electricgecko.de

VI6.0a

Der Gedanke einer alternden Website ist nach wie vor ungewohnt; die Laufzeit hinterlässt keine Spuren in den Oberflächen, keine Patina, die auf das schon lang Vorhandene hinweist. Das Digitale entspricht dem Wandel, es füllt die gegenwärtige Form und war anschließend schon immer so.

Ich habe diese Website neu gestaltet. Ein weiterer Wechsel des Aggregatszustands ihrer Inhalte. Hoffentlich eine Komprimierung der Ideen, die ich verfolge (wohin?), idealweise eine Fortsetzung der vorigen fünf Versionen. Ich habe weitere Dinge entfernt, um dem Format der Loseblattsammlung näher zu kommen. Weniger Kontext, mehr Aufmerksamkeit für die einzige relevante Frage: Wie interessant ist die Geschichte?. Alles Weitere ist gutes Interaktionsdesign für eine simple Aufgabe und mein fortlaufender Versuch, eine eigene Sprache zu finden, für alles und in allem.

Irreversibel

Ich mag den Begriff Malerei, weil er neben seiner Trennschärfe als Genrebezeichnung auch eine taumelnde Unbestimmtheit enthält. Malerei liegt mir nah, als Orientierung in zwei Dimensionen mit welchen Mitteln auch immer. Dennoch geschieht es vergleichsweise selten, dass mich eine Serie ausgestellter Gemälde über einen längeren Zeitraum beschäftigt.1 Anders während meines Besuches in Leipzig, am Ende des vergangenen Jahres.

In einer menschenleeren Mærzgalerie (der graue Sonntag) geriet ich in die Irreversibel betitelte Ausstellung von Clemens Tremmel. Seinen Arbeiten war der kaum zwei Meter breite Seitenflügel der Galerie gewidmet. Tremmel füllte ihn mit Wucht und Nachdruck: Es ist Landschafts- und Stimmungsmalerei, weit, saturiert, schwer und straight romantisch. Sie trifft auf schwarze Rechtecke, Löcher und eingefügte Stahlplatten. Die Motive sind durch das Übermalen, die Entnahme oder sonstige Prozessierung einzelner Bildbereiche gelöscht und verarbeitet. Die Vorstellung einer verklärten organischen Umgebung wird mit ihrer eigenen Kontingenz konfrontiert.

Clemens Tremmels Interventionen in seinen eigenen Bilder sind nicht Abwesenheiten oder Leerstellen, sie sind Teile der Umwelt, Glitches in ihrer Repräsentation. Als Kontingenz-Marker legen sie die vielen Ebenen der Konstruiertheit offen, aus denen das Bilder-Machen und Bilder-Betrachten besteht. Es führt kein Weg hinter diese Einsicht zurück. Das ist ein riskanter Move, und dass er bei Clemens Tremmel so gut funktioniert, hat mit dem handwerklichen Niveau der Bilder zu tun. Caspar David Friedrich (als Klischee eines historischen Kontexts) aufrichtig zu zitieren, setzt großen Ernst und hartes Können voraus.2 Ebenso zentral ist es, dass Tremmel seine Interventionen – Flächen, Materialentnahmen, Stahlplatten – mit chirurgischer Präzision ausführt. Sie sind rigide und entschieden, ihrerseits scheinbar keiner Kontingenz unterworfen.

Diese Qualität setzt der Künstler in Ur fort – einer Ausstellung, die aktuell bei Morgen Contemporary in Berlin zu sehen ist. Hier findet sich Tremmels bewusstes Eingreifen in die Ganzheitlichkeit der Bilder (Sophie A. Gerlach im Ausstellungstext) in der Materialwahl: er malt auf verkratztem und anderweitig bearbeitetem Aluminium und verbindet die Materialität des Bild-Objekts mit den diffusen Nebeln und Lichtern des nordischen Himmels.

Meine Begeisterung für Clemens Tremmels malerischen Ansatz ist groß – ebenso der Wunsch, eine Arbeit wie Im Gebirge (3) in meine unmittelbare Lebensumgebung zu integrieren.


  1. Im Bezug auf tatsächlich zeitgenössische Malerei – von Kippenberger und Serra ist also nicht die Rede – war es zuletzt vermutlich die Atlas-Serie von Dragan Prgomelja und nicht wenige Arbeiten von David Ostrowski.  

  2. Clemens Tremmel ist der Träger des Caspar-David-Friedrich-Preises 2013.  

Asperitism

gltch

Von den digitalen Oberflächen, auf denen wir grafische Elemente arrangieren, Fotos bearbeiten und JavaScript schreiben, ist selten die Rede. Sie sind der Hintergrund eines sich ständig verändernden visuellen Pastiches, sie enthalten die Folge unserer Arbeiten, Zeichenreihen und noch zu verwerfender Daten. Im einfachsten Fall genügen sie den Mindestanforderungen an Klarheit und Ruhe. Im besten Fall werden sie zu einem kleinen Teil der Stimmung, die wir uns für das Ergebnis unserer Arbeit wünschen.

Bilder dieser Qualität sind leider schwer zu finden, denn entsprechende Sammlungen sind geschmacklos und uninteressant. Ich mag Bilder mit Textur und Weite, evokativ, harsch und unkonkret. Geeignetes Material transportiere ich seit Jahren von Computer zu Computer – eine meiner ersten Taten beim Einrichten eines neuen Systems ist es, die mitgelieferten Desktop-Bilder durch meine eigenen zu ersetzen. Acht dieser JPGs habe ich auf meinen Server geladen. Ihre Daten habe ich an verschiedenen Orten der Welt aufgenommen und in einem Fall aus dem Internet geladen.

Die Auflösung reicht aus für kleine Notebooks und eine Ad-hoc-Studie meines digitalen Raumempfindens1. Im besten Fall dienen diese Bilder den Arbeiten, deren Kontext sie für einige Tage sind.

8 Desktopbilder (JPG) – 1440×900


  1. Ein Grund für diese Überlegungen ist das schöne Zeit-Online-Feature zum Thema Desktops vom vergangenen Wochenende. Dies ist mein Desktop in diesem Moment. 

Kunstfertigkeit, gutes Material, Nuancen: langweilig. Interessant ist der ästhetische Vorschlag. Bring ihn, und bring ihn so roh und groß und konsequent wie du kannst. Repeat, repeat, release.

Ephemeral Realities

Die Idee der reinen Form, also auf sich selbst bezogene Ästhetik, ist ein unterhaltsames Klischee der Designmythologie (aber bitte nicht mit „Kunst“ zu verwechseln). Es ist eine äußerst entspannende Tätigkeit, Fragen nach dem was mit einem wie zu beantworten. Also inhaltliche Fragen mit formalen Antworten zu versehen – nicht zuletzt, weil diesem Maneuver selbst eine gewisse Eleganz innewohnt.1 Um Kopfschmerzen am nächsten Morgen zu vermeiden, ist es darüber hinaus eine gute Idee, entsprechende Entwürfe von vornherein vom Anspruch auf Dauer zu befreien. Kunst des Verschwindens.

Ich meinem Kopf verwende ich seit einigen Jahren den Begriff des Pavillons, um Gestaltung, Gedanken und haltloses Fabulieren in diese Richtung zu benennen. In der Architektur ist der Pavillon eine maximal bedeutungsoffene Struktur. Er kann beliebigen Zwecken dienen oder nicht-dienen, seine Gestalt hat keine essentiellen Elemente. Sein späteres Verschwinden ist Teil des Plans. Der Pavillon ist die Lösung eines Problems, das (noch) nicht existiert, er ist in jedem Fall progressiv.

Im reißenden Bewustseinsstrom von Hans-Ulrich Obrist gibt es eine schöne Beschreibung dieses Gedankens (April Lamm [Ed.], Everything You Always Wanted to Know About Curating):

I think the most underrated aspects of architecture’s presence are pavillons and exhibition design. […] What’s interesting is that these ephemeral, nonpermanent architectures throughout history have very often created a lasting effect and contributed to the discourse of architecture. […] They become part of the canon and push the envelope of what architecture can be. […] Exhibition pavillons in the twentieth century acted as sites for the incubation of new forms of architecture that were sometimes so shocking original and so new that they were not even recognized as architecture at all.

Es sind mehr Pavillone zu bauen. Stilisierte Gebilde, geschichtet um eine leere Mitte. Gleichwohl nicht ohne Sinn, aber ohne unmittelbaren Sinn. Übungen für zukünftige Probleme. Eine Tätigkeit wie ein Dojo, das man besucht, um Kraft zu gewinnen. Ein Raum, in dem das Prinzip des Samurai Yamaoka Tesshū für kurze Zeit erreichbar ist – no-sword, no-enemy, purity of style is all that is needed.


  1. Derlei sind wiederum recht nah nah an der japanischen Idee Oku, die die Leere als idealen Kern für elaborierte Entwürfe begreift. 

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