electricgecko

Dezember

It is as black as Malevich’s square / The cold furnace in which we stare / A high pitch on a future scale / It is a starless winter night’s tale / It suits you well

November

Das Jahr erreicht die dunklen Monate, die Luft unten am Hafen ist kalt und es wird nicht mehr lange dauern, bis die Elbe Eis führt. Es ist also erwartbar Zeit für die bedeutsamen Releases des Jahres 2012. Dass an zwei aufeinander folgenden Tagen zwei Alben erscheinen, die nach dem ersten Hören unbedingt zu den besten des Jahres gezählt werden müssen, ist dennoch erstaunlich. Nach Zeros, der zweiten von Soft Moon, nun also Luxury Problems, die zweite LP von Andy Stott.

Dass seine vorigen EPs und Singles auf Modern Love zum visuell und musikalisch Schönsten und Spannendsten gehören – damit würde ich einen Text über „Luxury Problems“ beginnen. Müsste ich ihn schreiben. Es ist nicht notwendig, da bei The Quietus alles steht, was ich zu sagen hätte. Zum Beispiel über die Fortentwicklung des Andy-Stott-Sounds und seiner grundsätzlichen Attitüde.

Though it’s still a used Benz, sonically speaking – ornament nicked, in need of a lick of paint, incapable of being properly scrubbed down, but nonetheless resplendent, and growling meaner than hell.

Das kann man richtiger nicht formulieren. Auch über die Präsenz und Bedeutung von Alison Skidmores Stimme (Stotts ehemalige Klavierlehrerin) ist dort hinreichend gesagt. Zu Ergänzen wäre allenfalls ein Lob der Kunstfertigkeit, mit der Andy Stott Texturen und Breaks zueinanderfügt, auseinanderflext und ineinander zwingt. Hörbar in den aufeinander geschichteten Melodien im Titeltrack, „Luxury Problems“ etwa. Und im kurz anzitierten und dann zu einem massiven, langsamen Stomp dekonstruierten Amen Break von „Up the Box“.

Hätte Andy Stott eine weitere Let’s stay together in Albumlänge veröffentlicht – ich wäre überaus zufrieden gewesen. Luxury Problems ist mehr als das, es ist ein genreprägendes Album.

  • Andy Stott – Luxury Problems. Modern Love, 29. Oktober 2012. Vollständiger Album-Stream bei NPR.

Oktober

Künstlerischer Fortschritt hat aufzufallen – die bestehenden Ideen müssen voran gebracht werden, weitergedacht oder auf spektakuläre Weise ausgewechselt. Innovation muss sichtbar und beschreibbar sein, am allerbesten unmittelbar, schließlich weitersagbar. Doch was, wenn der Fortschritt komprimiert ausfällt, aufs Engste verdichtet, kaum Raum und Sichtbarkeit beanspruchend – kein Weiter suchend, sondern ein Tiefer? Dann ist die Iteration zu begrüßen, die Wiederholung, der machtvolle Vortrieb der bestehenden Ideen: Strip it, boost it.

Ende 2010 zählte ich das Debüt der Gruppe The Soft Moon zu meinen fünf Platten des Jahres, verstand sie als Iteration dessen, was Quad Throw Salchow im Jahr zuvor begonnen hatten. Am 30. Oktober 2012 erscheint Zeros, die zweite Soft-Moon-LP. Sie ist eine Vertiefung, eine mit großem Nachdruck vorgetragene Bestätigung: Ja, unser Weg war richtig. Wir werden ihn weiter gehen, unnachgiebiger, repetetiver, unbeirrter, konzentrierter. Strip it, boost it.

The Soft Moon legen mehr Gewicht in jede Kick, jede Bassnote, jeden scharf angeschlagenen und diffus verhallenden Soundeffekt. Sie erzeugen Musik, die ihre Intensität aus Präzision und Wiederholung zieht. Die ihre Schärfe und Verletztheit nur deshalb im eckigen Reißbrettgroove aufgehen zu lassen scheint, um sie noch präziser wirken zu lassen. Als Beispiel muss man den Titeltrack, Zeros, anführen. Es ist eines der besten Stücke Gitarrenmusik, das ich seit Jahren gehört habe. Vergleichbares ließe sich über Lost Years sagen – Rockmusik einer 4/4, die so gerade ist, dass sie auch aus einem technoiden Housetrack stammen könnte.

Letztlich ist es aber Zeros – das Album – das als intensivierte, reduzierte und hochpräzise ästhetische Aussage stehen bleibt. Ein Monolith.

September

Eine der schönsten Reisen, die man in Europa unternehmen kann, ist eine angemessen lange Strecke mit einem der Züge der City Night Line zurückzulegen. Die Einzelkabinen der ersten Klasse sind geräumig und tatsächlich schön. Der Blick vom Bett aus dem breiten Fenster auf die vorbeiziehende Umgebung ist das beste denkbare Bahnpanorama, zumindest auf der Strecke von Hamburg nach Zürich.

Überhaupt, Zürich. Kaum eine Stadt, in deren Name so viel Gefühl der alten Welt (in der wir aufwuchsen) mitschwingt. Nach Zürich reist man von Dienst wegen, nach Zürich nimmt man Cheques mit, in Zürich ruft man den Fahrer. Darum entschied ich mich im vergangenen Jahr, sehr privat und ohne Anliegen eben dorthin zu reisen. Um alleine umher zu gehen, alleine in Restaurants zu essen und alleine abzuwarten, was geschehen möge. Was geschah, schrieb ich nicht auf, wohl aber sechs empfehlenswerte Orte.

  • Haus Konstruktiv

    (Karte)

    Ignorierte man die Ausstellungen, die sehr gute Sammlung, das Programm – Haus Konstruktiv wäre immer noch einer der schönsten Orte dieser Stadt. Ein vertikales Gebäude (ein ehemaliges Wasserkraftwerk), das die White Cubes jeder Etage auf höchst angenehme Weise durch Nischen und Treppen verbindet, so dass allerorten Zwischenräume für Gedanken und das Geräusch der Klimaanlage entstehen. Aufeinander geschichtet: zeitgenössische Künstler in der Tradition der Züricher Konstruktivisten und die Sammlung des Hauses: Bill, Moholy-Nagy, Lissitzky. Ein wunderbarer Ort.

  • Hochparterre

    (Karte)

    Zürichs Stadtstruktur ist so heterogen wie man sich das vorstellt. Viele interessante Orte befinden sich in Wohngebieten, neben Spielplätzen und an Parks. Diese unurbane Eigenschaft ist im besonderen Fall von Hochparterre, der interessantesten Buchhandlung der Stadt, sehr passend. Denn Hochparterre verkauft Literatur zu den Themen Stadtentwicklung, Architektur, Gestaltung, Bau und Kulturpolitik. Das alles: übersichtlich strukturiert, in schönen Regalen und inklusive einer großen Zahl vergriffener Bände. Auf dem Weg dorthin empfiehlt sich der Weg durch die Quellen-Strasse.

  • Sphéres

    (Karte)

    Dass jede Besucherin und jeder Besucher der Stadt im Industriequartier umhergehen sollte, ist natürlich nicht neu. Nirgendwo lässt sich eindrucksvoller nachvollziehen, mit welcher Konsequenz Zürich die kluge Umwidmung überkommender Stadtstrukturen vorantreibt. Sphères ist ein Anker in diesem Gebiet – Buchhandlung und Cafe, mit den schönsten Plätzen auf der Galerie und dem besten Blick aus der breiten Fensterfront. Kabelloser Webzugriff und das gesamte Büchersortiment als Kaffeelektüre.

  • Chinawiese

    (Karte)

    Beim obligatorischen Besuch des Heidi-Weber-Hauses, der letzten Arbeit von Le Corbusier, liegt die Chinawiese in unmittelbarer Nähe. Sie ist ein wunderbarer Ort, um über den See zu schauen und eine Möwe zu füttern. Manikürte Grünflächen, Granitbänke und ein schöner Blick auf die Stadt aus ebenerdiger Perspektive inbegriffen.

  • Boutique Roma

    (Karte)

    Sicherlich, man könnte zu Fashionslave gehen – das Interieur und der Einkauf (Inaisce, Odeur) sind gleichermaßen gut. Aber von Zürich erwarte ich selbst beim Kauf interessanter Kleidung ein biederes Ladenlokal, sachliches Personal und große Ruhe. Alles das gibt es in der Boutique Roma; sie ist ein ruhiger, klarer Hintergrund für eine sehr gute Auswahl von Kleidung: Damir Doma, Forme d’Expression, Label under Construction, viele weitere.

  • Zum guten Glück

    (Karte)

    Als Kriesse in Zürich lebte, war das Gasthaus Zum Guten Glück der beste Ort für Frühstück und Waffeln im Westen der Stadt. Daran hat sich nichts geändert, nicht am Frühstück und nicht an der guten Einrichtung und nicht am Kaffee. Nach dem Frühstück lohnt es sich, durch die Nachbarschaft zu streifen – Sihlfeld ist eine der interessantesten Gegenden der Stadt.

Die Hände nicht still halten. Immerzu entwerfen, formulieren und bauen. Nach einer eigenen Sprache suchen. Das mit den Mitteln tun, die zur Verfügung stehen. Seit Jahren nicht aufhören, anzukämpfen. Gegen die Langsamkeit, gegen die Dummheit, gegen den einfachen Weg. Manisch bleiben. In den guten Momenten tatsächlich eine Aussage treffen, die stehen bleibt, auch wenn wir schon weiter sind.

Martins Sova Magazine ist eine der Publikationen, die definieren, wovon wir sprechen, wenn von uns die Rede ist. Nicht, weil es inhaltlich ganz besonders zutreffend wäre. Sondern weil seine Produktionsbedingungen und sein Material dem entsprechen, was wir uns noch nehmen können. Was auszusuchen ist, aus dem Fundus der schönen, nichtoptimierten Dinge. Arbeiten mit den Dingen, die nicht verzeichnet sind.

Wir hatten das Vergnügen, das Plakat für die aktuelle, vierte Ausgabe – Appeal – zu gestalten. Das handlackierte Ergebnis gibt es hier zu kaufen. Am Freitag feiern wir das Release der neuen Ausgabe im Magazin in der Neustadt. Kommt dazu und sagt Hallo.

August

The Importance of Telepathy

Es ist eine solche Wohltat, mit Unbekanntem konfrontiert zu werden, mit einem Hinweis, einer Information, die eine andere Antwort vorsieht als das ewige: ja, ich weiß. — Rainald Goetz, Klage, 321

Ich erinnere mich, einmal in einem De:Bug-Interview mit Shed/René Pawlowitz gelesen zu haben, dass er Musik auf zwei verschiedene Weisen produziert. Die 12″, die Hits, sind reduziert auf und zentriert um eine einzige brillante Idee. Bei denen lasse er sich regelrecht gehen. Das Ergebnis sind Veröffentlichungen, die so stark sind, dass selbst ihren Remixern – Mittel- und Materiallos – es nicht gelingt, sie auch nur einen Deut schlechter zu machen. Höchstens besser.

Die anderen Releases1 gehören zur seltenen Gruppe der Techno-LPs, die das Wort tatsächlich verdienen. Nicht aufgrund von Spieldauer oder inhaltlicher Fülle. Sondern weil ihre Tracks nicht ohne einander funktionieren. Weil sie voneinander abhängen, in ihrer gerüsthaften Löchrigkeit, sich gegenseitig stützen. Sie umgehen bewusst, was Shed in seinen Club-Releases so perfekt zu leisten in der Lage ist: die unbedingte Verdichtung, das don’t watch that, watch this des Floors.

Das neue Release dieser Art ist richtigerweise mit The Killer betitelt und verwebt elf Tracks zu einer Geschichte über den Führungsanspruch in Sachen Style und Skills. Trash Talk also, und unverhohlener noch dazu. Kann man machen/sollte man häufiger machen. Vor allem, wenn die Ware so gut ist, wie beschrieben.

Denn die Verhältnisse sind nach Silent Witness und I come by Night klar, Track zwei und drei. Sie sind straighter Techno, gefolgt von verwobenen Ambient/Dub-Fragmenten, die den Druck ihrer Vorgänger nur kurzzeitig zurücknehmen, ihn eher unterstreichen als mindern. Der größte Hit kommt an zehnter Stelle und ist – selbstverständlich – mit The Filler betitelt. Grinsen und aufgeben, weil das so absurd gut ist. Das Selbstzitat im letzten Track (#11) in seiner ganzen Schönheit hinnehmen, sein Titel zuletzt im Display: Follow the Leader.


  1. Shedding the Past, The Traveller und nun: The Killer 

Juli

Alles was es braucht, um ein Setting auszufüllen, ist eine Parole. Mehrere Worte, die sich mit wachsender Intensität erst sagen dann rufen und schreien lassen. Nicht einmal phonetisch gut oder rhythmisch. Sondern in erste Linie spannend und referenzreich, ohne eindeutige Aussage. Außerhalb ihres Kontextes verliert die Parole ihre Wirkung. Sie hat keinen Moment, sie ist der Prozess. A phoneline, a laptop and a box of tangerines.

Juni

Florenz. Es mag eine persönliche Verklärung oder Verschaltung sein, doch wenige Orte gelten rechtmäßiger und vollständiger für das Tempo, die Art und Weise des Lebens in der alten Welt (in Europa). Florenz ist essentiell für die Toskana, der Stadtkern scheinbar ohne Moderne, die Industrie stets nah am Handwerk. Um das zu erkennen, braucht es nicht die Bilderserien von der Pitti, alle halbe Jahre. Auf der anderen Seite des Arno, Otro Arno, ist es schwer, einen Platz zu finden. Also einen Platz, der nicht schön, von idealer Größe und in Farben zwischen Siena und Karmesin gekleidet wäre. Was man in Florenz tut, tut man zuallererst in Florenz – und zwar gerauhte Stoffe tragen, Mode betrachten, Wein trinken und Käse essen. Manchmal ist es leicht, mit der Moderne.

  • Flet

    (Karte)

    Das Flet ist der richtige Ort (selbstverständlich Otro Arno) für Aperitivo in Florenz. Das Niveau der Drinks ist durchweg hoch, Käse und Brot sind von guter Qualität, der Piazza de Nerli liegt weit und dunkelblau vor der Tür. Der angeschlossene Club ist zu meiden. Nach dem dritten Getränk sollte man lieber den Weg ins Viertel fortsetzen.

  • Arno

    (Karte)

    Der Staudamm, der längs der Stadt und quer durch den Arno verläuft, ist von der Promenade zu erreichen. Hier sollte man sich niederlassen, um sich für eine Stunde oder zwei jugendlich zu geben. Und zwar mitten im Fluss, die sockenlosen Schuhe knapp über der Wasseroberfläche, Chinotto trinkend, mißtrauisch die Strömung im Auge behaltend.

  • ‛Ino

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    Ich kann mich sehr genau an das beste belegte Brot meines Lebens erinnern. Ich habe es hier gegessen, bei ‛Ino in Florenz. Ein hübscher, kleiner Deli. Holzofen, gute Olivenöle, frische Nudeln. Zum Brot (toskanische Salami, Honig, Olivenöl, Tomaten, Oliven, geräucherter Mozzarella) trinkt man am besten einen Chinotto des lokalen Herstellers, dessen Namen ich nicht aufschrieb.

  • Il Santo Bevitore

    (Karte)

    Die Speisekarte dieses Restaurants in der zweiten Querstraße Otro Arno trifft die Mitte zwischen Originalität und Mode, ganz wie Interieur und Publikum. Ein angenehmer Ort, um gleich einen ganzen Abend und mehrere Flaschen Wein dort zu verbringen. Unbedingt zu bestellen ist das schwere Holzbrett mit Crudo und Käsen der Region.

  • Luisa Via Roma

    (Karte)

    Wer sich für derlei Dinge interessiert, weiß natürlich, dass Luisa Via Roma einer der bestsortierten Onlineshops für interessante Kleidung ist. Das Ladenlokal in der Via Roma vermeidet colettehafte Inszenierung zugunsten eines großen und wirklich guten Sortiments. Der vollständig schwarze Nebenraum des Obergeschosses allein ist den Besuch wert, von der Dachterrasse ganz zu schweigen.

  • Grom (Karte)

    Ich nannte Grom bereits als Ort für Paris, und ich tue es erst Recht für Florenz. Denn hier eröffnete die erste Filiale der besten und kleinsten Eiscremefranchise der Welt. Auch nach fünf Portionen Grom-Eis warte ich noch darauf, eine bessere Sorte zu essen als Cioccolato Extranoir. Einer der ganz wenigen Orte, an denen man in einer Warteschlange stehen kann.

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