electricgecko

Dezember

Der Gast des Sanatoriums strebt nicht nach Heilung. Er ist auch kein Tourist, auf der Suche nach Eindruck. Er ist ein Reisender, hier, um in seinem Leben Inne zu halten. Sein Platz ist auf der hölzernen Veranda, den Blick durch die unspezifisch heilende Luft den Bergen entgegen gerichtet. Sein Zustand ist die aktive Ruhe vor der Fortsetzung der unbestimmten Reise in unbestimmte Richtung.

Wenn ich an 2023 denken werde, werden da das Meer und die Berge sein. Meine psychologische Versessenheit auf das Räumliche ist unverändert, aber es sind zunehmend natürliche Umgebungen, weniger kultürliche. Landschaft, nicht Architektur. In den Bergen: Hänge aus zermahlenem Obsidian, eine Alp, deren scharfe Zeichnung kilometerweit durch das Tal erkennbar ist. Ein hölzener Pfad führt durch die Wetlands bei Nozawa. Nach dem Abstieg: Das Dorf der verlorenen Skispringer, mit einer Weltraumstation aus Glas und Holz. Am Meer: diese Farbe, die der Himmel nur über dem Meer in der Bucht von Kamakura annimmt. Der Atlantik und seine Felsenufer als beständiger Orientierungspunkt in meinem Leben. Ruhe und Licht auf der Insel, auf der nach Sonnenuntergang niemand lebt, nur wir, gebadet und hungrig.

Das Jahr eine Fortsetzung der Versuche und Reisen des vergangenen, tiefer in unbekanntes Territorium. Restauration, Maintenance, inne halten. Kleidung tragen, die mehr als eine Richtung zulässt, in der ich mir das Neue vorstellen kann. Ich hatte Interesse am Grau des Himmels, dem Grau der Felsen und dem Grau der Meere. The Big Chill: An einem neuen Ort haben wir für eine kurze Weile wieder gemeinsam gelebt. Wir sind nur hier wegen einander, und vielleicht war das hier schon immer unsere Zukunft.

In defense of forgetting: Perhaps when we forfeit these traces to the erosion of time, whatever information is left will be precisely what we were meant to remember. Ich bin weiterhin nicht daran interessiert, Optionen offen zu halten. Vielleicht fange ich an, sie vorher zu betrachten. Musik aus dem Jahr 2023.

Winter

  • Topdown Dialectic – A4 (2013)
  • Cadency – Crack & Collapse
  • Special Interest – Street Pulse Beat
  • Matthew Stone – How do you Feel
  • Autechre – VI Scose Poise
  • Quasimoto – Basic Instinct
  • Vril – Animist
  • Tzusing – 孝忍狠 (Filial Endure Ruthless)
  • Larry Heard – Missing you
  • 9MS – Ada
  • Runden – Mikado
  • Samuel Kerridge – Membranous Labyrinth

Frühling

  • Brutalismus 3000 – Die Liebe kommt nicht aus Berlin
  • Dimitris Petsetakis – Clearance (Part II)
  • Somewhen – Kilo
  • Chris Carter – Electrodub 2
  • Abwärts – Computerstaat
  • KwolleM – West Ham
  • Queens of the Stone Age – No one knows
  • Basic Channel – Phylyps Trak II/II
  • Ital Tek – Darkening
  • Ben Kaczor – Tohatsu (Orion Remix)
  • Mieko Suzuki – Taboo 禁忌
  • Einstürzende Neubauten – Everything will be Fine

Sommer

  • Flying Lotus – Golden Diva
  • Ben Kaczor – Katamaran
  • Ryo Fukui – Early Summer
  • Aphex Twin – Blackbox Life Recorder 21F
  • Ryoji Ikeda – Ultratronics 05
  • Lee Gamble – She’s not
  • Saccades – New Star Line
  • Head High – Break Away
  • Kim Petras – Treat Me Like A Slut (Lehmann &. KH38 Remix)
  • ASA – Modo II
  • Einstürzende Neubauten – Isso Isso

Herbst

  • Jesus and the Mary Chain – The Living End
  • Ben Kaczor – Tranquility
  • Cloud Management – PST
  • Shed – Up the Hills
  • Lawrence – Aestivation
  • Mieko Suzuki – Catastrophe 凶
  • Il Quadro di Troisi – Non ricordi (Front de Cadeaux Remix)
  • Saccades – Neighbour’s Pool
  • Alva Noto – HYbr:ID Ectopia Elastic 2
  • Einstürzende Neubauten – The Pit of Language
  • David Bowie – Modern Love

Winter

  • Alva Noto – HYbr:ID Ectopia Field 1
  • Einstürzende Neubauten – Ist Ist
  • Alva Noto – Uni Sub (Fatima Al Qadiri Remix)
  • The Cure – A Forest (Live, 1992)
  • Mall Grab – Menace II Society
  • Tocotronic – Mein Ruin
  • Tempo – Kalt wie Eis
  • Saccades – Flowing Fades
  • Einstürzende Neubauten – Die Explosion im Festspielhaus
  • Purelink – Spirit & Sport
  • DJ Boring – Surash Jazz (Boring Dub)

Sets

Die Musik des Jahres folgte den Reisen des Jahres, über große Distanzen hinweg und auch durch die eigenen Viertel, wo bekannte Ideen eng aufgespult liegen. Auf der Reise bewegt sich die Welt schnell oder langsam vorbei. Die Musik legt sich darüber, es entsteht ein Anlass zu Auseinandersetzung. In diesem Fall ist eine Platte keine Platte, sondern eine Kombination aus Energie und Richtung oder Kraft und Weg, eine Strategie um Gedanken zu machen: Die Gier nach Irritation, um endlich Neues aus dem Nichts in die Welt zu zerren.

Ich habe vieles über und zu Musik aufgeschrieben in diesem Jahr, aber weniges davon veröffentlicht. Einiges ist wohl in die Arbeit geflossen oder wurde anderweitig entzündet und in Energie umgewandelt. Viel Material wartet ab, auf Zeit oder die passende Form.

Ich kann fünf bedeutsame Platten für das Jahr 2023 nennen: Die wichtigste ist noch nicht erschienen, sie steht für sich und mindestens ebenso für den Prozess ihrer Genese. Die anderen vier Alben teilen sich auf in die Gegenpole Abstraktion und Pop, wie immer nicht ganz ein Mensch, nicht ganz etwas anderes.

  • Ben Kaczor – Petrovo Uho Remixes (I) (Dial)

    Die Idee von Dial Records – also Detroit zurückzuholen in das Land von Kraftwerk, es in die dröge, unterkühlte Stadt Hamburg zu zwingen – ist immer bei mir geblieben, auch wenn ihre Zeit ein wenig vorüber ist. Die Releases sind seltener und inhaltlich weiter gefasst, doch sie bleiben weiterhin von hoher Qualität. Ben Kaczor ist ein junger Schweizer, und er hat in diesem Jahr die Idee von Dial für eine neue Generation gangbar gemacht. Petrovo Uho ist ein schönes Album, smooth und diszipliniert, ich hörte es häufig, und meist war ich dabei in physischer Bewegung (Katamaran ist zentraler Bestandteil meiner Mute City -Playlist).

    Größere Präsenz als das Album hatte allerdings die erste Remix-12″. Die fünf Versionen von drei Tracks arbeiten die Details dieser Musik heraus, geben ihnen mehr Raum und Zeit, betrachten sie aus allen Richtungen. Diese Konzentriertheit ist das zentrale Merkmal der Dialmusik der frühen Zweitausender, und in diesen Tracks ist es wach und gleichberechtigt präsent neben den großen Platten von Sten und Carsten Jost. Weiterhin: die Rhythmustracks dieser Versionen haben gegenüber dem Album erfreulichen Biss, sie bleiben präsent, vordergründig, klar. In meinem Gedächtnis umrunde ich weiterhin den Kaiserpalast in Chyoda zum Orion-Remix von Tohatsu, in die richtige und falsche Richtung zugleich.

  • Alva Noto – Hybr:ID II (Noton)

    Wie wäre eine Welt, folgte sie den Ideen und Ästhetiken von Carsten Nicolai? Sie wäre besser eingerichtet, heller und von ruhiger Kompromisslosigkeit, Natur und Technologie, Digitalität und Wärme. Die HYbr:Id-Serie ist die reine Formulierung dieser Perspektive: ein schwebendes, ultraleichtes Konstrukt, ein fremdes Gerät, basierend auf unbekannter Technologie, das seine Form in einer Serie von choreografierten Bewegungen gemessen verändert.

    Musik als Objekt und Musik als Prozess, diese Qualitäten des Genres Alva-Noto-Musik treten besonders klar zu Tage. Es ergibt Sinn, dass die diesjährige Iteration der Serie eine Adaption des Soundtracks zu Ectopia (Richard Siegal für Tanztheater Pina Bausch) ist, ihr Raumbezug und ihr schwebendes Momentum verorten sie ganz und gar in der physischen Welt. Bei aller Leichtigkeit gibt es stets einen Bezug zur Erde, einen Hall, einen Dub, einen Schatten. Die Schönheit dieser Musik hat mich vor vielem bewahrt in diesem Jahr, sie war ein psychologischer Ort, den ich mit mir geführt habe. In dieser Musik bin ich in der Welt nicht vorhanden, sondern nur in der Welt dieser Musik. Es gibt vieles über Sein und Arbeit von Alva Noto zu lernen, und die Noton-Releases gleichen einem Curriculum, dem ich aufmerksam folge.

  • Mieko Suzuki – Ödipus, Herrscher (Raster Media)

    Die Explosion im Festspielhaus, das Album. Mieko Suzuki’s Soundtrack für die Oedipus-Inszenierung von Johan Siemons am Schauspielhaus Bochum ist die Entwicklung und Erkundung einer Athmosphäre. Eher eine Folge von Stimmungen als eine Reihe von Tracks. Das musikalische ist dabei durchaus nie fern, es existiert in den Oktavwechseln von Drones (Catastrophe 凶) und den rhythmischen Experimenten, die Suzuki mit Stahl und Holz und Tonabnehmern durchführt (Rumor 言伝). Dieses Album erzeugt eine forschende, neugierige Stimmung, in der die Exploration und schließlich Entgrenzung einer limitierten Welt möglich scheinen.

    All das geht in Kontrasten von statten. Mieko Suzuki’s Musik ist zugleich hell und dunkel. Beispielsweise: ein monumentaler Schatten fällt durch Disaster 厄, und zugleich scheint jedes Detail der Welt dieses Tracks im Licht erkennbar, als gäbe es keine Zuflucht vor der kristallinen Wahrheit. Diese Qualität versetzt mich in einen idealen Geistes- und Gemütszustand für allerlei Tätigkeiten. Ich habe gedacht und sortiert zu dieser Musik, und während ich das tat, existierte ich in einem anderen Raum und in einer anderen Zeit. Das war ungemein hilfreich, denn zu denken und zu sortieren gab es vieles in diesem Jahr. Auf diese Weise ist diese vermutlich die meist gehörte Platte meines Jahres, ein Vibe, ein Aggregatzustand, den ich nicht besser beschreiben kann.

  • Saccades – Land of the Hearth (Old World – New World)

    Das Format ist antiquiert: 40 Minuten Popmusik verteilt auf A und B, Track sechs ist die offensichtliche Single und der Beginn der B-Seite. Die ist ansonsten eher mellow und verdunstet ihren Inhalt in die Schatten eines Sommernachmittags. Die Musik selber ist nicht weniger erwartbar: Land of the Hearth existiert im Wahrnehmungsraum der ausgehenden 1980er Jahre: Hallregler weit aufgedreht, die Bassline definiert alles, ein bundloses T-Shirt in der Bundfaltenhose, Sakko weich und boxy. Sie ist durchweg süß und leicht, bleibt ohne Nachdruck, schwebender Sommerpop in der Nähe einer salzigen Küste. Ich bin 41, und mir gefallen diese Dinge, und sie haben mir bereits gefallen als ich sechs war, eine Ästhetik eingeschrieben in meine Generation. Insofern war diese Platte eine Erinnerung an ein gewisses Ideal, an die einfachsten Dinge, von denen ich weiß, dass sie richtig sind.

    Was dieses Album zu einem der zentralen dieses Jahres gemacht hat, war mein Zustand im Laufen, der Sonne entgegen entlang der Küste von Leça, und wie ich die Ponte Arrábida hinter mir lasse, der letzte Checkpunkt bevor sich die Weite unendlich öffnet und mir alles gehört: Still Eternal singt Nicholas Wood hier, und es stimmt. Ich spüre diese Hits mit jeder Faser meines Körpers, no goals just state.

    Isto aqui é uma agora e isso ali é uma agora e ali não é nada entres esses/The endless now which transitions from one now into the other without traversing neither time nor space, evolving from one state into the next.

    Ever since returning, I have not dared to listen to any track from the Saccades album – they seem to have unified with the granite and the Atlantic, with my body in motion and the unrestricted view during runs along the river and the sea. Maybe i am trying to conserve a state of being for bad times, or as a reminder of my other self that still exists in the other place.

  • Einstürzende Neubauten – Rampen (Potomak)

    Die Platte des Jahres existiert nicht. Sie wurde aufgenommen, viele Male fragmentiert, diskutiert, verworfen, hinterfragt, overdubbed. Sie wurde nicht veröffentlicht, und nur einmal hörte ich sie, in einer Zoom–Übertragung in einem ICE auf dem Weg durch Brandenburg. Die Bilder waren nur Kompressionsartefakte der Einstürzenden Neubauten, Debris, und der Klang wurde über diverse Server zu mir geschliffen. Diese einmal gehörte Platte, die 2024 erscheinen wird, hat zentralen Raum in diesem Jahr eingenommen.

    Für etwa zehn Monate habe ich dem Prozess ihrer Herstellung in Livestreams und Posts und Forenkonversationen zugesehen1, das heißt: die Rampen2 der letzten Tour wurden gehört, besprochen, zerlegt und systematisiert, thematisch und musikalisch arrangiert. Blixa Bargeld trug während dieser Phase gelbe Dokumentenumschläge durchs Bild, die Texte und Notizen in dieser sehr spezifischen Handschrift enthielten, überraschenderweise unverändert seit Stimme Frisst Feuer nicht verändert hat. Natürlich ist er der Spiritus Rektor, er weist zurecht, er zerrt wo gezerrt werden muss, und er ist kleinlich bis impertinent – doch in Summe ist es eine demokratische Beschwörung, und die Punchlines sind gerecht zwischen den Mitgliedern verteilt.

    Ich habe mit größter Freude dieser Band aus Brillenträgern (Blixa) dabei zugesehen, wie sie ein weiteres Album der interessantesten Popmusik der Geschichte konstruieren. Ich saß in der Hokuriku-Linie irgendwo bei Fukui, aß gefaltetes Ei mit Katsuobushi und Blixa sang von den beiden großen Mauern, die er besuchte. Anweisungen wurden berlinert, irgendwie passte allet noch nicht, aber es war zu spüren, dass der Prozess zu seinem Ergebnis führen würde. Das wussten alle, auch ich in der nordjapanischen Tiefebene. Monate später, in Brandenburg, höre ich dann fertige Versionen dieser Musik, deren Details ich so gut kannte, deren Ganzes mir jedoch verborgen geblieben war.

    Ich freute mich über die krautige Motorik und die verspulten Gitarren dieses Albums, den stampfenden Rhythmus von Klaus Dinger, Jaki Liebezeit und den anderen, die zu den selten besprochenen Referenzen der Einstürzenden Neubauten gehören. Da ist etwas fiebriges, deliriöses in dieser Musik, ein mit dem Lineal gezogener Groove ohne Bewegung, wie er nur in diesem Land entstehen kann. Ich verstehe, dass das Erproben und dass Abbarbeiten dieser Gruppe an ihrer Musik Teil meiner Gedanken in diesem Jahr geworden waren, und dass es abgefärbt hat auf meine Arbeit und auf mein Selbst. Ich habe dieses Jahr verstanden als ich diese Platte verstanden habe, da ist jetzt eine Verbindung, und sie wird immer bleiben.

    Hier ist ein Nichts, da ist ein Nichts und weil dieses Nichts da ist, können wir eben es auch anfüllen – mit Unnützlichkeiten, die nun mal als Abfallprodukt der Bewegung für immer in die Existenz hineingeraten, ob sie es nun wollten oder nicht, und anfangen automatisch Pattern, Ornamente und Strukturen zu bilden als könnte es nicht vermieden werden.

Auf der Shortlist: Ryoji Ikeda – Ultratronics, Sam Kerridge – Kick to Kill, V/A – Aestivation, Lee Gamble – Models, Ben Kaczor – Petrovo Uho, Tzusing – 绿帽 Green Hat, 9MS – II, ASA – Radial, Dimitris Petsetakis – On Shores, Vril – Animist, Purelink – Signs, Ital Tek – Timeproof


  1. Das ganze war natürlich Teil des Supporterprojekts der Neubauten, das Erin Zhu in den frühen Zweitausendern erfunden hat. 2001 stand ich mit Michael in irgendeinem Keller, und er erklärte mir das alles, und warum das wichtig ist und dass es Pop in Reinform sei und dass man Blixa zuhören müsse. Ich glaubte ihm nicht recht, obwohl er mein Freund war, und erst viel später, nachdem ich mich durch Schichten anderer Musik gearbeitet hatte, verstand ich alles. Michael, du hattest recht und du wusstest mehr als ich. 

  2. Eine Rampe, im Vokabular der Gruppe, ist eine Improvisation, die live gespielt wird, und die verschiedene Aufgaben an die Mitglieder verteilt. Zuweilen basierend auf Dave, zuweilen ganz anders. 

Dezember

Als dieses Jahr gerade begonnen und die Krankheit nachgelassen hatte, notierte ich die Möglichkeit, weniger Kraft aufzuwenden. Hier, am letzten Tag des Jahres, ist klar, dass es der wesentliche Gedanke und der Beginn einer Zeit war. 2022 war wunderbar, endlos und schön, wärmer und ruhiger als meine Erinnerung reicht. Ich machte mich auf Wege, und da werde ich nun für einige Zeit sein.

Zeit auf einer Insel zu verbringen, deren Grenzen unmittelbar sichtbar sind, erzeugt einen anderen Sinn für Hier und Jetzt, eine innere Relation zum Universum und seiner Ausdehnung. Es ist erhebend und reduktiv zugleich: Ich bin ein statistischer Punkt, klar verortet auf X- und Y-Achse. Einfacher gesagt: Ich weiß mit großer Präzision, wo ich bin und wo die Sterne beginnen. Das ist beruhigend, und ein wichtiger Bestandteil des Inseldaseins.

Im Juni sprang ich innerhalb einer Woche in sechs Gewässer: den Rhein, die Isar, den Eisbach, den Pilsensee. Dann zwei unbenannte Flüsse in den Abruzzen, schließlich das Mittelmeer. Diese langsame Zeit dehnt sich in meiner Erinnerung aus, wie ein zusätzliches Leben, das in diesem Jahr in meines mündete. Im November saß ich am Praja da Luz, und es war immer noch vorhanden. The traveller faces the present mingled with the past: its reflection in the spaces, the aged beams of the wooden ceilings, in fragments of Rome, beneath running water, following the yellow street lights, in the touch of linen, the rare full night of sleep, in the smell of espresso and the bells of a church, the fur of a small animal, an early walk to the trees and a run circling the ancients.

Damit ich mich okay fühlen kann, muss alles eine gewisse Intensität aufweisen. Immer zu viel, und ein wenig zu ernst. Es muss ein Risiko eingegangen werden, und es muss offengelegt werden, dass dieses Risiko eingegangen wird: Winning by the virtue of failing to be taken entirely seriously. Das betrifft Sprache, Gestaltung und Kunst und Musik. Ich verbrachte das Jahr in dieser geistigen Atmosphäre, und was ich sah, tat und hörte entsprach ihr. Wo und was auch immer die Schnittmenge von Nothings gonna Hurt you Baby, Street Pulse Beat1 und Dominator ist, dort war ich zu Hause. Sonic journal of a walking person, 2022.

Winter

  • Special Interest – Street Pulse Beat (Boy Harsher Remix)
  • Sten – Part Three
  • Klaus – Sabz
  • SKY H1 – Elysian Heights
  • Cappadonna – Gotta find a Way
  • Andy Stott – Versi
  • Can – Spray
  • Yves Jates – Moment 5
  • Sten – City of Dust
  • Andy Stott – Brief Encounter
  • Wav Fuzz – The Euphoric Six
  • Marcello Giordani – Coming down

Frühling

  • Lawrence – Clouds & Arrows
  • Burnt Friedman & Jaki Liebezeit – 120-05 (Rashad Becker Mix)
  • CFCF – Life is Perfecto
  • Carsten Jost – Pink
  • WAX – WAX40004 (B)
  • Jamal Moss – This is 4 the Rave Bangers
  • Head High – Blind
  • Andy Stott – V
  • Carsten Jost – La Collectionneuse VII
  • The KVB – Unbound (moa moa Remix)
  • Onoe Caponoe – Lord of the Light (Sun Riddim)
  • Einstürzende Neubauten – Wedding

Sommer

  • Rhythm Section – Perfect Love 2am
  • Algiers – Cry of the Martyrs
  • Airchina – Drifting
  • Etapp Kyle – Source
  • Borderland – Riod
  • Iori – Spaciotemporal (Vril Remix)
  • Moor Mother – Rap Jasm (feat. AKAI Solo & Justmadnice)
  • Sten – Lash out
  • Dumbo Tracks – Bordstein in der Nacht
  • Onoe Caponoe – Disappearing Jakub
  • Carsten Jost – XDB RMX (VII)
  • Strategy – Frontiera
  • Relaxer – Doll

Herbst

  • Cigarettes after Sex – Nothing’s gonna hurt you Baby
  • Sten – The Essence (Earthshine Remix)
  • Au Suisse – Thing
  • Lady Aicha & Pisko Crane’s Fulu Miziki – Kraut
  • Strategy – Bassmaker
  • Relaxer – Mello
  • Moor Mother – Real Trill Hours (feat. Yung Morpheus)
  • She Past Away – Disko Anksiyete (DJ Fn1 Remix)
  • Topdown Dialectic – A4
  • Jamal Moss – Erotic Abuse
  • Schwefelgelb – Das ist Wellness
  • Yann Cook – Lemur
  • Cristian Collodoro – Temperature

Winter

  • Iannis Xenakis – Pléïades
  • Nebuchadnezzar – Comesediceblood
  • Relaxer – Headache
  • Cloud Management – Große Wolke
  • Franck Vigroux – Paris NYC
  • Doom Starr – Suspended in Grind
  • Human Resource – Dominator
  • Treuhand77 – This Land was made for you and me
  • Relaxer – I’ll let you know
  • Philip Bailey & Phil Collins – Easy Lover
  • Xmal Deutschland – Sehnsucht

Niemand hat mehr Energie in mein Jahr gebracht als SPFDJ. Ihre Sets und Playlists sind die Definition von gutem Geschmack at breakneck speed. Immer alle Regler oben und alle Potis ganz rechts. Way to go, Speedy Fockin‘ DJ.


  1. High on Semidulce in einem maroden Fiat 500, in einem Sandsturm, auf einer Insel, in der Nacht 

Dieses Jahr war Zeit für Musik. Nach den vergessenen, überarbeiteten Jahren zu Beginn der Dekade war 2022 hell und weit, es begann früh und blieb offen, wie ein langer wacher Sommer. Ich konnte Musik aufmerksam hören, selten fand ich mich in Situationen, in denen ich sie benutzen musste – und wenn, dann tat ich es mit der Lust, das Bewusstsein zu verlieren (SPFDJ, give me strength). Das war eine Entscheidung und ein Bruch.

Meine Aufmerksamkeit und Begeisterungsfähigkeit für Details in Musik war wieder präsent, die Freude über wilde Entschlossenheit und kluge Ideen: Manchmal bin ich so hingerissen, dass mein Glaube an Schönheit und Würde für einen Moment wieder hergestellt ist1. Diese Quelle von Optimismus wurde mir in diesem Jahr wieder bewusst. Ich wollte bewegt werden, ich wurde bewegt, und Musik war die Richtung.

Wenn ich diese fünf Releases betrachte, scheinen sie mir universell, wenig gebunden an Erfahrungen oder Orte. Was ich gehört habe, habe ich dauernd gehört. Keine dieser Platten ragt heraus, wie es Darkside’s Spiral im vergangenen Jahr tat. Diese Platten sind abstrakt, vielschichtig und deep, sie eint eine gewisse Ruhe. Wenige Freakouts, keine Gitarren, keine großen Gesten und kein Geschrei. Vielleicht bin ich da etwas auf der Spur, vielleicht habe ich mich weniger an der Welt gerieben, weniger von mir vebraucht als ich gewonnen habe. Das wäre neu und gut, und vielleicht ist das die Richtung des vierten Jahrzehnts.

Listen to the few that understand rationality and poetry alike, who cannot fathom difference between knowing and making, able to create the world by speaking it. The ones that act and think in silence, obscured and friends with shadows and birds and moss, disconnected as in free.

  • Strategy – Unexplained Sky Burners (Peak Oil)

    Bevor es wirklich Sommer wurde in diesem Jahr, saß ich im Sand am Atlantik. Wir waren weit gegangen, wir hatten die Raffinerie hinter uns gelassen, wir hatten wenig mitgebracht. Wir ließen uns nahe des Obelisken nieder und besprachen den Zustand der Welt, und wie in Zukunft Umgang mit ihr zu finden sei. Mitten im Satz springe ich auf und renne, einer plötzlichen Sucht nach Intensität folgend, auf das kalte Meer zu. Die wenigen Sekunden, die ich brauche, kann ich den Moment des Eintauchens, des Auflösens im Salzwasser nicht erwarten, das kinetische und körperliche Außufern. Ich werfe mich in das Meer und in den Sand, und ich werfe mich in die Welt. Ein Mikroexzess, zu subtil und merkwürdig als dass er für die meisten erkennbar wäre.

    Unexplained Sky Burners zu hören, ist wie ein Bruchteil von Momenten wie diesem. Diese Tracks sagen nichts, und es gibt nichts über sie zu sagen2, hier ist nichts zu lesen, nur alles zu fühlen: Das encodieren und decodieren ist zeitweise ausgesetzt, Sprache hört auf, ein Bruch, ein Verglühen des sonst immer vorhandenen. Die Bedeutung dieses Albums für dieses Jahr liegt in seiner Sprachlosigkeit, und darin, wie es mich aus allem herauszuziehen in der Lage ist. Es erklärt nichts. Es ermöglicht neues Handeln.

  • Jamal Moss – Thanks 4 the Tracks you Lost (Modern Love)

    Es war ein Jahr auf der Suche nach Alternativen, der aufregenden Frage, was auf der anderen Seite der Kontingenz liegen möge. Wohin ginge all die Energie, wäre sie frei, sich in alle Richtungen auszudehnen? Thanks 4 the Tracks you Lost mag eine der Antworten auf diese Frage sein. Die sechs verlorenen Tracks sind keine EP, eher ein kurzes Best-of aus dem ausufernden Katalog von Jamal Moss3, ausgewählt von Modern Love und bei der Gelegenheit mit dem besten Artwork des Jahres versehen. Moss sucht bereits seit langem nach Alternativen, er tut es in großer Breite und Vielfalt. Mit Chicago House4 als Ausgangspunkt verfolgt er Strategien der Entgrenzung. Alles geht, und zwar zugleich und in rascher Folge: Footwork (When Love knows no Bounds), Funk, Big Room Techno (This is 4 the Rave Bangers), zu Eisnadeln gecrushte Vocals, Hooks die keine sind (weil sie nur einmal vorkommen), Minimalismus gefolgt von Maximalismus, dann plötzlich Ruhe, eine warme Rhodes, plötzlich ist es einsam auf dem Floor.

    Dem entsprechend ist Thanks 4 the Tracks you Lost eine ungeheuer eklektische Angelegenheit. Es ist Musik, die der Intuition mit dem Ziel folgt, sie vollständig und wahrhaftig offen zu legen. Es könnten Live-Aufnahmen sein, in einem Take. Die Energie der Produktion wird nie gebündelt, sie ist frei, ihren eigenen Weg in der Weite der Vorstellungskraft ihres Schöpfers zu finden. Dennoch bewahrt dieses Release zu jeder Zeit seine erkennbare Form, es wird zusammengehalten durch den Druck ihrer Intensität und Aufrichtigkeit. Das hat diese Platte für mich verständlich gemacht. Gleichzeitig war sie neu und aufregend, als Musik und als Abkehr von der Sicherheit bekannter Strategien, als Marker für was sein könnnte: same energy, less direction, Be Fearless in Your Pursuit Of What Sets Ur Soul On Fire, das ist einfach und richtig.

  • Moor Mother – Jazz Codes (Anti-)

    Nun diese Platte, die auch ein Buch oder ein Film oder eine raumgreifende Installation sein könnte, oder alles nacheinander oder alles zusammen – so viel weiß Camae Ayewa und so viel vermag sie in Worte zu fassen. Als Moor Mother hält sie auf Jazz Codes Hof. Sie ist die Bandleaderin, die Universalgelehrte. Sie produziert durch Beschwörung, deutet auf ihre Solisten und Alter Egos, verwebt ihre Beiträge in einen Groove aus Produktion, Rezitation, Rap, Gesang und Text. Das Ergebnis ist ein Stream of Consciousness, ein fließendes Hier und Jetzt ohne Ort und Zeit, ein universeller Chant, eine Synthesis. In ihren Worten: I can shift this shit, I can lift this shit, I can last all night.

    Diese Platte steht in der Historie von Blue Note und Monk, Miles, Prince, Eryka Baduh, Wu-Tang, Outkast und D’Angelo. Mir fällt keine wichtigere Vertreterin ihres Gedankengutes ein, inklusive der satten oder toten Urheber. Das ist bemerkenswert und Bürde genug. Doch Moor Mother’s Blick reicht weit über ihr unmittelbares musikalisches Universum hinaus, es umfasst Literatur, Spirituals und aktuelle Poesie, blk girl blues, project housing bop and black ghost songs5, Mr. Bones, John McPhee und Iggy Pop. Selbst vor diesem Hintergrund ist die Vielfalt an Styles und Stimmungen bemerkenswert. Real Trill Hours ist eine Nokturn, allein mit den glühenden Devices und den glühenden Gedanken, ein Verweis auf Schreiben in der Nacht als M.O. und als Fluchtweg – und dann gibt es auch acht Bars von Yung Morpheus und das ganze ist irgendwie der smoothe Hit des Albums. Barely Woke ist die Skizze eines Garage-Tracks im Hintergrund einer Rezitation, die zu Rap wird und schließlich detailreich zerfällt. Rap Jasm entwickelt aus zwei Samples eine komplexe lyrische Dramaturgie, die endet before it’s all said and never done. Unreal.

    Ich erinnere mich, wie ich im Frühling im dunklen London den langen Weg nach Hause gehe. Ich bin gebannt von Camae Ayewa’s Stimme. Ich überquere eine Brücke, ich folge den Tracks und ich folge den Lichtern, Skaterkids ziehen Bahnen. Ich bin ganz hier und zugleich im Kosmos der Verweise, in einem mehrdimensionales Flechtwerk, alternierend zwischen soulful und raw, zwischen der großen Anklage der zerstörten Gesellschaft der Vereinigten Staaten und dem spirituellen Consciousness einer parallelen Gesellschaft, die über Geist und Körper, Kultur und Sport Einfluss auf das Endstadium der Konsumgesellschaft gewonnen hat. Hier liegt die größte Hoffnung diesseits der strukturellen Kaputtheit des industrialisierten Kapitalismus.

  • Relaxer – Concealer (Planet Mu)

    Wenn ich in naher oder ferner Zukunft erklären wollte, wie sich dieses Jahr angefühlt hat, würde dieses Album nennen. Vielleicht gab es wichtigere oder präsentere Musik, für die Welt und mich. Aber Concealer ist das richtige Vokabular um den langen Sommer, der 2022 war, zu beschreiben. Wie häufig ist es der Bezug von Sound auf Raum oder die – von mir so wahrgenommene – Definition empfundener Räume, die diese Musik greifbar macht. Das ist ein Muster. In diesem Fall sind die Räume nicht eindeutig definiert – hier scheint für vieles Platz zu sein, aber wir empfinden die Ausdehnung dieser Tracks nie vollständig, ihre Größe und Form scheinen sich zu verändern, Dimensions variable. Das ist ein gutes Gefühl, und das ist neu. In manchen Tracks auf Concealer herrscht eine rastlose Spannung, ein Oszillieren auf der Stelle, das die Schwingungen der Atome aufrecht erhält. Organismus und Technologie sind gleich schwer und gleich bedeutsam in diesen Räumen, schrieb ich dazu im September.

    Eine Sache ist hinzuzufügen. Der Output von Daniel Martin-McCormick als Relaxer ist umgeben von einer spartanisch, aber bemerkenswert präzise definierten Ausdruckswelt. Text, Gestaltung, Fotografie, Track-Titel und Release-Titel, Pseudonym und Styling sind so gut und so spezifisch in ihrer Relation zueinander, dass sie mehr bilden als die gemeinhin notwendige, hinreichend anschlussfähige Ästhetik. Jede Entscheidung ist entschlossen und ihre Gesamtheit ist kohärent ohne eindeutig zu sein. Hier wird keine Identität definiert. Es ist der Vorschlag einer Perspektive auf die Dinge, eine Art der Bezugnahme von innen auf außen. Auch in dieser Hinsicht ist der Eindruck vieldeutig: Am Kontext des Clubs (und damit der Welt) nimmt die Hörerin dieser Musik distanziert, aber bewusst teil, mit dem notwendigen Abstand für Konzentration und aufmerksame Wahrnehmung. Wer was mitbekommen will, muss anwesend und bereit sein, aber nicht mittendrin und nicht zu allem.

    Bei aller Bestimmtheit bleibt diese Musik ergebnisoffen, sie ist unversell zur Zeit: angemessen für das allgemeine Gefühl hier und jetzt, und doch ohne jede direkte Anschlussfähigkeit für ein Thema oder einen Aggregatszustand, Musik als Raum und Interval.

  • Borderland – Transport (Tresor)

    Diese Platte fuhr wie ein silberner Zug durch das Jahr. Sie beschreibt die Entwicklung eines spezifischen, präzise geformten Sounds durch die Dauer und Dramaturgie einer Langspielplatte: Kraft mal Weg, der Beweis des Energieerhaltungssatzes mit den Mitteln von Techno.

    Diese Musik ist Dub-basiert, und als solche geht es ihr um Konzentration und Versenkung, Schweben bei großem Gewicht6. Das ist nur in Balance möglich, also der Zustand nach dem alle Dinge und Wesen streben. Acht Elektronen auf der Außenschale, die Balance der Konzentrationen auf beiden Seiten einer permeablen Membran. In dieser Hinsicht ist Transport ein zirkuläres Album, sein Momentum zielt nicht auf Fortschritt, sondern auf Introspektion. Was Moritz von Oswald und Juan Atkins produzieren, leitet Energie nach Innen, sie wird der Musik wieder zugeführt. Reflektion erzugt Rotation, Rotation erzeugt Balance.

    Es begann im Mai, als Moritz von Oswald einen seltenen Gig spielte, im Keller eines Kinos in Porto. Noch in der Nacht befasste ich mich einmal mehr mit seinem Output und all den Projekten, es war meine Rückkehr zu Detroit, zum gemessenen Living Room Techno, zum Eiermann-Techno und zu Dial7. Diese Dinge aus meiner Vergangenheit, die neue Sinne ergaben. Lightyear und Riod, Tracks die niemals Hintergrund sind und dennoch Raum lassen, der Vergangenheit und Zukunft verbindet. Das ist monumentale Musik, die nichts betäubt, schrieb ich im August. Das ist vermutlich, was ich in den vergangenen acht Monaten erster Linie brauchte: Aufmerksamkeit, Wachheit, innere Offenheit für Zukunft. Ich hörte diese Platte immer wieder, ich stieg in diesen Zug. Sie hat mir geholfen, zu verlassen was falsch geworden ist. Sie gehörte zu nichts und zu allem, sie ist die Atmosphäre von 2022.

Generell relevant, stets vorhanden oder kurz wichtig: Au Suisse – S/T, Borderland – S/T, The KVB – Unity Remixes, Carsten Jost – La Collectionneuse, Sten – Earthshine8, Yves Jates – M, Sky H1 – Azure, Onoe Caponoe – Voices From Planet Cattele, Mhamad Safa – Ibtihalat, Relaxer – Licking, She Past Away – X, Kuedo – Infinite Window, VA – Best of Delsin Records 2022, Airchina – LP3, Andy Stott – The Slow Ribbon


  1. Ocean Vuong hat es besser gesagt: There are moments, I think, that are more heartbreaking or absurd in reading, which I respond to by simply putting the book down (…) For me, those moments are so full of astonishment that there is no room even for their expression. (…) Maybe there’s just something wrong with me in that I cry and laugh at life — but often end up in muted awe and wonder of words. 

  2. Es gibt selbstverständlich immer etwas zu sagen, zumal über die technischen und handwerklichen Aspekte dieser Musik, und über die Art, wie sie verankert ist, die übliche Suche nach Verbindungen zu Welt und Selbst: Musik die es nicht gibt 

  3. Ein wichtiger Teil dieses Katalogs läuft natürlich unter dem Pseudonym Hyroglyphic Being, und der vielleicht interessanteste Teil als Mitglied von Africans with Mainframes. 

  4. Also dieser anderen Sorte House, mit der ich immer meine Schwierigkeiten hatte: zu nervös, zu freaky, zu sehr anything goes, why not und all das. Ich lag falsch, wie mit so vielen anderen Dingen, die mal richtig gewesen sind. 

  5. So ihre selbstgewählten Genrebeschreibungen, die treffender nicht sein könnten. 

  6. Ich kann nicht anders als die Echos und Schichtungen von Dub als Gewicht wahrzunehmen, nicht wie das Gewicht eines schweren Objektes, eher wie das implizit wahrgenommene, eher gewusste Gewicht des Wassers über mir am Grund eines Pools. 

  7. Neben der viel besprochenen Achse Detroit–Berlin gibt es natürlich auch Detroit–Hamburg. Von Oswald ist Hamburger, und die Stadt fand in den frühen nuller Jahren zu einer eigenen Version von Detroit: die Stoik der Musik und der Menschen, ihr Schalk und ihre Sachlichkeit, sie entsprachen einerander für einige Jahre. Dial Records formten daraus eine eigenständige Version von Techno, die mir vor vielen Jahren Hamburg ermöglicht hat. und das dieses Jahr bestimmt hat, in dem ich die Stadt zu verlassen begann. 

  8. Ein Verweis zurück auf The Essence, eine der zentralen Platten des Dial-Universums. 

Elektronische Musik reflektiert die Bedingungen ihrer Produktion, die Schichtung der Ebenen, die Dramaturgie von Bars und Parts – sie sind das Relief der Interfaces der Maschinen, mit denen sie erzeugt wurden, freigelegte Produktionsspuren sozusagen. In in der kargen Dramaturgie Floor-orientierter Musik werden sie besonders deutlich, lassen sich reverse-engineeren und zurückführen auf unmittelbare, lineare, westliche Emotionslogik und die Devices, die erfunden wurden um diese effizient zu bedienen1. 2022 sind alle Devices Software, sie sind ein Staub der Möglichkeiten, eine Wüste aus imaginierten Plugins und Effekten und digitalem Klebstoff dazwischen. Das Wissen um Produktionsmaterial hat eine neue Qualität erreicht und mit ihr eine gewisse Porösität von Musik, die Angriffspunkte für komplexere Ideen und mehr verschiedene Menschen ermöglicht.

Mhamad Safa ist einer dieser Menschen. Er weiß das Poröse zu greifen, er findet Schnittstellen die komplex genug sind für die rhythmischen Traditionen seiner Sozialisation: Es braucht eine prozessorientierte Betrachtung, einen Stream oder ein zirkuläres Verständnis, um die Tiefen der nordafrikanischen und levantinischen Songstrukturen zu lesen. Sein Release Ibtihalat ist detailreich zerklüftet und polished zugleich, ein komplexes System, dessen fraktale Struktur nicht in Bars und Parts zu beschreiben ist. Diese Musik ist wild und geordnet zugleich, sie ist beides in jedem Moment.

Ein Track wie Ouda & the Strikers ist als Dramaturgie, als Storytelling zu begreifen und im gleichen Moment als Musik, deren überwältigende Präsenz fast skulpturale Qualität bekommt. Sie ist Designprozess und Beschwörung, eine Legierung aus Industrie und psychologischer Macht, Mathematik und Ritual.

Nicht nur diese Auflösung von Körper und Intellekt in Musik legt den Vergleich zu Iannis Xenakis nahe, sondern auch die Fähigkeit, Maschinen perfekt zu verstehen und sie mit diesem Wissen gegen ihre eigene Natur zu verwenden. Wie Xenakis gliedert auch Mhamad Safa seine Devices in die Geschichte der Kulturtechnologie ein, älter und weiser als die in Platinen und Code eingeschriebenen Interessen ihrer allzu weißen Urheber.

Ibtihalat ist eine der anstrengenden und interessantesten Platten des Jahres. Musik zum Denken, Musik zum nichts mehr denken. Ein Plateau von dem aus beinahe unsere Zukunft zu sehen ist.

(Ich begann diesen Text im April und konnte ihn nicht beenden. Im Dezember, beim wieder-hören der interessanten und wichtigen Musik des Jahres, weiß ich was ich sagen wollte.)


  1. Die weiße Transparenz dieser Maschinen hat erst in den Händen der schwarzen Diaspora in Detroit, Chicago und London Raum und Funkiness gewonnen. Wir sprechen nicht von Techno, wenn wir von weißen Männern sprechen. 

Eine merkwürdige Platte, Unexplained Sky Burners, liegt quer in der zweiten Hälfte dieses Jahres und fordert kognitiven Raum. Es ist ein wortloses Release, ein Album gefüllt mit Bildern, wie sie an den Enden von analogen Fotofilmen zu finden sind. Brechende Farben, Motive die keine sind, grafische Kompositionen, die niemand gestaltet hat. Der Titel unterstreicht es: Was hier vor sich geht, ist unklar, aber spezifisch. Nichts zu lesen, alles zu fühlen. Es ist vertraute Musik, die es nicht gibt.

Die Tracks bedienen sich aus einer imaginierten kollektiven Erinnerung, sie scheinen aus Versatzstücken gesampled zu sein, die niemals vollständige Tracks waren. Diesen Club gab es nicht, und wir waren nie zusammen dort, wir haben diese Musik nicht gehört – aber wenn ich nachts die Goltzstraße hinabgehe, dann gehen Menschen durch ihre Straßen in Taipeh und Istanbul, hören diese Musik und fühlen was ich fühle, davon bin ich überzegt. Unexplained Sky Burners wendet sich gegen Nostalgie für die neunziger und nuller Jahre, zieht ein künstlich geschaffenes Hier und Jetzt verklärten Erinnerungen vor.

Die Kunst von Paul Dickow besteht im Zerlegen des bestehenden Materials in seine feinsten Bestandteile, molekulare Musik, Musik aus elementaren Bestandteilen von Techno: Wobbles, Stabs, Slaps, Horns und Klicks und weitere hoffnungslose Lautmalereien der Soundbeschreibung werden in disparate Arrangements verstrickt, die soch scheinbar schon immer so zusammengehört haben müssen. In dieser Hinsicht sind die Tracks also from first principles gebaut, also weder neu noch alt, sondern die Gegenwart eines Paralleluniversums, dass von außen, durch den Himmel in unser Ravekontinuum drängt. They are a specific attempt to grapple with iconic samples in a kind of archaeological dissection, sagt der Waschzettel1 ganz treffend.

Wenn Blue Situation und Bassmaker aufeinander folgen, könnte ich überall sein, aber ich bin in Porto und habe noch vier Kilometer und zehn Katzen vor mir, Pace, Traktion und Bodenhaftung könnten nicht besser sein.


  1. 1998–2003: Die Worte aus meiner Zeit bei der Zeitung, sie werden nie verschwinden. 

November

[Xenakis‘ music] is an alien shard, glimmering in the heart of the West. (Alex Ross)

Zeit ist vergangen, zwei Jahre und fast ein weiteres, und manchen Erinnerungen1 begegne ich wie ein Fremder, oder ein Anderer. Das Atonal-Festival war eine Konstante und eine Bestätigung, ein Denkmal für das Richtige in der Welt und in der Musik. Es gab kein Festival in diesem Jahr, aber X100, Konzerte und Inszenierungen zum hundertsten Geburtstag von Iannis Xenakis2. Eine Veranstaltung mit vergleichbaren Mitteln, aber transformierter Perspektiven: Unten ein Perkussionsensemble am Boden des Lichtschachtes. Vor und hinter uns die Serialität und Modulation der aus Stahlrohr errichteten Bühnen, sie sehen aus wie gefrorene Equalizer. Über uns die Weite von Bau und Raum und Zeit. Dieses mal ist nicht Techno der Ausgangspunkt unserer Aufmerksamkeit, es sind ältere Zuwege, ein tieferes Verständnis von Musik.

Ohne Kontext und Reihenfolge:

Pléïades, the circulating, layered, intersecting, air-compressing percussive piece, is reverberating upwards and around us and towards Kraftwerks stoic t-beams. Its rhythm is taking on tectonic qualities, intersecting and locking itself in place, suspended in air and held without external force. Music of wooden strength and earthen power. This is analogue body music.

Infinite complexity, infinite modulation of ideas, destruction of direction, reassembly: a swarm of small grey fish in algorithmic motion in a rock basin by the Atlantic coast.

The guidebook speaks of diffusion, rather than performance of these works. Sergio Luque recites Hibiki Hana Ma (composed for Expo ’70, Osaka): re-assembling its audio frames by bouncing boomy reverbs across six dimensions. Once again, this venue plays the artists.

The kind of precisely metered drumming that has put species under spell for milenia, the primal tick tock, is performed here and now by Valentina Magaletti. There is a dark drone beneath, its complexity wrapped in felted wool. Blue smoke slowly oozes along dark floors, I find myself transported into Michael Mann’s questionable setting of The Keep (1983), must be the palette, or my haunted longing.

This music is not performance, it’s more like weather, a condition of space and time.

Utmost concentration and concentricity in Rides of Discord, the piece comissioned from Puce Mary and Bill Kouligas. It presents a clear diametral arrangement around an algorithmic string progression: opening with shaped noise (a hint of groove, remarkably) and closing with explosions of light synced to brash white flares of analogue synths. Onyx shattering, voids beyond the beams, the dark between the stars.


  1. Bei meinem ersten Besuch entschied ich mich, Notizen zu machen und wenige Bilder. Ich schrieb Reaktionen im Moment des Erlebens in eine Textdatei auf meinem Telefon. In späteren Jahren habe ich einige dieser Notizen hier veröffentlicht. Wenn ich sie heute lese, erinnere ich mich präzise an den Moment und wie sich das anfühlte, aber ich scheine von einem anderen Ort herüber zu blicken. Gleicher Aufstieg, anderes Plateau. 

  2. Nach einigen Begegnungen bei meiner Arbeit mit Ensemble Resonanz war es vor allem The Architect is Absent, das Xenakis für mich fassbar machte. Ich empfehle es sehr. 

September

Luxus ist Abstand von den Dingen, Raum der keinen Nutzen hat, nur die Unterscheidung überdeutlich markiert, weit und leer genug, damit du dich darin selber aufhalten kannst. Die Leere ist das Essentielle, ihr Gegenüber existiert nur als Gegengewicht und Markierung, der Garten definiert das Haus. Das sind keine neuen Ideen. Ich denke und schreibe immer wieder über Nichts und ungefüllten Raum – nicht als eine Abwesenheit oder etwas das fehlt, sondern als etwas Absichtsvolles, Leere die besteht, Leere als Luxus, Abstand a priori. Jedenfalls, Musik.

Die Musik von Relaxer ist luxuriös auf diese Weise. Es sind Zeit und Licht und Raum, aufgehoben in weiten Umlaufbahnen, gerade weit genug ausgearbeitet, um Rotation und Balance zu erhalten, floaty Meditations on a Garage-type Beat. Bei aller Bestimmtheit bleibt diese Musik ergebnisoffen, sie ist unversell zur Zeit: angemessen für das allgemeine Gefühl hier und jetzt, und doch ohne jede direkte Anschlussfähigkeit für ein Thema oder einen Aggregatszustand1. Relaxer operiert derart präzise dazwischen und daneben, wie es sonst nur Lee Gamble kann, oder halt Ital bereits auf Planet Mu konnte, das inzwischen abgelegte primäre Projekt von Daniel Martin-McCormick.

In manchen Tracks auf Concealer herrscht eine rastlose Spannung, ein Oszillieren auf der Stelle, das die Schwingungen der Atome aufrecht erhält. Organismus und Technologie sind gleich schwer und gleich bedeutsam in diesen Räumen. Erst der letzte Track, der titelgebende Concealer, macht spürbar, wie viele Ecken und Klingen sich in den Weiten dieser Musik verborgen haben müssen. Er verweist zurück auf den Luftdruck und das Metall in Traps and Lures, das Aufrastern der Klangplatten in Excision in Androgyne; Mello war offenbar das Echo eines Ravehits von 1998? Und natürlich war da der Beginn, die zunehmend androide Stimme von Kahee Jeong, eerie und verführt: Let The Walls Drip. Hier war nichts leer. Du warst hier und du hast dich aufgehalten.

  • Relaxer – Concealer, 12×LP, Planet Mu, 2021
  • Relaxer – Licking, EP, Lovers Rock Recordings, 2022

  1. Auf Licking, dem neueren Release vom Anfang dieses Monats geht es konkreter geradeaus: Der Titeltrack samt Kilbourne Remix und Disinfectant sind reines Momentum. Doll allerdings klingt wie der elfte Track, der Concealer noch gefehlt hätte. Ein windendes, schillerndes Stück Musik. 

August

Ein silberner Zug zieht seine Bahn durch eine Landschaft in der Abendsonne, schnell und gemessen, ein leichter Geruch von Ozon geht vom ihm aus. Lok und Waggons sind aerodynamisch wie ein Nozomi-Triebwagen, aseptisch und warm zugleich, wie ein fabrikneues Abteil der New Yorker U-Bahn, ein industrielles Objekt, das es nicht gibt. Dieser Zug durchquert das Grenzland meines Sommers, der kein Sommer ist, sondern das erste fühlbare Stadium des Welt-Untergangs in Zeitlupe. Es ist Borderland, das gemeinsame Projekt eines deutschen Adligen und einem Funkadelic-Kid aus Detroit1, zwei Releases aus den Jahren 2013 und 2016. Damit fallen diese Platten in den Zeitraum, in dem ich die mit Samt ausgekleideten Releases auf Dial und Delsin hinter mir gelassen hatte, es ging rauer zu in den zehner Jahren. Ich bin zurück.

Transport und Borderland sind Lektionen in Präsenz, es ist eine Musik der vollständigen Anwesenheit in der Gegenwart. Oder vielleicht eine Musik der Nostalgie für die Gegenwart, die es nicht mehr gibt. Die Tracks sind ganz konzentriert auf den Prozess ihrer eigenen Entwicklung, methodisch und in sich wiederholenden einfachen Schritten. In Ruhe, mit Nachdruck. Natürlich geht es auch um Oberflächen, Dubtechno ist Sounddesign, die kontrollierte Präzision der 1980er Jahre hallt durch Sub und Main. Es ist Architektenfunk, eckiger, verhaltener Groove aus Düsseldorf, der in den Händen und den gekaperten Maschinen von Musikerinnen der urbanen afrikanischen Diaspora zu etwas spirituellem wurde – ohne seine grafischen Klarheit zu verlieren, Magie der Echos.

Transport ist die bessere der beiden Platten, und sie begleitet mich seit dem Frühjahr durch ein Jahr des Rückzugs in die Gegenwart. Lightyear und Riod, Tracks die niemals Hintergrund sind und dennoch Raum lassen, der Vergangenheit und Zukunft verbindet. Das ist monumentale Musik, die nichts betäubt. Sie ist leicht zu unterschätzen in ihrer Smoothness, ihre Komplexität entfaltet sich erst in der Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Kontexten – Odyssey gleicht einem Miegakure-Arrangement, Tag und Nacht, Tau und Wüste, ein gleitender Zug des Hier und Jetzt. Ich habe meine Faszination für diese Form nicht verloren, und sie ist präsenter als sie es lange Zeit war – am Ende sind es immer die gleichen, wenigen Menschen, die etwas Übergeordnetes verstanden haben und es ausdrücken können, das ist rar und alles, zumal im hier (Berlin) und jetzt (2020–).

Es sei ihm bei den Millionen von Schritten aufgefallen, dass es eine Gegenwart nicht gab, nicht geben könne. Jeder seiner Schritte war bereits Vergangenheit, und jeder neue die Zukunft. Der Fuß angehoben bereits Gewesenes, den Fuß in den Schlamm vor sich niedersetzen noch in der Zukunft. Wo war die Gegenwart?

Werner Herzog berichtet über Hiroo Onoda, aus Das Dämmern der Welt, Seite 125.

  • Borderland – Transport, LP, Tresor, 2016
  • Moritz von Oswald & Juan Atkins – Borderland, LP, Tresor, 2013

  1. Natürlich: Moritz von Oswald und Juan Atkins 

Juli

Journey Index (released today by Heathered Pearls) is completed by a rhythmic cicadae hum, a thousand voices unisono, filtered through flimsy noise cancelling algorithms rendered hapless by chitine percussion, at La Serre dei Giardini in Bologna. The track’s slow drone emulsifies with this summer day’s relentless heat, subduing this universe to a heavy slow motion crawl: All is bound and connected to its irresistible momentum. The sound design might lean towards Detroit, but this is a decidedly rural affair, under the sky and close to nature. Like Detroit once, it points to the future. A majestic, monastic desert planet idleness has befallen this place of advanced permaculture agritech, casting humanity as a mute witness, as silent dust ghosts, at the edge of an end and the beginning of another era. I can feel it, this soft track, this soft moment.

  • Heathered Pearls – Journey Index, Digital, Self-released, 2022

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