love: LOVE052 

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