electricgecko

Dezember

Die Musik und das Jahr, sie verliefen lange Zeit in großen, gleichmäßigen Bahnen. Beide verdichteten sich zum Ende hin, als läge die Last der vergangenen Zeit auf ihnen. Als müssten die Erfahrungen des Jahres auch noch in dessen 365 Tagen zu ende wahrgenommen, verarbeitet und in Energie übersetzt werden. Im Blick zurück erscheint das kürzlich Vergangene größer als es sollte. Möglicherweise waren weite Teile meines Jahres (und seiner Musik) einfach und ruhig genug, um der alten Gier nach Intensität und Dichte zu entkommen. Wie dem auch sei, ich befinde mich jedenfalls weiterhin auf dem Weg in das Neue, und Musik ist auch hier Material und Werkzeug zugleich. Die in der Folge besprochenen Platten vereinen altes und neues auf verschiedene Weisen, in sich und untereinander. Als Ergebnis muss ich einen milden Konservatismus feststellen, ein vorsichtiges Desinteresse an allzu neuen Ideen (Low End Activist) sowie größere Achtung für Offenheit und Anschlussfähigkeit (Messer, New Order). Die Zeit ist eine Wunde, das Alter ist ein Ort.

Und: Häufig fühlte ich mich in diesem Jahr in der stimmungsvollen Abstraktion der Alva Noto-Welt wohler als in einzelnen Alben. Für viele Situationen war die zufällige Wiedergabe meiner Playlist namens Sin-Wave die richtige Lösung: Das Ausufernde, Endlose, Gesamte, Zurückgenommene, der Soul reiner Vernunft, Sync Inter.

Schließlich: Während ich das hier schreibe, wälze ich den Diederichsenwälzer über das aktuelle Jahrtausend. Auf ähnliche Weise wie für die hier besprochene Musik muss ich auch über diese Form von Text sagen: Ich fühle mich in dieser Sprache zu Hause. Pop und Popkritik als Anlass für alles Mögliche, und mehr Mögliches überhaupt.

  • Messer – Kratermusik (Trocadero)

    Rationale Fantastik ist eine mögliche Reaktion auf das Bewusstsein, dass alles auch anders sein könnte, anders sein müsste. Die in der Folge brennende Realisierung, dass man es dann in der Hand hat, dass der Entschluss für die eigene Erzählung auch bedeutet, dass man dauernd alles entscheiden kann und muss, und dass auch diese Entscheidungen dann diese Welt hervorbringen, also auch diese, in der wir leben, mit unseren Körpern und unseren begrenzten Reichweiten. Dass, wenn wir hier schon leben und sterben müssen, es besser nicht tun wie irgendjemand zuvor.

    Messer folgen Gedanken wie diesen seit nunmehr sechs Alben immer tiefer in ihr eigenes, selbstbezügliches Realitätssystem. Die Geschichten in Kratermusik sind ganz und gar aus den Charakteren und Szenerien gebaut, die Hendrik Otremba’s Literatur1 und die Musik seiner Band seit Jahren bevölkern. Reale Musik einer ausgedachten Welt, Lehrstück in Introspektion.

    Nachdem Messer sich auf der No Future Days2 musikalisch galaktisch verdriftet hatten, geht es auf Kratermusik3 einen Schritt zurück in sehr effektiv ausgedachte 1980er Jahre. Das ist durchaus Rockmusik, und bei allem Hall und Scheppern windet sich jedes Lied um mindestens eine mehr oder minder offenbarte Hitkomponente: eine Bridge, eine Hi-Hat (unglaublich, Flimmern), ein Riff (Im falschen Traum) ein Shout (Eaten alive) – oder gleich das ganze Ding (Oswalth 1 2 3 4).

    Messer affektieren natürlich einen Stil, sie wissen um die ästhetische Wirkung ihrer Versatzstücke. Aber sie tun es ohne Frivolität, sie tun es mit Geschmack und guten Absichten, sie sind hier aus den richtigen Gründen. Sie haben sich in eine gleichermaßen rationale wie fantastische Dekade vorgearbeitet, die nur ihnen gehört. Der Lohn dieses Vorgehens ist, dass Messer auf diese Weise Dinge sagen können, die man nicht sagen kann: Ein Ziel kann es nicht geben/wir schauen nicht zurück/wir wollen einfach leben, wirklich.

    Es war früh im Jahr, als diese Platte erschien. An den Tagen schien bereits die Sonne auf den Granit der Stadt, ich war an Küste bis zum Strand von Espinho gelaufen, und später am Abend sah ich F.M. Einheit beim Lärmen zu. An einem anderen Tag salutierte ich im Lauf grinsend meine Brücke, das Album und der Lauf wurden eins. Das war ein klar identifizierbarer Teil dieses Jahres, denn die echte Welt war schließlich wach und verlangte nach Lösungen.

  • The KVB – Tremors (Invada)

    Die Musik unserer Kindheit, also Musik vor dem Beginn der musikalischen Sozialisation, sie verfängt sich üblicherweise an einer Stelle des Selbst, die mit der Rezeption von Kultur und dem dazu-in-Beziehung-setzen wenig zu tun hat. Auf diese Weise ist die spärlich möblierte Räumlichkeit vage waviger Popmusik der 1980er Jahre4 ein Zuhause, in ihrer Distanziertheit fühle ich mich auf Anhieb wohl. Es ist universelle Musik. Selbst ihr Faksimile genügt mir, I’m a sucker.

    The KVB stellen diese Kopien seit vielen Jahren verlässlich her. Hatte ich zu Beginn noch meine Probleme mit ihrer Abgeklärtheit, kann ich inzwischen sehr gut hinnehmen, dass ihre Platten ein Genussmittel sind, und auch ein Amphetamin, eine Quelle von Momentum, von Hirn aus/machen. Sich das zu erlauben, dieses Album anzuwerfen oder es einzuwerfen und das augenblicklich präsente, vertraute Gefühl anzunehmen.

    Natürlich stammt es nur zum Teil aus der Musik von The KVB selber; hier werden Rezeptoren mit Ersatzstoffen getriggert, aber das macht ja nichts, auch von Tremors will ich Funktion und Erinnerung: Die Ufer des Sees und seine grünen Hänge, das Gehen in der Nacht, der Lauf zur Sonne, der Transit über den Fluss, das Starren in den Abgrund der Monitore, wenn etwas fertig und gut werden musste.

    Im Vergleich zur hier besprochenen Unity hat die Platte dieses Jahres jede Unbeschwertheit hinter sich gelassen. Große Dringlichleit liegt vor, die Düsternis und die Besessenheit früherer Releases sind zurück. Ging es zuvor um Weite und das Imaginieren neuer Räume – kein Quadratmilimeter bleibt frei auf dieser neuen Platte, zu verdichtet ist jeder Track, kulminierend im ganz durchbetonierten A Thirst, bevor Deep End mit der reinsten Formulierung des Prinzips The KVB die Platte beendet: Doomed, haunted, lost at sea, bessere Frisuren und bessere Schuhe als du. Aber wie immer in dieser Art Musik ergeben sich die die Hits aus Momenten, in denen der subkutane Optimismus durch all den heraufbeschworenen Nebel bricht5: Schönheit liegt in der Auflehnung gegen das ganze verdammte Universum, so dunkel es auch ist.

  • Hesaitix – Noctian Airgap (PAN)

    Ich blicke in diesen Posts auf den Zusammenhang von Musik und Jahr. Abgesehen von ästhetischen Fragen geht es mir dabei um die Art und Intensität der Verwebung einer Zeit mit ihrem Sound; der Präsenz von Gedanken und Stimmungen, die wesenhaft mit einzelnen Releases oder Arten von Musik verknüpft sind. Das ist auch eine quantitative Frage. Viele der hier genannten Releases waren lange oder in bestimmten Modi präsent6, verteilt auf Zeiten und Orte. Noctian Airgap erschien am 6. Dezember, vor etwa drei Wochen. Dieses Album erreichte also Bedeutung ohne Zeit und Raum zu füllen, im Grunde direkt, beim ersten Hören. Das hat verschiedene Gründe.

    Zunächst enthält es eine rare Art meiner liebsten Musik, die sich nur schwer durch Genres oder Qualitäten, die diesseits der Musik liegen, beschreiben lässt: Es ist Musik, die sich in meiner Wahrnehmung ganz und gar auf den Raum bezieht, ihn beschreibt und vermisst und aufspannt. Zuweilen lässt sich das als architektonisch wahrnehmen, aber im Fall von Noctian Airgap ist es eine monumentale, galaktische Skalierung. Ich versuchte diesem Aspekt bereits nachzugehen: Vermessung gefundener Welten.

    Ein weiterer Grund mag die Dichte dieser Musik sein: Bereits das Maschinenatrium in den ersten Sekunden von Cusp of Unknowing hat eine solche fesselnde Präsenz, dass beiläufiges Hören unmöglich wird. Die Komplexität und narrative Balance der vielen Schichten dieser Platte hält Intensität aufrecht, durch Grooves und Nebel, an gelegentlichen Blicken ins Freie vorbei, zu den Gewittern in den Schatten. Es sind viele Ideen und viele Musiken, die ein gedachtes, frei schwebendes Objekt mit endlos komplexer und damit unendlich großer Oberfläche formen. Through the haze we could make out hardly anything. Just the black line of the horizon. And in the distance the faint glimmering of the sea.

    Schließlich mag es die Verhandlung zwischen Abstraktion und Welt sein, die Hesaitix mit musikalischen Mitteln betreibt. Bei aller Entkoppeltheit von Themen, Genres und Zählarten, bei allem tastenden Schweben zwischen digitalen Edelgasen: da ist eine Geschichte in diesem Album, der wir folgen können, eine Präsenz der Natur, frische Luft, und eine Präsenz des Menschen. Da ist das was uns zusammenführt und zusammenhält, das was mit Heisenberg niemals zugleich empfunden und benannt werden kann. Was es auch sein mag – daraus besteht der geschmolzene Kern dieses bemerkenswerten Albums.

  • Low-End Activist – Airdrop (Peak Oil)

    Eine weitere Konstante meiner Kulturrezeption ist, dass mir jene Dinge und Werke am besten gefallen, in denen das vermeintlich Zentrale abwesend ist, eine Peripherie, ein komplexes Arrangement, Gewese um eine Leerstelle. Der Ausdruck dessen kann sehr verschieden sein, je nach Diziplin. Die konkrete, körperliche Arbeit der Inszenierung wird das Subjekt der Inszenierung, die architektonische Situation ist spannender als das Geschehen, das in ihr stattfindet. Die Hängung hat größeren Wert als die Bilder, das Wegeleitsystem übertrifft die kuratorische Leistung, das es organisieren soll. Ich betrachte die Rahmen, die Schönheit ihrer reinen Form. Das Hervorbringen der Idee tritt vor die Idee: Es ist transparent, aber wird zuerst durchdrungen.

    Das ist also Kunst mit mehr Zwischenraum als Inhalt und Musik die es nicht gibt: Space to breathe, space insert yourself, ’artful ’ardcore, the Thinking Raver. Es ist diese Abstraktion, und ihre Verbindung mit dem Rohstoff Wut (Diederichsen), die das Projekt Low End Activist so universell machen: Airdrop war in diesem Jahr für mich eine Art Memory Palace ohne Palast – ein entkerntes Labor der Gedanken, oder ein Holodeck, das flackert und einfach nicht verlässlich funktionieren will. Ein Raum mit viel Platz, auf unterhaltsame Weise kaputt, mit interessant geformten negativen Räumen und gratiger Oberfläche, an denen denen die Gedanken kristiallisieren können. Auf diese Weise war dieses Album7 Start- und Endpunkt vieler Überlegungen.

    Das alles ist nicht ohne Euphorie und Feels, die Gratifikation der feinst präparierten Rave-Stabs im letzten Track der Platte, Airdrop 09 (Cortina Outro), sind das intellektuelle Equivalent der bestmöglichen Momente auf dem Floor, den es ja nun nicht mehr gibt. Airdrop 03 (Mayhem on Barton Hill) verleiht der Wirklichkeit einige angenehm konkrete Kanten, wie ich im April hier notierte.

    Unerwähnt ließ ich dabei freilich die offensichtliche Parallele zu den frühen Ravedekonstruktionen von Lee Gamble, vor allem Diversions 1994–1996 und ihre Weiterentwicklungen in einen gänzlich eigenen Sound auf Mnestic Pressure und schließlich Koch (eines meiner Lieblingsalben überhaupt). Quellmaterial und Idee sind durchaus vergleichbar – doch wo sich Lee Gamble aus den markierten Leerstellen von Tapes und Radioshows bedient, also der entweichenden, texturreichen Atmosphäre von Rave nachspürt, begibt sich Low End Activist ins Gemetzel. Das Ergebnis ist beunruhigender, zersäbelter, präsenter, angriffslustiger. Vergeistigte Musik für aufgewühlte Hirne.

  • New Order – Brotherhood (2008 Collector’s Edition) (Factory)

    Es ist natürlich unmöglich, Popmusik zu hören, oder Rockmusik oder elektronische Musik, ohne dass New Order eine Rolle spielen. Natürlich liebe ich New Order, ich höre dauernd New Order, und viele Tracks dieser Gruppe haben sich untrennbar mit Situationen und Orten in meinem Leben verschweißt8. Wenig kulturelle Produktion habe ich so aufmerksam und so lange wahrgenommen wie diese Band – für Musik fallen mir eigentlich nur die Einstürzenden Neubauten, Alva Noto und Shed samt alter egos ein9. Zeit und periodisches Hinschauen machen eine stetige Neurezeption möglich, eine Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven und mit verschiedenen Hirnkonfigurationen. Brotherhood, die Platte mit der Stahlplatte, mochte ich immer am wenigsten, jedenfalls vor den Releases der 90er, die dann nicht mehr bei Factory erschienen und mir immer recht egal waren.

    Für 2024 stelle ich fest: Brotherhood ist das Album des Jahres. Vielleicht musste ich ein gewisses Alter erreichen, um zu verstehen, was hier passiert, und dass dieses Cover das beste Saville-Cover ist, mit diesem Blau und den Schrammen. Meine Perspektive ist verändert. Ich weiß nun gerade die Schwierigkeiten dieser Platte zu schätzen, ihre Überfrachtetheit, die Unentschiedenheit der Tracklist und ihre fehlende Balance. Mir wären diese Dinge nicht aufgefallen, hätte der Transmissions-Podcasts nicht meine Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Der Podcast und insbesondere seine zweite Staffel sind unbedingt empfehlenswert, als wunderbares Dokument der Unschuld der 1980er Jahre und des demokratischen, gegen alle und alles gerichteten Antagonismus ihrer Protagonistinnen, aber ich könnte auch einfach Stephen Morris stundenlang zuhören.

    Dank Episode 04 des Podcasts weiß ich von der einigermaßen bekloppten Idee, für Brotherhood auf die kreativen Differenzen in der Band damit zu reagieren, die Komponenten von New Order voneinander zu trennen, den Rock und den Club. Jedes Genre, jedes Lager sollte seine eigene Plattenseite bekommmen. Das ist derart dumm und geradeaus, dass es nur funktionieren konnte.

    Letztlich liegt genau darin die Qualität von New Order: Ihre Ideen waren immer direkter, Matter-of-Fact-hafter als die Ideen anderer, künstlerisch theoretisch höher begabter Menschen. Ihre Qualität liegt zum einen im Prozess ihrer Ausführung: Mit völliger Konsequenz, im unumstößlichen Glauben, das man Recht hat und es schon funktionieren wird. Zum anderen sorgt die optimale Balance spezifischer handwerklicher Unfähigkeiten (der Sänger kann nicht singen, der Bassist will lieber Gitarre spielen, die Keyboarderin weiß nicht so genau, wie man die neuen Sequencer bedient) für eine Haltung, in der alles from first principles neu entwickelt werden muss. Davon ist einiges zu lernen, im Einzelnen:

    • Broken Promise beweist, dass New Order auch als straightes Rock-Outfit eine der besten Bands der Welt sind. Upbeat Joy Division!
    • Bizzare Love Triangle, ein Track, der unter allerhand Geröll versteckt, dass die einzige Sache, die hier wirklich eine Rolle spielt, Peter Hook’s reingezockte Bassschnipsel sind. Vermutlich der etwa drittgrößte Hit, den diese Gruppe je geschrieben hat.
    • Die Fehleinschätzungen, stets zu skippen und zu vergessen: As it is when it was und Every Little Counts, und das grauenvolle Machwerk Blue Monday ’88. Den besten Popsong der aller Zeiten mit besserer Technik nachzubauen, kann ihn nur ruinieren. Es enthebt ihn seiner perfekten Mängel, seiner perfekten Entsprechung der Welt zum Zeitpunkt seines Releases. Es ist ein kolossaler Akt des Unverständnisses der eigenen Qualität.
    • True Faith10, ein offensichtlicher, indiskutabler, sofort transparenter Hit.
    • Evil Dust, der Angel Dust Dub, der besser ist als sein Original. Dieser Track ist wie der Club hätte sein müssen und nie war, weil ich zu spät geboren bin. Ein großes Crescendo, eine opulente Installation aus Musik, in der alles geschehen kann.
    • Touched by the Hand of God, gemessenes Momentum, ein Schlendern, ein offenes Sakko in der Abflughalle. Mehr als einmal hörte ich das, blickte in den Ozean gegenüber der Stadt und war glücklich.

Zudem wahrgenommen und präsent: TR/ST – Performance, Alva Noto – HYbr:ID III, Flying Lotus – Spirit Box, Einstürzende Neubauten – Rampen (APM: Alien Pop Music), Thelonious Monk – Thelonious Monk with John Coltrane, anbb – Mimikry, Silent Servant – In Memoriam, New Order – Low-Life, Skee Mask – C, Low End Activist – Municipal Dreams, Cloud Management – Tempentary Dance Versions, Ryo Fukui – Scenery, Low End Activist – Gossip is the Devil’s Radio, Polar Inertia – Environmental Control


  1. Im Falle dieser Platte könnte man fast von einer Vertonung von Benito sprechen, einem Roman über die BRD, über späte Kindheit und den Unterschied zwischen Wissen und Leben. Ich mag dieses Buch und seine dunklen Bilder. 

  2. Zu No Future Days schrieb ich ein Protokoll, und die Dubversion No Future Dubs, fand ich vor drei Jahren wichtig

  3. Wo ein Krater ist, muss es einen Vorfall gegeben haben, steht im Pressetext. Wie nervig und schön diese Sprache ist. 

  4. Das The KVB-Album, von dem hier die Rede ist und die Messerplatte, sie bilden einen ziemlichen 80er-Block, der sich mit New Order fortsetzt, nur unterbrochen durch weitgehend musikfreie Musik von Low-End Activist und die postmoderne Naturelegie Noctian Airgap. Bezeichnend. 

  5. Das zynisch triumphierende Overload, der uncharakteristisch langsame Groove von In the Silence, der sich erstaunlich nahtlos in den Style dieser Band einfügt. 

  6. Beispielsweise: im Laufen und nur im Laufen, wie das diesjährige Messeralbum, von Anfang an und so regelmäßig, dass es nun den kognitiven Zustand des Laufens evoziert, wann immer ich es höre. 

  7. Und, in geringerem Maße auch sein ebenfalls in diesem Jahr erschienener Nachfolger, Municipal Dreams: Dunkler, wütender, kaputter, hitting closer to home. 

  8. Kaum ein Jahr vergeht, indem nicht mindestens ein New Order-Track in der Liste signifikanter Musik auftaucht, seit 2009: Age of Consent, Dreams never end, Temptation, Perfect Kiss, Tieves like Us, Turn the Heater on (die Peel-Session!), Mesh, Video 5–6–8, Ultraviolence, Hurt

  9. Und Rick Owens und ACRONYM® in Sachen Kleidung. 

  10. Nicht auf dem Original-Album veröffentlicht, sondern als 12″-Single, aber natürlich Teil der des gleichen Prozesses. Gleiches gilt für Evil Dust und Touched by the Hand of God

Groove, die geologische Vertiefung, der Einschnitt in den Fels, aus der Nähe betrachtet auch der Einschnitt ins Vinyl. Groove, die rhythmische Qualität einer Musik, der diamantene Schnitt in die Wahrnehmung. Die Bedeutungen zerfallen in der Musik und den abstrakten Gebirgen des Planetoiden Noctian Airgap, eine LP, eine halbe Welt in Schieflage.

Entweder ist hier alles auf minus acht gepitched oder etwas stimmt nicht mit der Gravitation in diesem Release: Alle Dinge hier scheinen groß, nah und träge. Unfassbare Massen, die die Zeit verzerren, in galaktischen Dimensionen rotierend. Dennoch ist diese Musik jederzeit nah, es scheint als könnten wir ihre Oberfläche berühren; es scheint Wärme von ihr auszugehen. Diese Objekte sind vollkommen anders als die hyperaktiven, organischen Nadeln früherer Platten von Hesaitix (aka./vormals M.E.S.H.). Bei aller Nähe nehmen wir diese Musik nur mittelbar war, durch ein spezielles Observerationsdevice, das nicht zur eigentlichen Platte zu gehören scheint. Ein akustisches Tool, das mehr und weniger in den Vordergrund tritt, dessen Statusleuchten und Intervallsignale uns in der schief liegenden Zeit orientieren (c.f. Gezeiten).

Suddenly, intersubjectivity strikes simply and beautifully: birds, the sun, cars, a forlorn voice remains to remind us of the vast dark galaxies we momentarily left behind (Dark Lines). Dann setzt sich die Examinierung erfundener Felslandschaften fort, ein tastendes Echo durchmisst Krater, Spin-State, Stringtheorie (Anticrime), kühler Echtzeitkommentar wird zum verschobenes Echo, da waren wir kurz abgelenkt, Trip Hop, Sounddesign, Moment, Kruder & Dorfmeister (Subdermal)? Hypersea: Ein Gewitter über dem Ionenmeer von der Küste einer Insel aus gesehen, ein Wolkengebäude in Zeitlupe.

Diese Platte ist eine große Tour, eine Erkundung abstrakter Schluchten, ohne jede Bodenhaftung, zugleich vermutlich die eingängigste Musik, die M.E.S.H./Hesaitix je programmiert hat. Dieses ist das späte fantastische Album im Jahr 2024. Wenn wir wollen begleitet es uns raus, über die Kante ins All und tiefer in die unabsehbar bis auf Weiteres verzerrte Zeit.

November

Flying Lotus‘ Los Angeles, released in the most beautiful and condensed, the most spiritual year of 2008, remains relevant as ever. When listened to in the comfortable, drawn-out, dreamy summer that is the year of 2024, it exudes gravity and deep-rootedness. This record is timeless. Not in the common way of untethered minimalism, but in an earthy way. It is dark-toned, heavy, warm. It cradles and carries the souls of Jazz and the legacy of its displaced inventors and tinkerers.

The Los Angeles double LP marks time like a monument: Observable from afar, from all directions. With the right kind of eyes, you could have foreseen this record the moment A Love Supreme was first released, and you can still see it from here and now, towering next to Dilla and the fucked up MPCs of 1992. It cut the weirdness and weight of a generation into soft vinyl.

This record is too intelligent to be destroyed by wide appreciation, too entertaining and tapelike to become petrified in any canon. Finally, its cover, forever among the sculptures of modernity, a solution to all questions, one of the great images1 of the time that was mine.


  1. Gestaltet von Build, die mal einer der Horizonte waren, die nie erreicht wurden, zugunsten der Horizonte anderer, erfundener Planeten. 

September

Arbeit hat den Hut aufgesetzt, die Veteranen haben die Schuhe ausgezogen. Gespielt wird eine Platte, die mit meinem Inneren und meiner Bewegung durch die Welt mehr zu tun hat als die meisten Platten in der Geschichte von Platten. Die Einstürzenden Neubauten führen in dem unwahrscheinlichen Bauwerk, der Philharmonie an der Elbe, nun also auf: Die großen, reingezeichneten Versionen der Tracks des gelben Albums, so weit und monumental, dass sie in meinem Kopf nicht mit dem gestrippten Sound ihrer Uraufführung in der Berliner Totenhalle im Wedding zusammengehen wollen.

(Powerful binoculars/and nuclear strength perfume)
Diese Band ist eine Turbine, Luftverdichter, ein Aggregat zur Kompression von Leben. Heute und hier ist sie das Gegenteil der Auflösungsmaschine: Sie betreibt Verdichtung kosmischer Moleküle und freier Elemente zu großen neuen Objekten mit Masse und Momentum, Welten verfangen sich in ihrer Rotation inmitten von Sternenstaub. Ich bin aus der neuen Heimat angereist, um das zu sehen.

(Der Tod fährt nachts)
Die Einstürzenden Neubauten sind zuerst eine perkussive Band. Melodie, Soundscapes, sogar der zentrale Text – das sind Insekten und Vögel, eine Fauna, die die Häuserzüge dieser Musik bevölkert. Sie lassen sich hier blicken, sie sitzen in den Fenstern, sie flattern von den Firsten. Ungerührt davon bleibt diese Gruppe stets an ihre eigenen Regeln gebunden, die sie permanent erfinden und erneuern. Hier herrscht Disziplin, der Groove ist festgepinnt wie ein Schmetterling auf dem Kork, präpariert, exponiert aber zu jeder Zeit an den Fesseln reißend. It shouldn’t groove, but it grooves.

(Der zerschnittene Himmel)
Kunst im Angesicht der Wahrheit des Niedergangs, facing what needs to be faced, weiterhin lösungsfrei, voller Fragen, voller Glaube an die Maximierung der Möglichkeiten: Die Welt gangbar machen, Tunnel graben in die falsche Substanz der Gegenwart. Voraus gehen, wohin später andere folgen können. Solange die Welt ist, ist alles erreichbar. Wenn sie dann nicht mehr ist, wird nichts erreichbar sein. Das ist alles. If the world is, everything remains in reach. If it is not, nothing is. Das ist richtig und alternativlos.

(Für immer: Neu)
Man muss einen Anzug anhaben, um die Neubauten wirklich hören zu können, einen merkwürdigen Anzug.

(Yo!)
Diese Sonnenbarke, diese Sehnsucht des Winters nach dem Sommer, sie hatte eine besondere Qualität; sie schien nicht zu enden, und der Klang von allem stieg so weit empor und fiel so konzentriert, so messerscharf zusammen wie selten.

Einstürzende Neubauten, Wu-Tang Clan notiere ich zum Ende und musste später feststellen, dass ich diese Verknüpfung schon vor einigen Jahren mal dachte. Die Größe, das Schichten von Vorgefundenem, Bargeld rules everything around me (danke, Robin).

August

Delsin 2.0 ist der rare Fall des relevanten, des zeitlosen Labelsamplers, seinem überaus anachronistischen Titel zum Trotz. Zwei Seiten, 24 Tracks, kaum Füll- und Dämmmaterial, vielleicht eine oder zwei Ausnahmen. Als ich diese Compilation zum ersten Mal hörte, im ersten Smallville-Laden – der in einer anderen Zeit und einer anderen Stadt stand, einer Stadt, über der schwer die Sommer lagen, in denen ich mir meiner Freiheit und meines Körpers gewahr war – da war ich direkt fasziniert von der gleichzeitig vorhandenen Kohärenz und Vielfalt dieser Musik. Techno existierte niemals eindringlicher als in diesen Sommern, und was bei Delsin erschien, zog mich in ihre Nächte.

Delsin 2.0 war die Verdichtung der Idee des Labels: alles einfach gebaut und direkt produziert (Run), Momentum-Musik (Twenty). Zugleich ist kaum je etwas ohne Tiefe (The Foreigner), Schichtung (Handle with Care I), Konzentration (Contracting) und Empathie für die Welt (Solitude), geschmolzen und legiert fließen diese Tracks durch die Zuhörerin wie die dichte Luft des Sommers durch ihre Lunge, Kompression und Öffnung zugleich. Diese Musik manifestiert den Floor, den langen Weg dorthin und was darauf folgt. Den Bruch und die Leerstelle, den Drink am Fluss und die Euphorie der Rückkehr in die überhitzte, schmutzige Dunkelheit.

Ich hörte diese Platte in jedem Jahr seitdem, ich kopierte sie auf und von acht verschiedenen Rechnern, um sie immer weiter mitzunehmen im Transit durch das All, versunken und wach, Zustand, Station, Koordinate.

  • Delsin – Delsin 2.0, 2×CD, Delsin Records, 2009

Juli

Two preview singles from one of my all-time favorite dacing with tears in my eyes-acts. TR/ST’s music gets more polished with every release, a frequent development for many acts, which is regrettable. While the beautiful bones and Robert Alfons‘ incredible voice are all still there – but the existential rawness of earlier releases has been sanded down. Still, awesome music for nights lost on the dancefloor or lost at the desk.

Sitting with a new TR/ST record called Performance, and Robert Alfons‘ back catalogue. Still affected by the easy theatric darkness, so beautiful and forlorn, and forever intertwined with a time, a vibe in my life. A wistful summer spent between cities, memories of silent fast trains at night, hurling me across senseless shadowlands. The memories loom like towering unreachable cityscapes, afar and mythical, but still visible. My life a curved line through the shadowlands of contingencies, the roads not taken, refuges for nights like these.

April

Es ist eine Freude, den säuberlich herausrestaurierten Strukturen von Jungle zuzuhören. Sie verleihen der Wirklichkeit einige angenehme Kanten, eine zufällig angeordnete Definition, eine elegante Ordnung, befreit von jeder lästigen Aufgabe. Es sind die besten Teile ihrer Tracks: Intermissionen, Breaks, überpitcht verebben Vocals in elektronischen Modulationen, die irgendwann einmal eine Orgel darstellen wollten. The Street finds its own uses for things.

Low End Activist befreit diese Elemente aus der Dramaturgie des Floors. Break: bleibt aus. Hook: kommt nicht. Das Material ist frei zu evaporieren, in die noch nicht ganz warme Luft des Frühlings 2024. Eine Skizze, die Hardcore nur angedeutet und zum überwiegenden Teil im Gehirn vervollständigt werden muss – Musik, die nur aktiv gehört existiert.

  • Low End Activist – Airdrop, LP, Peak Oil, 2024

März

This one is a lesson in introspection, in diving deep into your self, in exploring your knowledge both mentally and physically. This process, wrapped into a coherent soundscape that Messer could only have procured from within: at once abrasive and funky, a dubby boom enveloping hooks and stories entirely constructed from characters and ideas that have populated Messer’s albums and Hendrik Otremba’s writing for years. It’s the record I would have wanted this band to make: start where No Future Dubs left you, now go deeper.

Dezember

Der Gast des Sanatoriums strebt nicht nach Heilung. Er ist auch kein Tourist, auf der Suche nach Eindruck. Er ist ein Reisender, hier, um in seinem Leben Inne zu halten. Sein Platz ist auf der hölzernen Veranda, den Blick durch die unspezifisch heilende Luft den Bergen entgegen gerichtet. Sein Zustand ist die aktive Ruhe vor der Fortsetzung der unbestimmten Reise in unbestimmte Richtung.

Wenn ich an 2023 denken werde, werden da das Meer und die Berge sein. Meine psychologische Versessenheit auf das Räumliche ist unverändert, aber es sind zunehmend natürliche Umgebungen, weniger kultürliche. Landschaft, nicht Architektur. In den Bergen: Hänge aus zermahlenem Obsidian, eine Alp, deren scharfe Zeichnung kilometerweit durch das Tal erkennbar ist. Ein hölzener Pfad führt durch die Wetlands bei Nozawa. Nach dem Abstieg: Das Dorf der verlorenen Skispringer, mit einer Weltraumstation aus Glas und Holz. Am Meer: diese Farbe, die der Himmel nur über dem Meer in der Bucht von Kamakura annimmt. Der Atlantik und seine Felsenufer als beständiger Orientierungspunkt in meinem Leben. Ruhe und Licht auf der Insel, auf der nach Sonnenuntergang niemand lebt, nur wir, gebadet und hungrig.

Das Jahr eine Fortsetzung der Versuche und Reisen des vergangenen, tiefer in unbekanntes Territorium. Restauration, Maintenance, inne halten. Kleidung tragen, die mehr als eine Richtung zulässt, in der ich mir das Neue vorstellen kann. Ich hatte Interesse am Grau des Himmels, dem Grau der Felsen und dem Grau der Meere. The Big Chill: An einem neuen Ort haben wir für eine kurze Weile wieder gemeinsam gelebt. Wir sind nur hier wegen einander, und vielleicht war das hier schon immer unsere Zukunft.

In defense of forgetting: Perhaps when we forfeit these traces to the erosion of time, whatever information is left will be precisely what we were meant to remember. Ich bin weiterhin nicht daran interessiert, Optionen offen zu halten. Vielleicht fange ich an, sie vorher zu betrachten. Musik aus dem Jahr 2023.

Winter

  • Topdown Dialectic – A4 (2013)
  • Cadency – Crack & Collapse
  • Special Interest – Street Pulse Beat
  • Matthew Stone – How do you Feel
  • Autechre – VI Scose Poise
  • Quasimoto – Basic Instinct
  • Vril – Animist
  • Tzusing – 孝忍狠 (Filial Endure Ruthless)
  • Larry Heard – Missing you
  • 9MS – Ada
  • Runden – Mikado
  • Samuel Kerridge – Membranous Labyrinth

Frühling

  • Brutalismus 3000 – Die Liebe kommt nicht aus Berlin
  • Dimitris Petsetakis – Clearance (Part II)
  • Somewhen – Kilo
  • Chris Carter – Electrodub 2
  • Abwärts – Computerstaat
  • KwolleM – West Ham
  • Queens of the Stone Age – No one knows
  • Basic Channel – Phylyps Trak II/II
  • Ital Tek – Darkening
  • Ben Kaczor – Tohatsu (Orion Remix)
  • Mieko Suzuki – Taboo 禁忌
  • Einstürzende Neubauten – Everything will be Fine

Sommer

  • Flying Lotus – Golden Diva
  • Ben Kaczor – Katamaran
  • Ryo Fukui – Early Summer
  • Aphex Twin – Blackbox Life Recorder 21F
  • Ryoji Ikeda – Ultratronics 05
  • Lee Gamble – She’s not
  • Saccades – New Star Line
  • Head High – Break Away
  • Kim Petras – Treat Me Like A Slut (Lehmann &. KH38 Remix)
  • ASA – Modo II
  • Einstürzende Neubauten – Isso Isso

Herbst

  • Jesus and the Mary Chain – The Living End
  • Ben Kaczor – Tranquility
  • Cloud Management – PST
  • Shed – Up the Hills
  • Lawrence – Aestivation
  • Mieko Suzuki – Catastrophe 凶
  • Il Quadro di Troisi – Non ricordi (Front de Cadeaux Remix)
  • Saccades – Neighbour’s Pool
  • Alva Noto – HYbr:ID Ectopia Elastic 2
  • Einstürzende Neubauten – The Pit of Language
  • David Bowie – Modern Love

Winter

  • Alva Noto – HYbr:ID Ectopia Field 1
  • Einstürzende Neubauten – Ist Ist
  • Alva Noto – Uni Sub (Fatima Al Qadiri Remix)
  • The Cure – A Forest (Live, 1992)
  • Mall Grab – Menace II Society
  • Tocotronic – Mein Ruin
  • Tempo – Kalt wie Eis
  • Saccades – Flowing Fades
  • Einstürzende Neubauten – Die Explosion im Festspielhaus
  • Purelink – Spirit & Sport
  • DJ Boring – Surash Jazz (Boring Dub)

Sets

Die Musik des Jahres folgte den Reisen des Jahres, über große Distanzen hinweg und auch durch die eigenen Viertel, wo bekannte Ideen eng aufgespult liegen. Auf der Reise bewegt sich die Welt schnell oder langsam vorbei. Die Musik legt sich darüber, es entsteht ein Anlass zu Auseinandersetzung. In diesem Fall ist eine Platte keine Platte, sondern eine Kombination aus Energie und Richtung oder Kraft und Weg, eine Strategie um Gedanken zu machen: Die Gier nach Irritation, um endlich Neues aus dem Nichts in die Welt zu zerren.

Ich habe vieles über und zu Musik aufgeschrieben in diesem Jahr, aber weniges davon veröffentlicht. Einiges ist wohl in die Arbeit geflossen oder wurde anderweitig entzündet und in Energie umgewandelt. Viel Material wartet ab, auf Zeit oder die passende Form.

Ich kann fünf bedeutsame Platten für das Jahr 2023 nennen: Die wichtigste ist noch nicht erschienen, sie steht für sich und mindestens ebenso für den Prozess ihrer Genese. Die anderen vier Alben teilen sich auf in die Gegenpole Abstraktion und Pop, wie immer nicht ganz ein Mensch, nicht ganz etwas anderes.

  • Ben Kaczor – Petrovo Uho Remixes (I) (Dial)

    Die Idee von Dial Records – also Detroit zurückzuholen in das Land von Kraftwerk, es in die dröge, unterkühlte Stadt Hamburg zu zwingen – ist immer bei mir geblieben, auch wenn ihre Zeit ein wenig vorüber ist. Die Releases sind seltener und inhaltlich weiter gefasst, doch sie bleiben weiterhin von hoher Qualität. Ben Kaczor ist ein junger Schweizer, und er hat in diesem Jahr die Idee von Dial für eine neue Generation gangbar gemacht. Petrovo Uho ist ein schönes Album, smooth und diszipliniert, ich hörte es häufig, und meist war ich dabei in physischer Bewegung (Katamaran ist zentraler Bestandteil meiner Mute City -Playlist).

    Größere Präsenz als das Album hatte allerdings die erste Remix-12″. Die fünf Versionen von drei Tracks arbeiten die Details dieser Musik heraus, geben ihnen mehr Raum und Zeit, betrachten sie aus allen Richtungen. Diese Konzentriertheit ist das zentrale Merkmal der Dialmusik der frühen Zweitausender, und in diesen Tracks ist es wach und gleichberechtigt präsent neben den großen Platten von Sten und Carsten Jost. Weiterhin: die Rhythmustracks dieser Versionen haben gegenüber dem Album erfreulichen Biss, sie bleiben präsent, vordergründig, klar. In meinem Gedächtnis umrunde ich weiterhin den Kaiserpalast in Chyoda zum Orion-Remix von Tohatsu, in die richtige und falsche Richtung zugleich.

  • Alva Noto – Hybr:ID II (Noton)

    Wie wäre eine Welt, folgte sie den Ideen und Ästhetiken von Carsten Nicolai? Sie wäre besser eingerichtet, heller und von ruhiger Kompromisslosigkeit, Natur und Technologie, Digitalität und Wärme. Die HYbr:Id-Serie ist die reine Formulierung dieser Perspektive: ein schwebendes, ultraleichtes Konstrukt, ein fremdes Gerät, basierend auf unbekannter Technologie, das seine Form in einer Serie von choreografierten Bewegungen gemessen verändert.

    Musik als Objekt und Musik als Prozess, diese Qualitäten des Genres Alva-Noto-Musik treten besonders klar zu Tage. Es ergibt Sinn, dass die diesjährige Iteration der Serie eine Adaption des Soundtracks zu Ectopia (Richard Siegal für Tanztheater Pina Bausch) ist, ihr Raumbezug und ihr schwebendes Momentum verorten sie ganz und gar in der physischen Welt. Bei aller Leichtigkeit gibt es stets einen Bezug zur Erde, einen Hall, einen Dub, einen Schatten. Die Schönheit dieser Musik hat mich vor vielem bewahrt in diesem Jahr, sie war ein psychologischer Ort, den ich mit mir geführt habe. In dieser Musik bin ich in der Welt nicht vorhanden, sondern nur in der Welt dieser Musik. Es gibt vieles über Sein und Arbeit von Alva Noto zu lernen, und die Noton-Releases gleichen einem Curriculum, dem ich aufmerksam folge.

  • Mieko Suzuki – Ödipus, Herrscher (Raster Media)

    Die Explosion im Festspielhaus, das Album. Mieko Suzuki’s Soundtrack für die Oedipus-Inszenierung von Johan Siemons am Schauspielhaus Bochum ist die Entwicklung und Erkundung einer Athmosphäre. Eher eine Folge von Stimmungen als eine Reihe von Tracks. Das musikalische ist dabei durchaus nie fern, es existiert in den Oktavwechseln von Drones (Catastrophe 凶) und den rhythmischen Experimenten, die Suzuki mit Stahl und Holz und Tonabnehmern durchführt (Rumor 言伝). Dieses Album erzeugt eine forschende, neugierige Stimmung, in der die Exploration und schließlich Entgrenzung einer limitierten Welt möglich scheinen.

    All das geht in Kontrasten von statten. Mieko Suzuki’s Musik ist zugleich hell und dunkel. Beispielsweise: ein monumentaler Schatten fällt durch Disaster 厄, und zugleich scheint jedes Detail der Welt dieses Tracks im Licht erkennbar, als gäbe es keine Zuflucht vor der kristallinen Wahrheit. Diese Qualität versetzt mich in einen idealen Geistes- und Gemütszustand für allerlei Tätigkeiten. Ich habe gedacht und sortiert zu dieser Musik, und während ich das tat, existierte ich in einem anderen Raum und in einer anderen Zeit. Das war ungemein hilfreich, denn zu denken und zu sortieren gab es vieles in diesem Jahr. Auf diese Weise ist diese vermutlich die meist gehörte Platte meines Jahres, ein Vibe, ein Aggregatzustand, den ich nicht besser beschreiben kann.

  • Saccades – Land of the Hearth (Old World – New World)

    Das Format ist antiquiert: 40 Minuten Popmusik verteilt auf A und B, Track sechs ist die offensichtliche Single und der Beginn der B-Seite. Die ist ansonsten eher mellow und verdunstet ihren Inhalt in die Schatten eines Sommernachmittags. Die Musik selber ist nicht weniger erwartbar: Land of the Hearth existiert im Wahrnehmungsraum der ausgehenden 1980er Jahre: Hallregler weit aufgedreht, die Bassline definiert alles, ein bundloses T-Shirt in der Bundfaltenhose, Sakko weich und boxy. Sie ist durchweg süß und leicht, bleibt ohne Nachdruck, schwebender Sommerpop in der Nähe einer salzigen Küste. Ich bin 41, und mir gefallen diese Dinge, und sie haben mir bereits gefallen als ich sechs war, eine Ästhetik eingeschrieben in meine Generation. Insofern war diese Platte eine Erinnerung an ein gewisses Ideal, an die einfachsten Dinge, von denen ich weiß, dass sie richtig sind.

    Was dieses Album zu einem der zentralen dieses Jahres gemacht hat, war mein Zustand im Laufen, der Sonne entgegen entlang der Küste von Leça, und wie ich die Ponte Arrábida hinter mir lasse, der letzte Checkpunkt bevor sich die Weite unendlich öffnet und mir alles gehört: Still Eternal singt Nicholas Wood hier, und es stimmt. Ich spüre diese Hits mit jeder Faser meines Körpers, no goals just state.

    Isto aqui é uma agora e isso ali é uma agora e ali não é nada entres esses/The endless now which transitions from one now into the other without traversing neither time nor space, evolving from one state into the next.

    Ever since returning, I have not dared to listen to any track from the Saccades album – they seem to have unified with the granite and the Atlantic, with my body in motion and the unrestricted view during runs along the river and the sea. Maybe i am trying to conserve a state of being for bad times, or as a reminder of my other self that still exists in the other place.

  • Einstürzende Neubauten – Rampen (Potomak)

    Die Platte des Jahres existiert nicht. Sie wurde aufgenommen, viele Male fragmentiert, diskutiert, verworfen, hinterfragt, overdubbed. Sie wurde nicht veröffentlicht, und nur einmal hörte ich sie, in einer Zoom–Übertragung in einem ICE auf dem Weg durch Brandenburg. Die Bilder waren nur Kompressionsartefakte der Einstürzenden Neubauten, Debris, und der Klang wurde über diverse Server zu mir geschliffen. Diese einmal gehörte Platte, die 2024 erscheinen wird, hat zentralen Raum in diesem Jahr eingenommen.

    Für etwa zehn Monate habe ich dem Prozess ihrer Herstellung in Livestreams und Posts und Forenkonversationen zugesehen1, das heißt: die Rampen2 der letzten Tour wurden gehört, besprochen, zerlegt und systematisiert, thematisch und musikalisch arrangiert. Blixa Bargeld trug während dieser Phase gelbe Dokumentenumschläge durchs Bild, die Texte und Notizen in dieser sehr spezifischen Handschrift enthielten, überraschenderweise unverändert seit Stimme Frisst Feuer nicht verändert hat. Natürlich ist er der Spiritus Rektor, er weist zurecht, er zerrt wo gezerrt werden muss, und er ist kleinlich bis impertinent – doch in Summe ist es eine demokratische Beschwörung, und die Punchlines sind gerecht zwischen den Mitgliedern verteilt.

    Ich habe mit größter Freude dieser Band aus Brillenträgern (Blixa) dabei zugesehen, wie sie ein weiteres Album der interessantesten Popmusik der Geschichte konstruieren. Ich saß in der Hokuriku-Linie irgendwo bei Fukui, aß gefaltetes Ei mit Katsuobushi und Blixa sang von den beiden großen Mauern, die er besuchte. Anweisungen wurden berlinert, irgendwie passte allet noch nicht, aber es war zu spüren, dass der Prozess zu seinem Ergebnis führen würde. Das wussten alle, auch ich in der nordjapanischen Tiefebene. Monate später, in Brandenburg, höre ich dann fertige Versionen dieser Musik, deren Details ich so gut kannte, deren Ganzes mir jedoch verborgen geblieben war.

    Ich freute mich über die krautige Motorik und die verspulten Gitarren dieses Albums, den stampfenden Rhythmus von Klaus Dinger, Jaki Liebezeit und den anderen, die zu den selten besprochenen Referenzen der Einstürzenden Neubauten gehören. Da ist etwas fiebriges, deliriöses in dieser Musik, ein mit dem Lineal gezogener Groove ohne Bewegung, wie er nur in diesem Land entstehen kann. Ich verstehe, dass das Erproben und dass Abbarbeiten dieser Gruppe an ihrer Musik Teil meiner Gedanken in diesem Jahr geworden waren, und dass es abgefärbt hat auf meine Arbeit und auf mein Selbst. Ich habe dieses Jahr verstanden als ich diese Platte verstanden habe, da ist jetzt eine Verbindung, und sie wird immer bleiben.

    Hier ist ein Nichts, da ist ein Nichts und weil dieses Nichts da ist, können wir eben es auch anfüllen – mit Unnützlichkeiten, die nun mal als Abfallprodukt der Bewegung für immer in die Existenz hineingeraten, ob sie es nun wollten oder nicht, und anfangen automatisch Pattern, Ornamente und Strukturen zu bilden als könnte es nicht vermieden werden.

Auf der Shortlist: Ryoji Ikeda – Ultratronics, Sam Kerridge – Kick to Kill, V/A – Aestivation, Lee Gamble – Models, Ben Kaczor – Petrovo Uho, Tzusing – 绿帽 Green Hat, 9MS – II, ASA – Radial, Dimitris Petsetakis – On Shores, Vril – Animist, Purelink – Signs, Ital Tek – Timeproof


  1. Das ganze war natürlich Teil des Supporterprojekts der Neubauten, das Erin Zhu in den frühen Zweitausendern erfunden hat. 2001 stand ich mit Michael in irgendeinem Keller, und er erklärte mir das alles, und warum das wichtig ist und dass es Pop in Reinform sei und dass man Blixa zuhören müsse. Ich glaubte ihm nicht recht, obwohl er mein Freund war, und erst viel später, nachdem ich mich durch Schichten anderer Musik gearbeitet hatte, verstand ich alles. Michael, du hattest recht und du wusstest mehr als ich. 

  2. Eine Rampe, im Vokabular der Gruppe, ist eine Improvisation, die live gespielt wird, und die verschiedene Aufgaben an die Mitglieder verteilt. Zuweilen basierend auf Dave, zuweilen ganz anders. 

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