electricgecko

Januar

Das Jahr war Porto und Porto war das Jahr, die Stadt und die Arbeit und wenig anderes. Alles, was ich über 2021 zu erzählen habe, hat mit ihrem Licht zu tun, mit dem Meer und dem Granit, den Oberflächen und unvollendeten Dingen. Es ist das physisch wahrgenommene Potenzial des Rückbaus, ein Ende des Wachstums und die Chance auf größeres Gleichgewicht. Eine andere Art zu Atmen, eine andere Art zu bauen und eine andere Kognition. Dieses Jahr war Ausläufer einer Zukunft, die einmal unser Leben werden könnte. Es scheint möglich, jedes mal wenn ich den Flughafen verlasse.

Auch unter diesen Bedingungen bedeutet Arbeit Zugang zur Welt. Große Teile meines Jahres liegen verschüttet unter der Zeit, die notwendig war, Entropie in Entschlossenheit zu verwandeln, Konsenz zu organisieren und den Bau des Neuen zu ermöglichen. Es ist wundervoll und erfüllend, und ich konnte das Ende von hier aus sehen. Aus Notwehr habe ich einen eigenen Bau begonnen. The construction of the house itself is both a dream and a reality, and this reality is difficult to attain, it is not a peaceful process. Indeed it is not, doch Wahrheit ist Arbeit und Realität ist Konstruktion. Die Realität der Konstruktion ist zunächst vor allem weitere Arbeit, und ich gehe fest davon aus, dass sich alles auf elegante Weise aufheben wird.

Im Juni saß ich auf einem geborgten Handtuch in der Sonne am Ufer des Flusses, in Gedanken beim Grundstück einige Meter hinter mir. Weniger als 24 Stunden später ging ich verspult durch die Straßen des vierten Arrondissements, saß in einem dieser Metallstühle in den Tuileries und fand mich allein im Palais de Tokyo wieder. Ich musste selten zuvor Reißaus nehmen in meinem Leben, l’ai-je bien descendu? So war das dieses Jahr.

Im Juli ist Christian Boltanski gestorben. Meine Verbindung war selten aber präsent, seit ich Les Archives du Cœr auf Teshima besuchte. Katalogisierte Herzschläge am Ende des Meeres, am Ende der Welt, und meinen eigenen, das habe ich verstanden und nie vergessen. Archivieren, prozessieren, bearbeiten, Arbeit und Bau als Sein und Dasein. Musik in Porto und der Welt von 2021.

Winter

  • Nipsey Hussle & DJ Tiger – Who detached us from God
  • Café Türk – Şöyledir
  • Common – I Used to Love H.E.R.
  • Iggy Pop – Some Weird Sin
  • Clouds – Cait Sith
  • Messer – Lügen (Demo)
  • Emeka Ogboh – Lekki Aiah Freeway
  • Head High – Hex Pad
  • Irakli – Blessing from the Future
  • Digger Dance – O-Block Tempel
  • IVIC – Horse the Color of Rust
  • Love Songs – Kölner Straße

Frühling

  • Einstürzende Neubauten – Architektur ist Geiselnahme
  • Messer & Toto Belmont – Dyyni
  • Lawrence – Everglade
  • Fantastic Man – Mazes
  • Flying Lotus – Pain and Blood
  • EQD – 005B
  • Ja, Panik – Die Gruppe
  • Anne Imhof, Eliza Douglas, Billy Bultheel – Marlene
  • Niklas Wandt – Zum schmalen Handtuch
  • The KVB – Under the Weight
  • The Specials – Danger
  • Laraaji – Cave (Bee Mask Version)
  • Hoover1 – 2B1

Sommer

  • Smith n Hack – Falling Stars
  • Inhalt – Alles
  • EQD – 001A
  • Yone-ko – KKLKN
  • Private Press – Beardman Driven
  • Luke Slater et al. – Dialogue #2
  • Darkside – Liberty Bell
  • Pan Daijing – Tilt 四月
  • Augustus Pablo – King Tubby Meets Rockers Uptown
  • Spezializtz – Faker
  • Love-Songs – Dumpfes Hämmerndes Dröhnen
  • Anne Imhof, Eliza Douglas, Billy Bultheel – Pretty People
  • Efdemin – Wrong Movements (Circles)
  • Koreless – Sun
  • Darkside – Only Young

Herbst

  • SPFDJ – (Unreleased)
  • Andrew Tighe – Spirits
  • Pan Daijing – Let 七月
  • The KVB – Unité
  • Hoavi – Hayabusa
  • Efdemin – Endless
  • Belief Defect – Opium Den
  • Messer & Toto Belmont – A No.3
  • Only Now – Mutants
  • Rex the Dog – Maximize
  • Åmrtüm × Synta – Heiss (Floorkiller Flex)
  • Richard Fearless – Future Rave Memory
  • Novi_Sad – Africa

Winter

  • Leafar Legov – Melting
  • DD2 – Infinite
  • Vril – Purge
  • My Disco – Toil
  • The KVB – Lumens
  • Topdown Dialectic – A4
  • Vladislav Delay – Huone
  • Dasha Rush – Scratching your Surface
  • Alva Noto – HYBR:ID oval collider
  • Koreless – Shellshock
  • Einstürzende Neubauten – Ich Warte
  • The Cure – Just like Heaven
  • Siarem & Estrato Aurora – Acacio

Nach zwei Jahren ohne Clubs erscheint es mir fast normal, gute Playlists und Sets auf Videoplattformen zu finden. Menschen wollen Bilder (People don’t like clothes, they like images of clothes), ich will Dunkelheit, drei Wodka mit Mineralwasser und den Schweiß der anderen.

Dezember

Als junger Mensch habe ich einen Weg gefunden, mich zur Welt zu verhalten; durch Konstruktion.

Ich lese keine Magazine mehr, ich höre keine Platten im Plattenladen, ich gehe nicht aus, ich sehe keine Lineups. Ich bin ein uninformierter Musikhörer. Ich habe keinen Überblick, nur guten Geschmack. In diesem Jahr habe ich zu wenig gehört, das es über meine mit Arbeit verklebte Aufmerksamkeitsschwelle geschafft hätte. Ich bin sicher, es gibt mehr und besseres. Es wird mir begegnen, wenn ich aufnahmefähiger bin, weniger Müde und weniger belegt, wenn ich wieder jünger bin, mit anderen Worten.

Interessanterweise sind die wichtigen Platten dieses Jahres allesamt Releases, die lange angekündigt und erwartet waren. Keine erwischte mich zur Unzeit, alle waren adressiert und antizipiert. Sie erfüllten oder übertrafen Erwartungen, weil sie gänzlich neu waren (Darkside) oder weil sie so ideal in die Umstände des Daseins passten (Imhof). Alle Iterationen dieser Liste haben die Eckpunkte meiner ästhetischen und psychologischen Sensibilitäten mehr oder weniger abgedeckt – doch in diesem Jahr scheint mir die Zusammenstellung die Koordinaten meiner Perspektive etwas zu vollkommen zu verbinden: Rohe Gesten der Entschlossenheit, abgeplatzter Grandeur, Terroir, Präzision und Raumbezug.

Was heißt das nun? Ich weiß wer ich bin, ich weiß was ich will, und ich weiß, wo ich es bekomme. Fünf Platten, ein Jahr. Autobahn, Sonne, Haus, a graceful line from A to B.

  • Alva Noto – HYBR:ID I (Noton)

    Das musikalische Werk von Carsten Nicolai hat große Routine erreicht – zuweilen wirkt es wie die Begleiterscheinung seiner künstlerischen Praxis, durchgepauste, verdichtete Takeaways aus Versuchen und Arrangements, vielleicht. Nach dem Abschluss der zentralen Xerrox-Serie (2007 – 2020), dem ziemlichen Floorfiller Unieqav und der auf Albumlänge ausgedehnten Kollaboration mit Anne-James Chaton (Alphabet) nun also das erste Release einer neuen Werkreihe.

    HYBR:ID I erreicht ein neues Niveau mühelosen Refinements. Diese Platte ist ein Stück Handwerk höchster Präzision, hergestellt ohne Veranlassung für Ornament und Originalität – ein Set simple Keramik, ungefärbt, nahtlos ineinander gefügt. Die Meisterschaft seines Urhebers findet sich nicht in der Auführung der Details, sondern in seinen Oberflächen, in seiner Haptik und einer übergeordneten Perspektive, der impliziten, stillen Kritik an allen anderen jemals hergestellten Keramik. To begin with the obsession of originality is an unrefined and rudimentary process, sagt Alvaro Siza, und er hat recht.

    Beim ersten Hören vor wenigen Wochen notierte ich: The pleasant intense clarity of a new Carsten Nicolai record, like cellophane decompressing on asphalt in winter nights. A solemn glistering future to keep you company. At once wet and dry, warm and cold, suspended between there and here. So empfinde ich es weiterhin. Universalmusik.

  • The KVB – Unity (Invada)

    Im vergangenen Jahr nannte ich Of Desire an dieser Stelle, und ich hatte wenig an Begründung vorzubringen als die simple Vorliebe für begrenzte Mittel und die Eigenschaft, mich ohne zumindest den Affekt des Schmerzes an der Welt unwohl zu fühlen. Pop ohne Disziplin und Pop ohne Schmerz sind schwierig, The KVB wissen das, und haben es in Under the Weight ziemlich auf den Punkt gebracht, einem der wichtigeren Songs des Jahres.

    Man hätte also mit Bedenken auf Unity blicken können, das als Konzeptalbum angekündigte Release – wäre sein Sujet nicht so launig und einfach: Es geht um das Projekt der Moderne, wahlweise repräsentiert durch die Unité d’Habitation, die Stratifizierung der Städte oder auch schlagworthaft „Le Corbu“ oder halt gleich „Beton“. Was in anderen1 Händen ein tiefes, schweres Werk geworden wäre, wird bei Kat Day und Nicholas Wood eine Sommerplatte, eine erfolgreiche Suche nach brauchbaren Begriffen und verwertbarer Coolness (siehe Parolen). Das ist gut und richtig und bedeutsam, es ist der Beitrag von Pop zur Welt und auch zu meinem Leben.

    Unbeschwerheit ist mir fremd. Tun was sich gut anfühlt, schien mir schon immer ein schlechtes Kriterium für alles (siehe oben). Aber ich bin fasziniert von der Fähigkeit, der Welt direkt und unbefangen zu begegnen, ihr zu folgen statt sie formen zu wollen. Selbstverständlich ist es saudumm, zum Intro von Unité aus der Tür in der Rua Miraflor in die Sonne zu treten und einige Schritte weiter leise Linear Industrial City/Modern Factory Living mitzusingen, aber es fühlt sich gut an und frei und jung, und wie einige weitere Adjektive mit wenigen Silben. Die Geste ist alles und die Welt nichts, love as defiance. Wenige Musik hat mich von der Schwere der Gedanken und der Schwere der Welt so effektiv getrennt2 wie diese Platte, und das ist etwas wert in diesem Jahr und diesem Universum.

  • Anne Imhof, Eliza Douglas, Billy Bultheel – SEX (PAN)

    Sprechen wir über Musik, deren Gravitation das Jahr geformt hat. Anne Imhof’s zweites Release auf PAN traf mich im richtigen, aufgerauhten Zustand, imstande, das Pastiche ihrer Musik als aufrichtig und ernsthaft anzunehmen, ihren Fragen und ihrer Wut zu folgen.

    Ich bin kein Freund des allzu ausgecheckten Berlin-Balenciaga-Komplexes (ich ging bevor sie kamen, vielleicht war ich niemals da), aber der Musikerin Anne Imhof gebührt Respekt, auf ähnliche Weise wie dem Modedesigner Virgil Abloh Respekt gebührt: Wie hinlänglich besprochen, liegt die Qualität ihrer Arbeit in der Präzision der Moodboards, in der Tightness des Auskennens und dem Katalog der Referenzen. Es geht um Vibes, nicht um die Sache. Das bedeutet nicht zwingend geringere Ernsthaftigkeit oder Verschanzen hinter Ironie, sondern es ist eine Adaption an die Bedingungen der Welt, Grinsen durch zusammengebissene Zähne (Bullshit Song) und tatsächliche Wunden (Marlene, Imhofs Rezitationsstimme ist bemerkenswert) eingeschlossen.

    Billy Bultheels schwerer Barock/Gabber ist das geeignete Material, um der vielschichtig mit Stuck und Saccharin verkleisterten Welt etwas entgegen zu setzen. Die metalgeschulte, theatralische Altstimme von Eliza Douglas fügt sich wunderbar neben den blank polierten Stiefeln ein, wie ein paar zerfetzte Comicleichen und verblichene Schneidezähne auf einem Slayer-Shirt. Das ist alles ein bisschen zu gut, zu schön und zu mehrheitsfähig für uns. Aber trotz aller Referenzen verstehe ich diese Musik als frei von Eskapismus und Ironie. SEX beschreibt was ist, wer wir sind und wo wir sind: Lords of the Fucking Wasteland3. Anne Imhofs Protagonistinnen sind sich ihres monumentalen Momento Mori (Pretty People) schmerzlich bewusst. Für meine Generation war diese Platte, zumal in diesem Jahr, eine Quelle ästhetischer Kontingenzeinsicht: innehalten, zuhören, Weite der Gedanken justieren. Grimmige Dankbarkeit für die fortdauernde Vorhandenheit der überwältigenden Welt empfinden.

  • Messer & Toto Belmont – No Future Dubs (Turnland)

    In Porto las ich Echo, aus der DNA-Reihe des HKW, und vieles kam zusammen: Louis Chude-Sokeis4 exzellenter Text How long is an Echo über musikalische Kulturtechnologien der Diaspora, mein fortdauerndes Interesse an Dub-basierter Musik im Allgemeinen und ihrem meditativen Raumbezug im Speziellen, der Tod von Scratch Perry. Dub verfolgt eigensinnige Ziele ohne Wert und Verbindung, frei von Raum und Zeit – Dub ist der Raum und die Zeit. Nothing from something, something from nothing., schrieb ich im Februar, und am Ende des Jahres bin ich weiterhin fasziniert und umgeben von diesen Themen.

    In meinem Kopf hat das alles nur bedingt mit der Messerplatte zu tun. Das sind weiße Dudes, die sich das Echo einer schwarzen Kulturtechnologie angeeignet haben, über Umwege: No Future Dubs gehört in die Tradition des Blue-Eyed-Dub, also das nachträgliche Veröffentlichen von Dubs und Versions gitarrenbasierter Popmusik – etabliert durch britische Bands wie Human League, The Police, später New Order und die Neubauten5. Eine Kreolisierung, die kommerziell ausgerichtete Popmusik für den weitaus offeneren (und weniger weißen) Dancefloor zerlegt.

    Im Fall von Messer bedeutet das die Exploration dessen, was mit No Future Days begonnen wurde – eine Überführung eines Albums in seinen intendierten Aggregatzustand. Die Eeriness des Originals bleibt präsent, sie gewinnt Raum und Zeit und Masse, in der die allzu westliche Konkretheit der Texte verhallen kann. Unter dem Druck des Dub gewinnen die Tracks an Gewicht, sie werden weniger verständlich und deutlicher spürbar – insbesondere Dyyni und Tape 10 erreichen eine massive Präsenz und Verspultheit. Beide gehören zu den am häufigsten gehörten Tracks meines Jahres, vom Release der Platte bis zum späten Sommer. Auf der Autobahn Richtung Süden notierte ich: A smooth 134, Messer dubs on the radio/This idling in place, this steady forward momentum/Skies fly, towards a future. Von dieser Gruppe ist weiterhin Gutes und Referenzreiches zu erwarten.

  • Darkside – Spiral (Matador)

    This is 2021’s Voyager record. Eine der Handvoll Platten in den letzten zehn Jahren, die die mich vollständig eingenommen haben. Wen gab es da noch – Lee Gamble, My Disco, TRST? Für Wochen war dieses die einzige Musik die ich hören wollte oder konnte, sie sollte meine Kognition färben und meine Welt überwuchern. Ich wollte von ihr lernen, von ihrer krausen Freiheit, der Kunst, Teil des lebenden Planeten zu sein, von ihrer Zurückhaltung, ihrem Rauschen, ihren zirkulären Logiken. Ich spüre die Intensität dieser Auseinandersetzung im Text, den ich im Oktober schrieb. Returning to the Darkside record seems like trying to remember summer, but after comitting to it, Spiral attaches itself effortlessly to the leafy and warm disposition that permeates autumns and winters. Suddenly, it’s world weary music, music of retreat and inwardness, of being home on the road, of journey, of a moment’s ease. This is soil music. It shines in dull gold, unfazed and confident, beautiful and present, and forever etched on it will be every place and the sun and the rocks and me and you and the four of us that spent this time together. We stand and look into our eyes, sure of ourselves and unsure of everything else.

Weitere wichtige und häufig gehörte Alben in diesem Jahr: Pan Daijing – Jade 玉观音6, Emeka Ogboh – Beyond The Yellow Haze, Topdown Dialectiv – Vol. 3, Head High – Mega Trap, Lawrence – Birds on the Playground, Koreless – Agor, Only Now – Captivity, Nov_Sad – ΚΕΡΑΥΝΟΣ, Love-Songs & U. Schütte – Spannende Musik, EQD – Equalized #111, Fatima Al Qadiri – Medival Femme, Mathias Modica presents Kraut Jazz Futurism Vol. 27


  1. Ich denke an Efdemin’s Chicago, die ich bereits im vergangenen Jahr erwähnte, und große Teile des Neubauten-Frühwerks sowie die ersten beiden Supporter-Platten. 

  2. Tiefer unter der Oberfläche mag es auch mit dem Einfluss der Nuller Jahre auf Unity zu tun haben: Lumens und Unbound leben von ziemlichen Killers- und Rakes-Riffs. ich hoffe inständig, dass meine jugendliche Freude darüber nichts mit meinen neuen Jeans und einer beginnenden Lebenskrise zu tun haben. 

  3. Lord of the Fucking Wasteland ist der sehr gute Titel der Gemäldereihe von Eliza Douglas, die sich als Teil von Natures Mortes in der dunkelsten Ecke des tiefsten Untergeschosses des Palais de Tokyo fand. Zerknautschte Metalshirts in Acryl. 

  4. Die Auseinandersetzung mit Chude-Sokei, seiner Arbeit und seinem autobiografischen Roman Floating in a most peculiar Way lohnt sich sehr. Dieser Artikel ist ein guter Anfang. 

  5. Es ist selbstverständlich aber erwähnenswert, dass diese Ideen (wie große Teile britischer Popkultur) unter prägendem Einfluss von Menschen aus den ehemaligen karibischen Kolonien entstanden sind. Ich sagte das schon einmal im Bezug auf Jungle. 

  6. Dieses Album ist fantastisch, und überbordend, überfordernd. Ich habe es nicht zu fassen bekommen, aber es ist bedeutsam und verdient mehr Gedanken und mehr Gefühle. 

  7. Eine bemerkenswerte Compilation, die mich auf Frage nach den Resten der zerstörten mitteleuropäischen Spiritualität und Funkyness aufmerksam gemacht hat. In dieser Musik sind lose Enden, die es sich zu verfolgen lohnt. 

electricgecko – Heroismo 333

Carry the world/Walk the line/To your eventual demise
Where there was none before and there will be none after
(Rua Heroismo 333)

Der Aufzug ist verspiegelt, auch Decke und Boden. Türen öffnen sich in Zeitlupe, die Suite breitet sich aus. Keine Möbel. Sitzgelegenheiten, Flächen und Regale sind Teil der Raumes, der über verschiedene Ebenen um ein zentrales Atrium geflossen zu sein scheint. Alle horizontalen Kanten sind abgerundet, Intarsien in allen Flächen sind mit honigfarbenem Kunstleder bezogen. Warm Leatherette, gedämpftes Licht, weißes Furnier, dunkler Teppich. Niemand war je hier, nur die Reinungsfirma. Alles ist klinisch sauber.

Wenige Schritte bis zur Bar. Sie öffnet sich lautlos, vermutlich hydraulisch. Elaborierte Patisserie mit lackierten Oberflächen ist einzeln in Plastikfolie verpackt und fünfundvierzig Grad ausgerichtet. Rechts im Atrium: Lilien, violettes Licht. Links führt eine Treppe ohne Geländer auf das Mezzanin. Oben ist neben der Sofalandschaft eine Musikanlage in der Wand verbaut. Das Tray des vertikal eingebauten CD-Players öffnet sich: Jennifer Cardini – Tuesday Paranoia.

  • Christophe Laudamiel – Club Design, 60ml Parfum1. The Zoo, 2016.

  1. Dieser Text ist ein Versuch, die wunderbaren Rezensionen der Publikation Perfume Area von Sydney Shen und Laurel Schwulst nachzuahmen. 

Ich begann diesen Text im Februar, dann geschah vieles. Auf der anderen Seite dieses Jahres fällt er mir in die Hände, und mit ihm Beyond the Yellow Haze, die Assemblage von Beats und Field Recordings von Emeka Ogboh, die das beginnende Jahr geprägt hat. Das Album wird auf der Liste der fünf wichtigsten Platten fehlen, die länger blieben und tiefere Gräben hinterließen. Aber auch von Dezember aus betrachtet: die Geografie von 2021 ist unvollständig ohne dieses Release.

Der Beginn ist eine Ankunft, das Heraustreten auf der anderen Seite. Die Luft ist anders und das Licht ist anders, ein Korridor. Unter den Füßen knirscht der Sand des letzten Jahres, ab hier breitet sich eine neue Umgebung aus, eine Stadt, ein Land, ein Kontinent. Aus dem schweren Groove des zentralen (und ersten) Tracks – Lekki Aiah Freeway – schält sich der Verkehr, zugleich Momentum und endloses Rangieren, ein Sprawl aus Motoren und Stimmen, der das Album bestimmt. Beyond the Yellow Haze ist Verortung und Orientierung, ein Marker, Psychogeografie, ein persönliches Jetzt und Hier, und damit vor allem eine Einsicht in die Kontingenz der Welt, zumal für den kolonialistisch sozialisierten Teil der Hörerinnen und Hörer.

Damit ist nicht alles gesagt. Jenseits dieser Geografie entwickelt Emeka Ogboh in viereinhalb Tracks eine komplexe Soundoberfläche, in der auch nach Wochen neue Details zu finden sind. Mikroarrangements, Sounds, Loops aus Stimmen und Abgasen, perkussive Hooks und Brücken, nichts nimmt ein Ende, alles mündet in konzentrischer Wiederholung, in einem kreisenden quasi-Dub. Es ist die adäquate Form, um über die Unendlichkeit und Unfassbarkeit der Welt zu sprechen1.

Beyond the Yellow Haze ist auf faszinierende Weise zugleich reduktiv und detailliert, ein Portal, eine Öffnung, eine Quelle, ein Ausweg aus dem Alten.


  1. In diesem Kontext: Christianity has developed a very linear, one-way sense of timing and history. (…) Asians do not have a linear historical view. (…) Instead, time is a constant cycling., as in agriculture., Ryuichi Sakamoto in Real Review 9