electricgecko

Dezember

Es ist eines der ersten Konzerte, die in der Philharmonie an der Elbe zur Aufführung gebracht wurden: Einstürzende Neubauten spielen an einem Ort, der 1983 wohl weder als architektonische Möglichkeit noch als Repräsentanz für die Entwicklung der Gruppe zu denken war, nur einige hundert Meter Luftlinie von dem Ort1 entfernt, an dem Bargeld/Einheit/Unruh vor 34 Jahren geduckt nach Methoden suchten, eine neue Musik zu machen.

Man muss diesen geringen räumlichen und großen zeitlichen Abstand als Rohstoff für das begreifen, was am 21. Januar 20172 hier also aufgeführt wird: Die Greatest Hits der Neubauten, weiterhin damit beschäftigt, ihre jeweils aktuell existierende Version letztgültig abzuschaffen, sie aufzulösen in Musik. Ich sehe sie zum ersten Mal live, es ist also ein signifikanter Tag meines beginnenden Jahres 2017.

Ich mag es nicht verstreichen lassen ohne meine Notizen des Abends im Angesicht großer Schönheit hier niederzuschreiben:

(Hier leben die Blinden, die glauben was sie sehen)

Blixa Bargeld’s Eröffnung, das Ensemble werde nun Stücke aus den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrtausends zur Aufführung bringen muss selbst bei vollkommener Unempfindsamkeit für Blixa’s Charme nicht als Gag zum Einstieg, sondern als einfache Formulierung des Anspruchs der Neubauten verstanden werden: Ihrer berechtigten Arroganz, über Musik hinaus zu greifen, Kultur- und Identitätstechniken zu formulieren, Leben zu ermöglichen.

Die essentiellen Neubauten-Praxen: das Vorfinden und Entwickeln von Instrumenten und Texten zu nicht näher spezifizierten Zwecken, das spätere Hervorholen und Einsetzen dieser experimentell erprobten Hard- und Software-Lösungen zu ganz anderen Zwecken, die Aufschichtung jeder Iteration und der folgende Tagebau für die jeweils nächste Schicht. Die historisch-rabiate Aufführungspraxis, wie Blixa sagt.

Es ist dann die Aufführung der Einstürzenden Neubauten verschiedener Epochen. Keine Coverversionen, eher forschende Blicke zurück auf die Aggregatzustände dieser Gruppe. In allen geht es selbstverständlich um Widerstände als Spannungen, mehr im elektrotechnischen als im gesellschaftlichen Sinne. Widerstand gegen das falsche Außen, Widerstand gegen Architekturen, Widerstand gegen die eigene Insignifikanz. Auch an diesem Abend schöpfen sie aus dem Vollen, aus dem Soundmaterial von Unruh und Moser, aus den Texten von Blixa, aus der Bodenhaftung von Arbeit und Hacke. Wie 1983, wenige Meter jenseits der Elbe, führen sie also alles ins Feld. Es ist immer noch das Selbe, tiefer in den Strada des gleichen Flussbettes. Nicht nur in diesem Zusammenhang ist Susej ein Schlüssel für diesen Abend und die Bedeutung der Einstürzenden Neubauten.

Die Signifikanz der Einstürzenden Neubauten ist zu keinem kleinen Teil darin bedingt, dass sie auf einfache Weise das Richtige sagen, wie es sonst niemand tut, was wichtig ist, was essenziell ist.

(Sehnsucht ist die einzje Energie)

Natürlich basiert alles, was hier aufgeführt wird, auf einer Kameraderie, die nur nach 20 Jahren Existenz und mit einem Pool aus Referenzmaterial, der keiner Erklärungen bedarf, möglich ist. Ein Auflösen, wie Zucker, ineinander.

Die finale Zugabe ist das klimaktisch kontrahierende Redukt, vorgetragen von einem nun vollkommen anwesenden Blixa Bargeld. Ich bin vollkommen hingerissen von diesem Stück Musik, das zentrale Fragen meiner Studienzeit präziser behandelt als es meine Abschlussarbeit tat. Dass es dabei außerdem kolossale Erotik entfaltet, ist schwer zu fassen. Diese spezifische Performance dieses Stückes erlebt zu haben, ist mir überaus kostbar.

Zwischendurch, im blauen Licht, wenn es das PA-Team der Philharmonie allzu gut mit dem vermeintlichen Popmusikthema des Abends meint, wirkt es, als spielten alle ihr eigenes Konzert, perspektivische Parallel-Konzerte, natürlich ein Trugschluss.

(Die neuen Tempel haben schon Risse)

Vor der porösen Schallisolation des allzu neuen Konzertsaals klärt sich der Blick auf das Vermächtnis der Neubauten: Das persistente Streben nach Auflösung, der Drang zum Nichts. Geboren aus den reaktiven Widerständen ihres Frühwerks ist es das zentrale Motiv ihrer Arbeit. Alles, was an Material angehäuft wird, muss verbraucht werden, damit der Prozess, die Beschwörung der Einstürzenden Neubauten weiterbestehen kann. Auch dieses Konzert ist die weitere Perpetuierung der Selbstauflösung – das Monument dieser Gruppe ist die Leere, die Stille, ausgerechnet.

Gleichwohl, es ist bewegte Stille, in der sie als perfekte Antithese zum Schall ihrer Umwelt existieren, aufgelöst und niedergeschlagen in der Harmonie des Widerparts.

Am Ende schleichen sie sich raus, evaporieren, endlich nichts und Bestandteil von allem.

Beste Rettungsdecke ever.


  1. Das Hafenklang-Studio und seine Nebenräume, inklusive des Flutkellers, in dem Blixa die erodierten Riffs einspielte, die viele Jahre später zur Grundlage von Susej werden sollten – 2007 so zusammengesetzt wie es gedacht war. So wie Blixa es selbstverständlich im Kopf hatte, immer. Siehe unten. 

  2. Das Konzert ist momentan in voller Länge hier zu sehen. 

Juli

September

Die Hände nicht still halten. Immerzu entwerfen, formulieren und bauen. Nach einer eigenen Sprache suchen. Das mit den Mitteln tun, die zur Verfügung stehen. Seit Jahren nicht aufhören, anzukämpfen. Gegen die Langsamkeit, gegen die Dummheit, gegen den einfachen Weg. Manisch bleiben. In den guten Momenten tatsächlich eine Aussage treffen, die stehen bleibt, auch wenn wir schon weiter sind.

Martins Sova Magazine ist eine der Publikationen, die definieren, wovon wir sprechen, wenn von uns die Rede ist. Nicht, weil es inhaltlich ganz besonders zutreffend wäre. Sondern weil seine Produktionsbedingungen und sein Material dem entsprechen, was wir uns noch nehmen können. Was auszusuchen ist, aus dem Fundus der schönen, nichtoptimierten Dinge. Arbeiten mit den Dingen, die nicht verzeichnet sind.

Wir hatten das Vergnügen, das Plakat für die aktuelle, vierte Ausgabe – Appeal – zu gestalten. Das handlackierte Ergebnis gibt es hier zu kaufen. Am Freitag feiern wir das Release der neuen Ausgabe im Magazin in der Neustadt. Kommt dazu und sagt Hallo.

Januar

Vergleiche zwischen Hamburg und Berlin gehören zu den uninteressantesten Themen, die man zum Ende eines abebbenden Smalltalks heranziehen kann. Ja, das Second-City-Syndrome, der Komplex jeder zweiten Stadt jedes Landes. Ja, die Mieten. Oh nein, die SUVs. Ja, das Laissez-faire. Nichts, das wir nicht wüssten. Nichts, das uns die wirklich schweren Entscheidungen leichter oder schwerer macht.

Ich lese gerade aus beruflichen Recherchegründen alte Sounds-Artikel1; Konzertkritiken und Oral Histories über Punk und Wave in Hamburg. Die Namen ihrer Protagonisten und ihre zentralen Orte klingen nach einem Grad von Kredibilität, der unter postmodernen Bedingungen zu einer endlichen Ressource geworden ist. Um so schöner, wenn sich dieses Gefühl während der Lektüre in Luft auflöst. Authentizität war 1978 noch nicht erfunden: Die Avantgarde der neuen Rockmusik war verkrampft, ernsthaft inszeniert und toupierte sich die Haare nur nachmittags über die Augen. In der Schule machte Wave einfach noch zu viel Ärger.

Diese Dinge über die Subkulturgeschichte der Stadt zu lesen, in der ich lebe, macht mich etwas zufrieden. Die Unlockerheit, die verschränkte Stoik der Hamburger ist eines ihrer besten Klischees. Sie erscheint mir geeigneter als die allzu leicht propagierte, freundliche Überoffenheit, das Alles-kann, das konsequente Gutfinden.

Take-aways: Lest die Sounds, und Zustimmung mit Augenmaß.


  1. Meine Quelle highdive.de ist übrigens pures Gold. Für diese Dinge hat Marco Arment Instapaper entwickelt. 

November

Es gilt der Eintrag vor diesem. Diese Seite musste sich verändern, wiederum. Die vergangene Version von electricgecko war eine Formulierung meines Zustandes, als ich nach Hamburg kam, vor vier Jahren (vier Jahre sind eine lange Zeit). Ich habe einen Job angefangen und bin in eine leere Wohnung gezogen. Ich musste damit zurechtkommen, dass Hamburg nicht Berlin ist, und auch nicht London. Ich wohne immer noch in dieser Stadt und bin froh, dass sie nicht Berlin ist, oder London. Meine Wohnung nach wie vor leer, weil ich das so mag. Davon abgesehen ist wenig wie es vor vier Jahren war. Mein Blick ist ein anderer, ich habe ein Studio gegründet, es gibt andere Musik und neue Schuhe.

Darum weg mit den Serifen, weg mit der Eleganz, dem Papier und der schönen Gestaltung. Statt dessen Raum und Sperrigkeit. Raum für den Blick, Raum für Bilder, Referenzierungen und Samples. Sperrigkeit, um sich zu erinnern: Das gilt alles nur gerade jetzt und hier, sperrig und subjektiv.

Die Struktur ist einigermaßen gleich geblieben, verschiedene Styles für verschiedene Inhalte. Ich unterscheide weiterhin zwischen den Themen Fotografie, Selbstreferenz, Hamburg Leben, Orte, Web und Musik. Eine eigene Seite für Links, weil ich das hübsch anachronistisch finde, keine Kommentare mehr, weil Diskurs ohnehin an anderen Orten stattfindet. Das ist alles. electricgecko, Version fünf. Regular service recommences now.

September

Hamburg ist nicht reich an relevanten Publikationen, die sich mit populärer Kultur und sonstigen Geschehnissen der Wochenenden befassen. Darum ist es schade, dass sich die verbliebenen rar machen (looking your way, Boheme sur le Kiez) oder nicht mehr existieren. Um so schöner, dass Sabine und Malte von Affekt keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigen, sondern dieser Tage ihren zweiten Geburstag feiern.

Und da Affekt nicht nur redet, sondern auch handelt, feiert es den großen Tag mit uns allen – und zwar am 9. September, in den Räumen des Lokal. Es gibt eine offene Ausstellung Hamburger Künstlerinnen und Künstler, Getränke, Musik und diese wunderbare Stimmung, wenn auf einer Party alles passt. Alles Weitere entnehmt Ihr bitte der Selbstbeschreibung der Ausrichter sowie diesem Reklamefilm und bestätigt anschließend eure Anwesenheit bei diesem Facebook-Event.

Ich werde vor Ort sein und gemeinsam mit dem famosen Lorin Strohm ein Set elektronischer Musik beisteuern. Kommt alle. Es wird wunderbar.

Mai

Es gibt Momente, die setzen einen Ort auf die persönliche Landkarte. Oft sind es Augenblicke, in denen auf einmal Dinge zusammenkommen, in denen klar ist: das ist jetzt der Sound, das ist jetzt die Stadt, das sind die Menschen und hier ist mein Getränk. Es gab diesen Moment für mich, als ich gerade nach Hamburg gekommen war, am Ende eines langen Abends. Es war der Moment, in dem ich zum ersten Mal DJ Phonos Welcome to your Life gehört habe und dachte: Ah. Hamburg. Eine Begrüßung.

Seit dem folgenden Tag habe ich das Haus nicht mehr verlassen, ohne diesen Track bei mir zu haben, seine tiefen Flächen und das Läuten der Glocken des Michel am Ende. Im Grunde ist es Soulmusik – die Erkenntnis, alt geworden zu sein. Und das Bewusstsein, dass das nichts ändert.

Nicht nur wegen dieses Tracks (sondern auch wegen nicht eben wenigen Partys und Momente in der Sonne) ist es eine große Freude, dass Henning Besser im Juni sein erstes Album veröffentlichen wird. Und auch diese Platte ist eine Begrüßung, High-Five und Umarmung: Welcome to whereever you’re not. Ich habe bisher nur wenig gehört, doch was ich gehört habe, reicht aus um zu vermuten: Hier kommt eines der Alben des Jahres 2011. Eines, das spezifisch für Hamburg sein wird, weil es einem schwer macht, zwischen Traurigkeit und Schalk zu unterscheiden. Weil wir das hier so machen, in dieser Stadt. Diese Platte könnte den Sommer bedeuten.

  • DJ Phono – Welcome to whereever you’re not, LP/MP3, Diynamic. Release: 13 Juni 2011.

April

Ich sage es oft, und manchmal sage ich es mit Nachdruck – das Allerbeste an unseren fragmentierten Lebensumständen sind die weak ties, die uns immer wieder in Projekten und Vorläufigkeiten zusammenbringen. Das Allerbeste sind das rohe Talent und die Motivation und die Energie – und die Dinge, die wir uns gegenseitig daraus bauen. Eine Gruppe guter Menschen in Hamburg hat Gottlob Lenz erfunden. Und sein Zuhause, das Chez Lenz.

Denn Gottlob Lenz kehrt in seine Heimatstadt zurück, um den Frühling zu feiern – mit Freunden des Hauses. Und das sind in diesem Fall alle. Im Sinne von Ihr alle. Denn das Chez Lenz ist ein Restaurant. Es befindet sich an einem Ort, den es vorher nicht gab, der von den großartigen Personen hinter Here We Go geschaffen wurde. Das Ergebnis ist wunderschön – etwas zwischen Restaurant mit Stern, Galerie, Fertigungshalle, Kontor und Club. Es gibt Kunst aus Gottlobs Leben, gutes Essen, Sonnenuntergänge an der Elbe, Konzerte, Lesungen, DJ-Sets.

Long Story short: das Chez Lenz eröffnet am 28. April mit einer leider bereits ausgebuchten Vernissage, dem ersten Menü sowie interessanter Tischmusik von Martin Leander (Snake’n’Tiger) und mir. Anschließend ist das Restaurant von Donnerstags bis Sonntags geöffnet – RSVP.

Hamburger: das ist für euch, und es ist wundervoll, ich weiß es.

März

Hamburg! Ihr wisst, der Ort, an dem man wenig Aufhebens um die guten Dinge macht. Und die Zeit statt dessen darauf verwendet, sie noch etwas zu polieren, ihnen Eigenarten zu geben. Und weil ehrliche Hingabe glücklicherweise von kulturpolitischen Brandrodungen nicht betroffen ist, finden wir auf unseren Wegen, zwischen Altona, Bahrenfeld und Winterhude allerlei Schönes, Hingebungsvolles. Gründe zum Lächeln und Anlässe zum Tanzen.

Verantwortlich sind dafür immer wieder auch die wunderbaren Menschen bei I saw Music, die nicht nur relevante Popmusik veröffentlichen, sondern auch regelmäßige Soirées veranstalten, die in ihrer Konsequenz und Ausgestaltung zum Schönsten gehören, was die Nächte dieser Stadt zu bieten haben.

Am Freitag findet in dieser Tradition Auf den Trümmern statt, eine Tanzveranstaltung im Turmzimmer des Uebel & Gefährlich. Wäre das Lineup nicht so gut – man müsste die Nacht zum Sonnabend dennoch dort verbringen. Denn die Plakate und Mixtapes (von Lorin Sylvester Strom und Max Motor) zur Veranstaltung sind so liebevoll gestaltet, gedruckt, aufgenommen und in den Vierteln dieser Stadt verteilt worden; die Neugier hätte ausgereicht.

Mit etwas Glück finden sich in guten Cafés und Bars noch einige Exemplare der blauen Kasetten mit intelligenter elektronischer Musik. Alternativ weiß ich eine Abkürzung: Auf den Trümmern-Tape, zum Download. Viel besser als das ist nur eine Party in Hamburg. Und zwar diese.

  • Auf den Trümmern – Tanzveranstaltung
    Sets von Sebastian Kokus und Lorin Sylvester Strohm, Max Motor und on:stop:off (live). 4. März 2011, Turmzimmer Uebel&Gefährlich, Doors: null Uhr.

Mai

Into entropy

Into Entropy

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