Ich lese keine Magazine mehr, ich höre keine Platten im Plattenladen, ich gehe nicht aus, ich sehe keine Lineups. Ich bin ein uninformierter Musikhörer. Ich habe keinen Überblick, nur guten Geschmack. In diesem Jahr habe ich zu wenig gehört, das es über meine mit Arbeit verklebte Aufmerksamkeitsschwelle geschafft hätte. Ich bin sicher, es gibt mehr und besseres. Es wird mir begegnen, wenn ich aufnahmefähiger bin, weniger Müde und weniger belegt, wenn ich wieder jünger bin, mit anderen Worten.
Interessanterweise sind die wichtigen Platten dieses Jahres allesamt Releases, die lange angekündigt und erwartet waren. Keine erwischte mich zur Unzeit, alle waren adressiert und antizipiert. Sie erfüllten oder übertrafen Erwartungen, weil sie gänzlich neu waren (Darkside) oder weil sie so ideal in die Umstände des Daseins passten (Imhof). Alle Iterationen dieser Liste haben die Eckpunkte meiner ästhetischen und psychologischen Sensibilitäten mehr oder weniger abgedeckt – doch in diesem Jahr scheint mir die Zusammenstellung die Koordinaten meiner Perspektive etwas zu vollkommen zu verbinden: Rohe Gesten der Entschlossenheit, abgeplatzter Grandeur, Terroir, Präzision und Raumbezug.
Was heißt das nun? Ich weiß wer ich bin, ich weiß was ich will, und ich weiß, wo ich es bekomme. Fünf Platten, ein Jahr. Autobahn, Sonne, Haus, a graceful line from A to B.
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Alva Noto – HYBR:ID I (Noton)
Das musikalische Werk von Carsten Nicolai hat große Routine erreicht – zuweilen wirkt es wie die Begleiterscheinung seiner künstlerischen Praxis, durchgepauste, verdichtete Takeaways aus Versuchen und Arrangements, vielleicht. Nach dem Abschluss der zentralen Xerrox-Serie (2007 – 2020), dem ziemlichen Floorfiller Unieqav und der auf Albumlänge ausgedehnten Kollaboration mit Anne-James Chaton (Alphabet) nun also das erste Release einer neuen Werkreihe.
HYBR:ID I erreicht ein neues Niveau mühelosen Refinements. Diese Platte ist ein Stück Handwerk höchster Präzision, hergestellt ohne Veranlassung für Ornament und Originalität – ein Set simple Keramik, ungefärbt, nahtlos ineinander gefügt. Die Meisterschaft seines Urhebers findet sich nicht in der Auführung der Details, sondern in seinen Oberflächen, in seiner Haptik und einer übergeordneten Perspektive, der impliziten, stillen Kritik an allen anderen jemals hergestellten Keramik. To begin with the obsession of originality is an unrefined and rudimentary process
, sagt Alvaro Siza, und er hat recht.
Beim ersten Hören vor wenigen Wochen notierte ich: The pleasant intense clarity of a new Carsten Nicolai record, like cellophane decompressing on asphalt in winter nights. A solemn glistering future to keep you company. At once wet and dry, warm and cold, suspended between there and here. So empfinde ich es weiterhin. Universalmusik.
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The KVB – Unity (Invada)
Im vergangenen Jahr nannte ich Of Desire an dieser Stelle, und ich hatte wenig an Begründung vorzubringen als die simple Vorliebe für begrenzte Mittel und die Eigenschaft, mich ohne zumindest den Affekt des Schmerzes an der Welt unwohl zu fühlen. Pop ohne Disziplin und Pop ohne Schmerz sind schwierig, The KVB wissen das, und haben es in Under the Weight ziemlich auf den Punkt gebracht, einem der wichtigeren Songs des Jahres.
Man hätte also mit Bedenken auf Unity blicken können, das als Konzeptalbum angekündigte Release – wäre sein Sujet nicht so launig und einfach: Es geht um das Projekt der Moderne, wahlweise repräsentiert durch die Unité d’Habitation, die Stratifizierung der Städte oder auch schlagworthaft „Le Corbu“ oder halt gleich „Beton“. Was in anderen1 Händen ein tiefes, schweres Werk geworden wäre, wird bei Kat Day und Nicholas Wood eine Sommerplatte, eine erfolgreiche Suche nach brauchbaren Begriffen und verwertbarer Coolness (siehe Parolen). Das ist gut und richtig und bedeutsam, es ist der Beitrag von Pop zur Welt und auch zu meinem Leben.
Unbeschwerheit ist mir fremd. Tun was sich gut anfühlt, schien mir schon immer ein schlechtes Kriterium für alles (siehe oben). Aber ich bin fasziniert von der Fähigkeit, der Welt direkt und unbefangen zu begegnen, ihr zu folgen statt sie formen zu wollen. Selbstverständlich ist es saudumm, zum Intro von Unité aus der Tür in der Rua Miraflor in die Sonne zu treten und einige Schritte weiter leise Linear Industrial City/Modern Factory Living mitzusingen, aber es fühlt sich gut an und frei und jung, und wie einige weitere Adjektive mit wenigen Silben. Die Geste ist alles und die Welt nichts, love as defiance. Wenige Musik hat mich von der Schwere der Gedanken und der Schwere der Welt so effektiv getrennt2 wie diese Platte, und das ist etwas wert in diesem Jahr und diesem Universum.
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Anne Imhof, Eliza Douglas, Billy Bultheel – SEX (PAN)
Sprechen wir über Musik, deren Gravitation das Jahr geformt hat. Anne Imhof’s zweites Release auf PAN traf mich im richtigen, aufgerauhten Zustand, imstande, das Pastiche ihrer Musik als aufrichtig und ernsthaft anzunehmen, ihren Fragen und ihrer Wut zu folgen.
Ich bin kein Freund des allzu ausgecheckten Berlin-Balenciaga-Komplexes (ich ging bevor sie kamen, vielleicht war ich niemals da), aber der Musikerin Anne Imhof gebührt Respekt, auf ähnliche Weise wie dem Modedesigner Virgil Abloh Respekt gebührt: Wie hinlänglich besprochen, liegt die Qualität ihrer Arbeit in der Präzision der Moodboards, in der Tightness des Auskennens und dem Katalog der Referenzen. Es geht um Vibes, nicht um die Sache. Das bedeutet nicht zwingend geringere Ernsthaftigkeit oder Verschanzen hinter Ironie, sondern es ist eine Adaption an die Bedingungen der Welt, Grinsen durch zusammengebissene Zähne (Bullshit Song) und tatsächliche Wunden (Marlene, Imhofs Rezitationsstimme ist bemerkenswert) eingeschlossen.
Billy Bultheels schwerer Barock/Gabber ist das geeignete Material, um der vielschichtig mit Stuck und Saccharin verkleisterten Welt etwas entgegen zu setzen. Die metalgeschulte, theatralische Altstimme von Eliza Douglas fügt sich wunderbar neben den blank polierten Stiefeln ein, wie ein paar zerfetzte Comicleichen und verblichene Schneidezähne auf einem Slayer-Shirt. Das ist alles ein bisschen zu gut, zu schön und zu mehrheitsfähig für uns. Aber trotz aller Referenzen verstehe ich diese Musik als frei von Eskapismus und Ironie. SEX beschreibt was ist, wer wir sind und wo wir sind: Lords of the Fucking Wasteland3. Anne Imhofs Protagonistinnen sind sich ihres monumentalen Momento Mori (Pretty People) schmerzlich bewusst. Für meine Generation war diese Platte, zumal in diesem Jahr, eine Quelle ästhetischer Kontingenzeinsicht: innehalten, zuhören, Weite der Gedanken justieren. Grimmige Dankbarkeit für die fortdauernde Vorhandenheit der überwältigenden Welt empfinden.
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Messer & Toto Belmont – No Future Dubs (Turnland)
In Porto las ich Echo, aus der DNA-Reihe des HKW, und vieles kam zusammen: Louis Chude-Sokeis4 exzellenter Text How long is an Echo über musikalische Kulturtechnologien der Diaspora, mein fortdauerndes Interesse an Dub-basierter Musik im Allgemeinen und ihrem meditativen Raumbezug im Speziellen, der Tod von Scratch Perry. Dub verfolgt eigensinnige Ziele ohne Wert und Verbindung, frei von Raum und Zeit – Dub ist der Raum und die Zeit. Nothing from something, something from nothing.
, schrieb ich im Februar, und am Ende des Jahres bin ich weiterhin fasziniert und umgeben von diesen Themen.
In meinem Kopf hat das alles nur bedingt mit der Messerplatte zu tun. Das sind weiße Dudes, die sich das Echo einer schwarzen Kulturtechnologie angeeignet haben, über Umwege: No Future Dubs gehört in die Tradition des Blue-Eyed-Dub, also das nachträgliche Veröffentlichen von Dubs und Versions gitarrenbasierter Popmusik – etabliert durch britische Bands wie Human League, The Police, später New Order und die Neubauten5. Eine Kreolisierung, die kommerziell ausgerichtete Popmusik für den weitaus offeneren (und weniger weißen) Dancefloor zerlegt.
Im Fall von Messer bedeutet das die Exploration dessen, was mit No Future Days begonnen wurde – eine Überführung eines Albums in seinen intendierten Aggregatzustand. Die Eeriness des Originals bleibt präsent, sie gewinnt Raum und Zeit und Masse, in der die allzu westliche Konkretheit der Texte verhallen kann. Unter dem Druck des Dub gewinnen die Tracks an Gewicht, sie werden weniger verständlich und deutlicher spürbar – insbesondere Dyyni und Tape 10 erreichen eine massive Präsenz und Verspultheit. Beide gehören zu den am häufigsten gehörten Tracks meines Jahres, vom Release der Platte bis zum späten Sommer. Auf der Autobahn Richtung Süden notierte ich: A smooth 134, Messer dubs on the radio/This idling in place, this steady forward momentum/Skies fly, towards a future. Von dieser Gruppe ist weiterhin Gutes und Referenzreiches zu erwarten.
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Darkside – Spiral (Matador)
This is 2021’s Voyager record. Eine der Handvoll Platten in den letzten zehn Jahren, die die mich vollständig eingenommen haben. Wen gab es da noch – Lee Gamble, My Disco, TRST? Für Wochen war dieses die einzige Musik die ich hören wollte oder konnte, sie sollte meine Kognition färben und meine Welt überwuchern. Ich wollte von ihr lernen, von ihrer krausen Freiheit, der Kunst, Teil des lebenden Planeten zu sein, von ihrer Zurückhaltung, ihrem Rauschen, ihren zirkulären Logiken. Ich spüre die Intensität dieser Auseinandersetzung im Text, den ich im Oktober schrieb. Returning to the Darkside record seems like trying to remember summer, but after comitting to it, Spiral attaches itself effortlessly to the leafy and warm disposition that permeates autumns and winters. Suddenly, it’s world weary music, music of retreat and inwardness, of being home on the road, of journey, of a moment’s ease. This is soil music. It shines in dull gold, unfazed and confident, beautiful and present, and forever etched on it will be every place and the sun and the rocks and me and you and the four of us that spent this time together. We stand and look into our eyes, sure of ourselves and unsure of everything else.