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Sun God

The most perfect track/this place in space-time

Die Luft ist kühl und trocken, im Erdgeschoss des Sogetsu Kaikan, in Minato-ku, Tokyo. Das mag mit den großen Mengen Granit im Foyer des Gebäudes zu tun haben, oder mit dem Oktober in dieser Stadt. Es ist niemand hier. Vermutlich gibt es eine Art Hausmeister, sein Platz ist verlassen, der Empfangstresen ebenso. Der Granitgarten ist zwei Geschosse hoch geschichtet, ein Stapel verschachtelter Plateaus. Wo es notwendig ist, sind sie durch wenige Treppenstufen verbunden. Fließendes Wasser ist das einzige Geräusch, abgesehen von den kaum hörbaren Schritten meiner Air Rift auf dem grauen Stein. Ich bin in Ruhe, im Arrangement aus Raum und Licht und Nichts: Heaven, gestaltet von Isamu Noguchi, 1978.

Wie so häufig in Japan ist der Kontext, das Zwischen den Dingen, der zu betrachtende Aspekt. Die Granitsituation findet in einem Gebäude statt, das Kenzo Tange Mitte der siebziger Jahre entworfen hat. Das heißt: es geht um Glas und Licht und Stahl, um den Kontrast zwischen Material und Nichtmaterial. Das Foyer ist schwer und leicht zugleich. Ich stehe im Zentrum, im *Ma* des Arrangements, umgeben von Architektur, die sich darauf beschränkt, das Licht des Raumes zu lenken. Quiet, staggering beauty, both grounded and ephemeral. Ich bin auf eine Weise ruhig, zu der ich nur in diesem Land fähig bin.

In einem zwölf meter langen Glaskubus oberhalb des Foyers hat vor kurzem ein Ableger von Switch Coffee eröffnet. Ich steige die Treppe hinauf und betrete den Raum, der das Foyer wie der Oberrang eines Theatersaals die Bühne überblickt. Das Café ist leer, ein langer Tresen für den einzigen Angestellten. Ein langer Tresen auch für die Gäste, die Oberfläche aus spiegelglattem Stein, der die Spots der Deckenbeleuchtung unscharf zurückwirft. Abgesehen vom Barkeeper und mir ist niemand hier. Ein kalter Espresso, ich nehme Platz.

Musik füllt diesen Raum. Unten im Granitgarten war davon nichts zu hören, doch der Raumklang hier im Kubus ist exzellent. Während ich auf den Kaffee warte, schichtet sich Soundfläche auf Soundfläche, drei wechselnde Basslinien, Tamburin, Perkussion. Irgendwo sehr weit hinten verhallen Gitarren. Darunter stoische 4/4-Motorik, 108 BPM. Immer nur vorwärts, immer weiter nach oben. Alles schiebt. Die Welt geht auf, ein goldener Moment.

Ich bin hingerissen von diesem Ort und diesem Klang, von seiner Klarheit und seiner Wärme. Ich vermute ein zeitgenössisches Tape Tokyoter Neo-Krautrock-Otakus – und liege äußerst daneben. Denn wie der Barkeeper und ich gemeinsam herausfinden, hören wir den fünfzehn Minuten langen Outro-Track der Cut-Copy-Platte1 namens Zonoscope. Ich lese den Titel und muss grinsen: Sun God.

Die unwahrscheinliche Passung aus Musik und meiner verkopften Psychogeografie, das Licht im Foyer, dieser geheime Ort, versteckt mitten in der Öffentlichkeit – das alles ist viel zu schön und kohärent. Ich war dort, an diesem Ort zu dieser Zeit. Ich muss aufnehmen, und aufschreiben wie es war, und daran scheitern. No adequate gesture for beauty/beauty remains in the impossibilities of the body.


  1. Genau, Cut Copy. Die Gruppe, die damals zu spät kam, als wir den letzten Kater unserer Elektroclashparties gerade ausgeschlafen hatten. Sie haben einfach weitergemacht. 

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