electricgecko

Dezember

Es scheint, als sei es immer wieder so: Die Sonne am letzten Tag des Jahres, die durch die Fenster eines Appartments in Berlin scheint. Keine Bewegung in der Luft, als setzte sich die große Ruhe der vergangenen Tage von innen nach außen fort. Auch heute. Der Unterschied liegt nicht im hier und jetzt, sondern im vergehenden Jahr. Nicht um dem Schluss des vorigen Jahres zu widersprechen, sondern weil es so ist: Dinge verändern sich nicht nur inkrementell, sondern plötzlich und zum Schlechten. Die große Aufgabe besteht darin, sie nicht an gewonnene Perspektiven heranzulassen, egal wie erfolglos es für lange Zeit scheinen mag.

Das also war der große Versuch im dreißigsten Jahr, in dem ich einige der schrecklichsten und einige der schönsten Dinge meines Lebens gesehen habe. Das Heraustreten in die Sonne am Chichū-Museum, Klang und Bild von Rei Natos Matrix im schönsten Raum der Welt, über der Stadt und durch sie hindurch. Schönheit in Textur und Habitus, Exzess in Raum und Material. If you can’t leave your mark, give up (Holzer). No, not yet.

Aus egozentristischer Chronistenpflicht: Musikprotokoll 2013.

Winter

  • Einstürzende Neubauten – Die Befindlichkeit des Landes
  • The Please – Abodigital Dishwasher
  • Nosaj Thing – Glue
  • Dauwd – Heat Division
  • Jack Dixon – Lose Myself (Dauwd Remix)
  • TM404 – 303/303/303/303/808
  • Koto – Endgame
  • Kangding Ray – North
  • Lawrence – Tangled Track
  • Einstürzende Neubauten – Alles
  • Miles – Flawed
  • Silent Servant – Utopian Disaster

Frühling

  • ΔΔ – Skyway
  • WAX – 10001 (A)
  • Studio – Out There
  • Alva Noto – Uni Dia
  • Alva Noto – T3 (for Dieter Rams)
  • MF Doom – Bookfiend (Clams Casino Version)
  • Efdemin – Farnsworth House
  • Kareem – Porto Ronco
  • Huren – Tendril
  • Nagamatzu – Magic
  • Kareem – Trenches
  • Heathered Pearls – Beach Shelter (Loscil’s Grind Remix)
  • Makeup and Vanity Set – System Override

Sommer

  • Miles – Plutocracy
  • Demdike Stare – Dyslogy
  • Autechre – Basscadet (Basscadubmx)
  • Susumu Yokota – Saku
  • Photek – ni ten ichi ryu
  • Gohan – Dysphoria
  • Emptyset – Epysteme
  • Mokira – Time Track (Silent Servant Remix)
  • The Black Dog – Terminal EMA
  • John Roberts – Braids
  • Shigeto – Miss U
  • Zomby – It’s Time
  • Shed – ITHAW
  • Vril – UV

Herbst

  • Teho Teardo & Blixa Bargeld – Still Smiling
  • Mobb Deep – Give up the Goods
  • Makeup and Vanity Set – A glowing Light, a Promise
  • The Black Dog – Beep
  • Dadub – Circle
  • Die Goldenen Zitronen – Scheinwerfer und Lautsprecher
  • Inhalt – Programming
  • Holy Other – Yr Love
  • Nick Höppner – Red Hook Soil
  • Teho Teardo & Blixa Bargeld – Nocturnalie
  • Dadub – Truth
  • Zomby – Dreams of Heaven
  • Claro Intelecto – Fighting The Blind Man

Winter

  • Scott Walker – Bouncer See Bouncer
  • Black Devil Disco Club – Sun Dance Totem
  • Lootpack – Innersoul
  • Flume & Chet Faker – Drop the Game
  • Prurient – You Show Great Spirit
  • New Order – Thieves like us
  • Vril – Vortekz
  • Kareem – Drama
  • Huss & Hodn – Schlangen sind schweigsam
  • Aphex Twin – Pulsewidth
  • Kangding Ray – Amber Decay
  • David Bowie – Modern Love
  • The Traveller – BER
  • Sten – Part Three

Auch in diesem Jahr fehlen der Spotify-Playlist dieser Tracks die interessantesten Inhalte.

Sets

Veränderung wahrnehmen bedeutet Zeit zusammenpressen. Mehrere Ereignisse als miteinander verbunden interpretieren und sie auf eine Zeitachse abtragen, ein neues Ordnungskriterium einführen, taggen. Bevor das Hirn Ereignisse auf diese Weise verbindet, gibt es einen interessanten Moment, in dem zwar ihre Position in der Raumzeit klar markiert, aber das Tragwerk ihres Zusammenhangs nicht konstruiert ist. Es mag mit diesem Gedanken zu tun haben, dass meine Platten des Jahres zu großen Teilen mit Verortung und der präzisen Gestaltung eines Settings befasst sind. Es sind Alben, deren inhaltlicher Einfachheit ein überbordendes Materiallager an Kontext gegenüber steht: Fiktive Orte, Stimmungen, tastende semantische Anordnungen, provisorische ästhetische Vorschläge.

Auf diese Weise haben mich diese fünf Platten begleitet, auf den Reisen und Transformationen des Jahres. Poetry is how you fight it (Claude Draude), I guess.

  • Blixa Bargeld & Teho Tadao – Still Smiling

    Ein zweites Album, auf dem Blixa Bargeld nicht als Spiritus Rektor, sondern als Verwerter von musikalischen Vorschlägen auftritt. Nach elektronischen Stimmexerzizien mit Carsten Nicolai (als anbb), nimmt er nun die Angebote des Theatermusikers Teho Tadao auf inhaltlicher Ebene an. Das Ergebnis ist eine Suche nach Worten, so vielgestaltig und verweisreich, dass sie ab der Mitte des Jahres eine Vielfalt von Kontexten auskleidete. Es fällt mir schwer, die Wege durch die Nächte dieses Jahres ohne die schwebende Universalität von Nocturnalie vorzustellen. Schließlich war der Auftritt von Blixa Bargeld im Kampnagel einer der versöhnenden Momente im Jahr 2013. Klugheit und Schönheit existieren, und es hat Wert, für sie einzutreten.

  • The Black Dog – Music for Real Airports

    Eigentlich müsste ich an dieser Stelle Radio Scarecrow gleichberechtigt nennen. Denn es ist der grundsätzliche musikalische Entwurf von The Black Dog, der die Erwähnung in dieser Liste notwendig macht. Doch wie beschrieben – in erster Linie war es der Moment der Reise, mit allen Leerstellen und Brüchen, den The Black Dog auf so vollkommene Weise formuliert haben. Case in Point: Das Geräusch des analogen Besetztzeichens, aus dem sich der Beat von Sleep Deprivation 1 schält – oder ist es ein Irrtum, nach der fünften Stunde in der Abflughalle oder einem vergleichbaren nicht-Ort des Reisens?

  • Kangding Ray – The Pentaki Slopes

    Schließlich lautet das Genre des Jahres 2013: Techno. Unverstellt, mit größtmöglicher Aufmerksamkeit für Atmosphäre, Stimmung, Licht und, ja, Ort. Zusammengenommen ergeben diese Dinge im besten Fall einen konsequenten Narrativ, der parallel zum eigenen Erleben verläuft. Auf keine Veröffentlichung dieses Jahres treffen diese Gedanken mehr zu als auf diese EP von Kangding Ray. Geteilt in Aufstieg, Plateau und Abstieg entwickelt sie ein unnachgiebiges Momentum. Wohl auch wegen dieser kinetischen Energie ist diese eine meiner liebsten Platten für lange Zugfahrten und Fußwege durch die windige Stadt im Norden. Ich fand im März bereits bessere Worte.

  • Miles – Unsecured

    Unsecured, das ist zunächst einmal die EP, auf der Miles einen Track namens Plutocracy veröffentlicht hat – und allein dafür muss sie Teil dieser Aufzählung sein. Die Langsamkeit und Tiefe, der ungeheure Nachdruck, die vollkommene Konsequenz dieses Tracks war einer meiner eindrücklichsten Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Kunst in diesem Jahr. Hi-hat, Baseline und der pechschwarze Rauch hintergründiger Atmosphäre erzeugen ein derart dichtes Bild, dass ein tiefes Gerüst verbauter Breakbeats beinahe unbemerkt bleibt. Ich nenne Plutocracy jederzeit als eines der besten Stücke Musik der letzten Jahre, und das jenseits aller Genres. Die Tatsache, dass Blatant Statement, Technocracy und vor allem Infinite Jest jeweils genau zutreffend betitelt und ebenfalls unglaublich gut sind, separiert diese Platte nur noch weiter vom Umfeld ihres Genres.

  • Kareem – Porto Ronco

    Ich habe keine Worte für diese Platte. Seit sie mir im Januar dieses Jahres in die Hände fiel, habe ich damit gerungen, sie einzuordnen, Bezeichnungen für meine eigene Resonanz auf diese Musik zu finden. Ohne Erfolg; Porto Ronco ist ein singuläres Release. Ein Track, 44 Minuten und 44 Sekunden lang. Eine Bewegung durch alles hindurch: Architekturen, entlang von Orten und Ereignissen, durch Geräte, Gewerke, Drones, Flimmern, statische Spannung, rekursive Strukturen. Dabei ist Porto Ronco gleichermaßen bedeutungsoffen und hyperpräzise, voller Verweise, ohne jeden Anschluss. Ich habe seit zwölf Monaten nicht damit aufgehört, diesen Track zu hören. Und ich bin sicher, dass dieser Zustand für eine lange Zeit anhalten wird. Dieses ist meine Platte des Jahres, und sie ist die Platte dieser Zeit und dieser Orte1.

Weiterhin relevant: Dadub – You are Eternity2, The Black Dog – Radio Scarecrow, Makeup and Vanity Set – 88:88, Kareem – Mesmer, Zomby – With Love, Demdike Stare – Test Pressing 003, Shigeto – No better Time than now, TM404 – TM404


  1. Es sollte mehr als eine Fußnote sein, dass Kareems Label Zhark viele der essentiellen Tracks dieses Jahres veröffentlicht hat – und zwar in den meisten Fällen bereits Mitte der neunziger Jahre. Ich sollte die Hip-Hop-Produktionen Kareems erwähnen und noch so viele Dinge aus einem frühen Zustand des Berliner Kosmos mehr. 

  2. Hätte ich etwas weniger Freude an sinnloser Konsequenz – diese Platte hätte die sechste meiner Liste sein müssen. Bei Discogs

東京都庁舎

Es ist selbstverständlich Unsinn, einen Text mit dieser Überschrift zu schreiben. Tokyo ist keine Stadt, für die Hinweise auf ausgewählte Orte sinnvoll oder notwendig wären. Tokyo ist zu komplex und zu selbsterschließend, als dass es einen anderen Rat geben könnte als: Get out, get lost. Die Skalierung der meisten Viertel im Stadtgebiet orientiert sich an den Maßen und Reichweiten von Menschen – eine überaus bemerkenswerte Erfahrung, wenn man westliche Städte gewöhnt ist und motorisierten Straßenverkehr für ein unvermeidliches Übel hält. Letztlich sind es weniger die Räume und Perspektiven, die Tokyo zur zentralen Stadt einer anderen Moderne machen. Sondern die Perfektion seiner Verfasstheit, die Kombination aus besserem Material und nahtloser Fügung, die Zugehörigkeit zu einer anderen, hochwertigeren Realität, in der bessere Antworten auf die gleichen Fragen gefunden wurden; Mirror-World. Tokyo ist im besten Sinne unglaublich.

  • The Peak Bar at Park Hyatt

    (Karte)

    Es ist sicherlich kein origineller Vorschlag, die High-End-Drinks ausgerechnet im Park Hyatt einzunehmen – doch besser ist besser als überraschend. Die Kombination aus der vierzigsten Etage, einer cyanfarbenen Nacht, den rot glimmenden Positionslichtern von Shinjuku-ku und dem Blick über die Bar aus dem Panoramafenster ist schwer zu übertreffen. Ich trank Dirty Martini und Yamazaki, beides exzellent und vollkommen frei von Überraschungen. Ein Abend wie eine der psychogeografischen Rezensionen des Travel Almanac.

  • Daikanyama T-Site

    (Karte)

    Große Buchhandelsketten sind ein inhaltliches und ästhetisches Ärgernis, das Falsches in hohen Stückzahlen verkauft und Richtiges nicht im Sortiment führt. Hätte es eines Beton und Glas gewordenen Beweises bedurft, dass Tsutaya Books keine Handelskette in diesem Sinne ist – T-Site in Daikanyama wäre dieser Beweis. Ein komplexer Bau, gefüllt mit einem simplen Sortiment: alle relevanten Magazine der Welt, Bücher, Musik, Filme. Wie so häufig in Japan liegt der Unterschied zu anderen Orten nicht im was, sondern im wie. Im ersten Stock der T-Site befindet sich eine weitläufige, dunkel vertäfelte Lounge, deren Bar exzellentes Essen und gute Drinks serviert. Sie ist die offene Einladung, den Sonntag mit einem Stapel Bücher aus dem Sortiment zu verbringen. Sind gegen Abend die aktuellen Ausgaben der Mark, der Pin-Up und der Fantastic Man ausgelesen, bleiben die vollständigen Archive internationaler Klassiker: etwa alle Ausgaben der französischen Vogue seit 1950, gebunden, in mint condition. Es gibt keinen besseren Ort, um Stunden mit inhaltlichem Input und einer Folge Matcha-basierter Desserts zu vertändeln.

  • Gyoen Park Shinjuku

    (Karte)

    Ein Dimensionstor und 200¥ beträgt der Abstand zwischen dem schwarzen Teer Shinjukus und einem Areal, das in seiner perfekten Skulpturiertheit beinahe gerendert wirkt: Gyoen Park. Ein Garten, gefertigt aus Pflanzen, Luft, Himmel und Wasser, der nicht wie ein ausgleichender Gegensatz der Stadt wirkt, sondern wie ihr notwendiger Teil. Die weichen Hügel der großen Wiese setzen die Silhouetten der Betonstadt auf irritierende Weise nahtlos fort. Jeder Blick hat viele Perspektiven. Alles wieder offen, notwendigerweise sowohl als auch.

  • Lift Étage

    (Karte)

    Das Vermögen durchzubringen fällt selten schwer. In den relevanten Städten der Welt, zumal. An kaum einem Ort machte es mir mehr Spaß als in Tokyo; eben der Stadt, in der viele meiner ästhetischen Interessen ihren Ausgang nahmen. Stellvertretend nenne ich also Lift Étage – für den besten denkbaren Kundendialog, das kompromisslose Sortiment und das genau richtige Verständnis von Kleidung als Teil visueller Kultur und gestalterischen Ausdrucks. Mein Besuch fiel angenehmerweise in den Ausstellungszeitraum einer Installation von Carol Christian Poell und schmerzhafterweise in den Zeitraum einer der stärksten Saisons von Maurizio Amadei/MA+. A rare indulgence.

  • Shelf

    (Karte)

    Ein weiterer Ort kommerzieller Natur – auf einem Zehntel der Fläche, mit dem gleichen kompromisslosen Anspruch an Sortiment, Atmosphäre und Qualität. Um es einfach zu machen: Shelf ist die beste kleine Buchhandlung, die ich betreten habe. Wie immer und alles in Tokyo befindet sich auch Shelf in einer winzigen Seitenstraße, in diesem Fall abseits der Gaien-Nishi Dori, unweit des (größtenteils uninteressaten) Wataru Museums. Bei Shelf findet sich nicht die größte Auswahl an Fotografie- und Architekturbänden, aber die beste. Das liegt zum einen an der sorgsamen Kuratierung der Inhaber, zum anderen an dem sehr eindrücklichen Erlebnis, einem vollkommen unbekannten Kunstbuchmarkt gegenüber zu stehen. Mit jedem Blick Neues sehen – oder besser: Bekanntes in neuem Kontext, reformuliert für eine unbekannte Betrachterperspektive. Nota bene: Shelf bei Foursquare.

  • Narukiyo

    (Karte)

    Ich stieg reichlich berauscht aus einem schwarzen Taxi, hundert Meter vom Eingang dieses Lokals entfernt, als mein Telefon auf Tokyos schönem Asphalt in viele glänzende Teile zersprang. Es sagt einiges über die Qualität des Essens und das generelle Narukiyo-Erlebnis, dass ich dieses Ereignis im weiteren Verlauf des Abends nicht weiter beachtete. Narukiyo ist ein Izakaya, also ein gehöriger Trubel, in dem rasche Folgen Speisen und Shōchū aufgetragen und ohne Zuordnung zu Tisch oder Gast ebenso rasch verspeist werden. Ein guter Freund von Yohji Yamamoto betreibt dieses Lokal – jedenfalls solange er diesen nicht zur jährlichen Schau als Leibkoch nach Paris begleitet. Dass Yohji-San weiß, was Qualität ist, erklärt sich von selbst. Ich aß hier das beste Sashimi und den besten Seeigel meines Lebens.

Kunstfertigkeit, gutes Material, Nuancen: langweilig. Interessant ist der ästhetische Vorschlag. Bring ihn, und bring ihn so roh und groß und konsequent wie du kannst. Repeat, repeat, release.

Musik als Zustandsbeschreibung, wieder und wieder, auch zum Ende des Jahres 2013. Weil zum Lesen keine Ruhe bleibt, weil zum Aufschreiben keine Zeit bleibt. Um so schöner, sich inzwischen seit Jahren darauf verlassen zu können, das jeweils aktuelle Jahr (wer zählt noch einzelne Jahre?) ab Mitte Dezember als vorzügliches Musikjahr zu empfinden. Es bedeutet formale Passung, oder die Sensibilität, diese nach wie vor herstellen zu können.

Case in Point: Prurients EP Through The Window, deren Titeltrack und die B-Seite You Show Great Spirit zwei Beispiele für diesen langen und langsamen Narrativtechno sind, den dieses Jahr erfordert. In je über zehn Minuten verfaltet Dominick Fernow Lage über Lage dichter Atmosphäre. Themen, Vocals und Sounds erscheinen und verschwinden im Dub, verhallen im lichtlosen Grundrauschen. Phasenweise befreit sich die vier aus den Flächen und Filtern, sie vertreibt den Nebel, ihre Kraft und das schiere Momentum unwiderstehlich. So zu erleben nach dem Drittel von You Show Great Spirit.

Es ist keine monumentale Veröffentlichung, nicht die Begründung einer Stilrichtung, noch keine Wende. Aber Through The Window ist ein Release, das nicht besser in den verhalten beginnenden Winter 2013 passen könnte. In seine Zugfahrten, die Fußwege in der Dunkelheit und die Durchhalteparolen an Hamburgs Wänden.

Oktober

Die Idee der reinen Form, also auf sich selbst bezogene Ästhetik, ist ein unterhaltsames Klischee der Designmythologie (aber bitte nicht mit „Kunst“ zu verwechseln). Es ist eine äußerst entspannende Tätigkeit, Fragen nach dem was mit einem wie zu beantworten. Also inhaltliche Fragen mit formalen Antworten zu versehen – nicht zuletzt, weil diesem Maneuver selbst eine gewisse Eleganz innewohnt.1 Um Kopfschmerzen am nächsten Morgen zu vermeiden, ist es darüber hinaus eine gute Idee, entsprechende Entwürfe von vornherein vom Anspruch auf Dauer zu befreien. Kunst des Verschwindens.

Ich meinem Kopf verwende ich seit einigen Jahren den Begriff des Pavillons, um Gestaltung, Gedanken und haltloses Fabulieren in diese Richtung zu benennen. In der Architektur ist der Pavillon eine maximal bedeutungsoffene Struktur. Er kann beliebigen Zwecken dienen oder nicht-dienen, seine Gestalt hat keine essentiellen Elemente. Sein späteres Verschwinden ist Teil des Plans. Der Pavillon ist die Lösung eines Problems, das (noch) nicht existiert, er ist in jedem Fall progressiv.

Im reißenden Bewustseinsstrom von Hans-Ulrich Obrist gibt es eine schöne Beschreibung dieses Gedankens (April Lamm [Ed.], Everything You Always Wanted to Know About Curating):

I think the most underrated aspects of architecture’s presence are pavillons and exhibition design. […] What’s interesting is that these ephemeral, nonpermanent architectures throughout history have very often created a lasting effect and contributed to the discourse of architecture. […] They become part of the canon and push the envelope of what architecture can be. […] Exhibition pavillons in the twentieth century acted as sites for the incubation of new forms of architecture that were sometimes so shocking original and so new that they were not even recognized as architecture at all.

Es sind mehr Pavillone zu bauen. Stilisierte Gebilde, geschichtet um eine leere Mitte. Gleichwohl nicht ohne Sinn, aber ohne unmittelbaren Sinn. Übungen für zukünftige Probleme. Eine Tätigkeit wie ein Dojo, das man besucht, um Kraft zu gewinnen. Ein Raum, in dem das Prinzip des Samurai Yamaoka Tesshū für kurze Zeit erreichbar ist – no-sword, no-enemy, purity of style is all that is needed.


  1. Derlei sind wiederum recht nah nah an der japanischen Idee Oku, die die Leere als idealen Kern für elaborierte Entwürfe begreift. 

Somewhere else

Ich habe häufig von meiner Reise nach Japan erzählt, in den letzten Wochen. Mal kurz zwischen zwei Getränken und auch in rekursiver long form, die Selektivität und Gemachtheit der eigenen Erfahrungen ins Licht rückt. Aufgefordert, meinen Eindruck des japanischen Zustandes auf eine Pointe hin zu besprechen, sage ich: Alles sei considered. Also Plan- und absichtsvoll erdacht und anschließend ebenso umgesetzt – Bars, Dienstleistungen, Sitzgelegenheiten, Clubs, Kleidung, Rückzugsorte, Nahrungsmittel. Diese und viele andere Dinge sehen fantastisch aus und funktionieren exakt wie sie sollen.

Gemeinhin trinken die Zuhörer dann von ihrer Limonade. Ob das nicht furchtbar rigide sei, also nicht auf natürliche Weise gut, aus der freien, kreativen Natur der Menschen heraus? Sondern das Produkt reißbrettartiger Kreativität, also unlocker und damit klaustrophobisch ihre eigene Schönheit verneinend? Absichtsvolle Schönheit hat einen schlechten Ruf.1

Nein, absichtvolle Gestaltung und präzise Exekution sind keine Makel. Das gilt für die Schönheit tokyoter Stadtplanung, es gilt für grafische Gestaltung, für die Einrichtung von Bars und es gilt – wie immer alles – auch für Musik. Ich habe den Punkt überschritten, an dem ich gutes Sounddesign gutem Songwriting vorziehe. Relevante Musik muss Raum und Licht und Zeit definieren, und zwar ultrapräzise unterscheidbar. Situationen sind interessanter als Geschichten.

Folgerichtig bestimmen zwei ältere Alben von The Black Dog mein Reisen, Leben und Arbeiten in der zweiten Hälfte des Jahres 2013. Music for Real Airports auf meiner Reise gen Osten und durch die Wartehallen von Dubai und Narita. Und Radio Scarecrow, das Magnum Opus der Produzenten-Boyband. Beide Platten markieren Wegpunkte zwischen Musik und vertonten Situationen, Präzise Syntax/diffuse Semantik.

Radio Scarecrow ist ein Musik-Album, auf dem die Hits orthogonal zu den Tracks verlaufen. Beim Skippen sind sie plötzlich unauffindbar; sie offenbaren sie sich nur als Teil der gesamten Arbeit. Einer der besten Parts der Platte verläuft irgendwo zwischen Short Wave Lies und Siiiipher (und von dort weiter zu Digital Poacher), ohne dass es beim Anspielen der einzelnen Tracks nachvollziehbar wäre. Nichts funktioniert ohne seine Umgebung.

Auf Music for Real Airports widmen sich The Black Dog schließlich vollends der Muzak, wie vom Titel impliziert. Es ist die Vertonung der Reisesituation, das Sound-Äquivalent zu Alain de Bottons The Art of Travel. Die LP wird bestimmt durch eine strukturierte Indexierung und Bearbeitung von Situationen. Es sind die Augenblicke und Nicht-Orte des Reisens, und zwar jeweils samt der ihnen eigenen Paranoia. Die fiesen Vibes des Unterwegs-seins werden nicht ausgeblendet, sondern effektvoll eingesetzt. Es handelt sich um zudringliches, ganz und gar diesseitiges Sounddesign – ein freundschaftlicher Stoß in die Rippen von Brian Enos fabelhaftem Nullkontaktutopia.

Radio Scarecrow und Music for Real Airports verweigern die Ausformulierung, das endgültige Aussprechen im Einzelnen zugunsten der Atmosphäre, der Verortung, der präzisen Gestaltung eines Settings. Sie sind Alben der Post-Album-Ära. Sie sind Orte, sie sind Zeiten, sie sind Erlebnisse.


  1. Nein, ich kann keinen Makel daran erkennen. Qualität ist wichtiger als Spontaneität. In der Kritik an wahrnehmbarer Gestaltetheit schwingt allzu häufig die bürgerliche Furcht vor Schönheit und Klasse mit; die Angst, ein zu schönes Café oder ein zu anspruchsvolles Geschäft zu betreten. Wird darauf hingewiesen, liegt eine Diskussion des leidigen Begriffs der Authentizität nicht fern. Und die ist ein probater Weg, sich gegenseitig den Abend zu ruinieren. 

August

Der Reiz der fotografischen Auseinandersetzung mit einem Ort, einem Ereignis, einem Ding ist ihre Direktheit (nicht etwa die Unmittelbarkeit!). Sie ist die Grundlage des iconoclastic Turn und dem, was danach kam. Live-Selbstverortung, Live-Kontextualisierung und der Semiotisierung des Bildes: Ich nehme wahr und beweise damit, dass ich XYZ kenne/besitze/verstehe/zu fühlen in der Lage bin.

Das ist alles prima, und ich wäre ein schlechter Vertreter meiner Arbeit, würde ich nicht daran glauben und teilnehmen. Für meine Reise nach Japan hatte ich das Bedürfnis nach einem weiteren Kanal dieser Art. Allein: es gibt so viele, und sie ähneln sich.

Etwas weniger Direktheit wäre schön. Ein Medium, das ich schlechter kontrollieren kann, das weniger zur Semiotisierung taugt, etwas, das oszilliert. Mit meinem Flug gen Osten beginne ich also einen Kanal namens Calabi-Yau.

Calabi-Yau

Calabi-Yau is a sonic journal. It documents my journey to Japan (at the age of thirty) through a series of field recordings. Each point in spacetime radiates its own complicated topology.

Der letzte Satz ist der entscheidende. Mich interessiert die Zuordnung von Sounds zu Orten1 (darum der Name), und zwar eher solchen der individuellen Psychogeografie als solchen, die mit Gradzahlen und Datumsangaben zu bestimmen sind. Keine Motive, nur Staub und Rauschen.


  1. Eigentlich der Raumzeit, aber das liest sich schlecht. Zum Thema siehe auch dieses

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