electricgecko

Neue Kommunikation

2019 war das erste Jahr ohne die gedruckte Spex, also die Publikation, die (neben De:Bug und The Wire) meinen Zugang zu Musik wesentlich geprägt hat. Eigentlich nicht den Zugang, eher die Art, über Musik nachzudenken, darüber zu sprechen und zu schreiben. Über Musik schreiben, nicht um sie zu kritisieren oder öffentlich gut zu finden. Über Musik schreiben als Auseinandersetzung mit der Art, wie sie in die Welt und die eigene Psychologie passt. Darüber, was Musik empfindbar macht, also darüber, was Musik in der inneren Welt hervorbringt. Auf diese Weise über Musik zu schreiben, hat eine gewisse therapeutische Qualität. Über Musik schreiben ist auch immer: Die eigene Mythologie schreiben, eine Welt erfinden und dann darin leben.

Das Format der Fünf Alben des Jahres ist beliebig, inadäquat und überholt. Auf diese Weise vermeintliche Struktur schaffen zu wollen, ist müßig. Ich tue es weiterhin, weil es mir die Möglichkeit gibt, ein Jahr zu erinnern, anhand der Dinge, die wirklich zählen, eben weil sie keine Dinge, Momente, Tage oder sonstige Gegenstände sind. Sondern Prozesse, Loops, Echos, Perspektiven und Atmosphären, die nicht stattfinden, wenn Musik nicht stattfindet. Das Jahr ist nicht passiert ohne Musik, und es wird nicht erinnert ohne Musik.

Dies sind die fünf Alben, an denen sich kristallisiert, was ich in Zukunft 2019 nennen werde. Wie kann man das erklären, wer soll das lesen, wo soll das vorkommen? Danke, Spex.

  • Alva Noto + Anne-James Chaton – Alphabet (Noton)

    Meine kognitive und psychologische Fixierung auf die Wahrnehmung von Räumen im Allgemeinen und ihrer Atmosphäre im Speziellen sind wiederkehrende Motive dieser Texte. Es ist also wenig überraschend, dass ich in Musik raumhafte Qualitäten zu erkennen glaube und versuche, sie mit entsprechenden Begriffen und Perspektiven zu beschreiben. Es mögen False Positives sein, oder eine leichte Form pathologischer Synesthäsie. Im Fall dieser ersten gemeinsamen LP von Alva Noto und Anne-James Chaton erscheinen sie mir durchaus geeignet.

    Wie wenige andere Musikerinnen und Musiker ist Alva Noto in der Lage, Qualitäten von Raum-Atmosphären1 in seinen Tracks zu sammeln. Alphabet definiert eine psychologische Architektur mit der klaren Regelmäßigkeit eines Echolots – dass dabei die emotional empfundene Atmosphäre eine zentrale Rolle spielt, ist selbstverständlich (wenn auch für begrenzt empfindsame Hörer nicht immer evident). Alphabet ist eine angenehm temperierte Halle im grauen Vakuum einer imaginären CAD-Software. Anne-James Chaton schreitet diesen gezeichneten Raum beharrlich ab, auf geradezu konzentrische Weise. Eine Platte wie ein forschendes Gedicht, gleichermaßen geschlossen wie offen, white stasis, ein Refugium des späten Jahres 2019.

  • Shed – Oderbruch (Ostgut)

    Am Ende des Jahres bin ich, wo es begonnen hat: In Ruhe im Momentum. Der Thalys jagt über flandrische Felder, Wolken, Horizont. Ich spüre die Last des Jahres hinter mir, den Raum zwischen jedem Gedanken. Shed hat Anteil an Empfindungen wie diesen. Seit Shedding the Past setzen sich seine LPs mit einer spezifisch hochfrequenten Form der Stasis auseinander, in Ruhe, voller Energie. Waren es in den vorigen Alben in erster Linie die emotionalen und architektonischen Konstellationen der Städte, verlegt Oderbruch dieses Arrangement in die in Auflösung begriffene Natur, weist nach draußen, auf die Möglichkeit, inne zu halten. Die Motive sind vertraut: Lere als tragende Form, Rave-Introspektion, die Wiederholung, alles Sein ist eine bewegte, sich ununterbrochen verändernde Realität, Hineinziehen und Entfalten2.

    Ich bin nicht gut darin, Freiräume zu finden und sie zu schützen, in diesem Jahr weniger als in denen zuvor. Oderbruch ist ein Wegweiser, eine Art wie es gelingen kann, von der manischen Kognition, dem Hyperbewusstsein zurückzutreten. Vor einigen Wochen schrieb ich über das Innere, das in der Welt verdampft, ein ruhiger Gedanke, der unmittelbar aus B1 (Anfang und Ende) folgt, einem der Tracks des Jahres 2019. Leere, Ruhe, Momentum.

  • Rainer Veil – Vanity (Modern Love)

    Vanity erschien im Mai dieses Jahres. Mit dem Moment, in die LP auf dem Speicher meines Telefons ankam, schien sie dort bereits lange zuvor vorhanden gewesen zu sein. Es ist faszinierende Universalmusik, die sich trotz ihrer atmosphärischen Varianz in jeden Ort und jede Zeit dieses Jahres einfügte. Auf seiner ersten LP hat das Duo zu einer ruhigen, introspektiven Eigensinnigkeit gefunden. Die architektonischen Referenzen sind nun nuancierter als es noch auf New Brutalism (q.e.d.) der Fall war – das Zerlegen, Evaluieren, Re-Mixen und Re-Konstruieren des eigenen Materials (Third Sync, In Gold Mills) spielt auf Vanity eine große Rolle.

    Es führt Rainer Veil zu neuen Formen der Einheit von Leere und Raum im Sound. Es sind Intervalle, in denen sich empfinden und denken lässt: Etwa in der evokativen Texture von Gauze, einem der größten Hits und am häufigsten gehörten Tracks des Jahres. Oder in Elements – Musik, die Konzentration und Würde an jedem Platz in jedem Raum möglich macht. Konzentrierte, nach Innen gerichtete Musik, eine Art Audio-Eigengrau, not intricate but textural, schrieb ich im Sommer. Ein Album für dieses und die nächsten Jahre.

  • The Aim Of Design is to Define Space – Clean Bible, Dirty Christ EP (Monkeytown)

    Ich/Okay machine/Berlin burnout queen. The Aim of Design is to Define Space verschwinden im Nebel der Volksbühne und sind fortan nicht präsent in den 2010er Jahren, also nicht präsent in der Stadt, die Berlin heißt, es aber nicht mehr ist. Doch die 2010er enden nicht, ohne dass diese Gruppe, die Chronisten der richtigen Dinge, auftritt und das Wichtige sagt, wie gesagt. Letzlich sind es auch auf Clean Bible, Dirty Christ die Schönheit des Vokabulars3 und die Präzision der zusammensortierten Referenzen4, also wesentliche Aim-Sachen, die meine Erinnerung an das Jahr 2019 mit diesem Platte gewordenen Monolog verbinden werden.

    Das ist die richtige Message auf die richtige Weise. Es ist klug und es ist schön und es gibt aufs Maul. Das ist es, glaube ich: da ist zu wenig Auf-die-Fresse-Klugheit. Die Klugen zweifeln, statt auszuteilen, und die hören Nils Frahm und nerven fast so sehr wie die Idioten. Warum kann nicht alles so cool sein, schrieb ich Hannes über diese EP irgendwann kurz vor dem Konzert im SO36, und das ist meine Meinung. Musik über den Schmerz des Verlierers der Jugend, der Stadt, der Welt. Ende des Jahrs, Ende der Dekade, immer noch hier, raus raus.

  • Boy Harsher – Country Girl EP (Ascetic House)

    Schließlich: bei aller Tiefe und Bedeutsamkeit der Musik dieses Jahres, bei aller Komplexität und Raumwahrnehmung, Technohalluzination, Welterfindung, die ganze angriffslustige Freude an Auseinandersetzung – gegen die exzeptionell gut gemachten Wave-Repliken von Boy Harsher war ich machtlos. Meiner Lust an brachial doofer Affirmation habe ich weiterhin wenig entgegen zu setzen.

    Ich habe die Diskographie dieser Gruppe 2019 häufiger gehört als jede andere Musik. Die ausgedachte Düsternis (Yr Body is nothing), die viel zu gut programmierten Quincy-Jones-Basslines (Morphine, vermutlich der beste Popsong, den ich in diesem Jahr gehört habe), die arg übersexte Stimme von Jae Matthews (Westerners), all der Hall auf allem, das ewige cinematische Autogefahre (Run), der schwarze Sonnenschein – es macht schlicht zu großen Spaß. In dieser Hinsicht verhalten sich Boy Harsher zu den tatsächlichen Protagonistinnen und Protagonisten der eurozentrierten Synthwaveszene der frühen 1980er Jahre wie die inzwischen sprichwörtlichen Buzz-Rickson-Repliken zu den echten Fliegerjacken, die in 1950er Jahren in Japan verblieben: Das ist alles viel besser und auch darum kein bisschen so bedeutsam wie die Originale.

    Aber: Ich weiß nicht, wie viele Male ich in diesem Jahr zu dieser Musik Code schrieb, durch die Nacht nach Hause ging, gute Ideen hatte, aufgeben musste. The life needs to be lived, notierte ich im September in München. Das ist nicht leicht zu sehen, zumindest nicht für mich. Boy Harsher versetzen mich in eine Stimmung, in der ich dazu in der Lage bin. Beach Goth for life.

Weiterhin bedeutungsvoll, häufig gehört und hängen geblieben: TR/ST – The Destroyer 1&25, Messer – Anorak 7″, Pessimist – s/t, Wax – 70007, Demdike Stare – Passion, Topdown Dialectic – Vol. 2, Galcher Lustwerk – Information, Belgrad – s/t, Martyn – Odds against us, Hiro Kone – A Fossil begins to Bray, Pom Pom – Untitled (2019)


  1. Halbwegs nach Zumthor: Dimensionen und Materialien, Licht, Luft und Klang. 

  2. Aus einem Gespräch mit Yagasaki Zentarō, aus der exzellenten Interviewsammlung Die Lehre des Gartens

  3. Meine Überzeugung, dass es wichtiger ist, wie die Dinge gesagt werden als was gesagt wird, führt nicht selten zu Missverständnissen. Mit Einerseits völlig normal/andererseits a fucking tragedy ist wirklich restlos alles erklärt bevor die Worte überhaupt im Gehirn angekommen sind. Ich verdanke dieser Sprache viel, emotional und für’s große, ganze Weltverstehen. 

  4. Und – echt – die Melancholie der Standorte

  5. Music to dance and cry to. Wichtig und schön, aber leider auf Albumlänge nicht auf dem Niveau des ersten Albums

Dezember

Dies ist ein Text aus dem Dezember 2019. Verschlagwortet unter: . Kopie aus dem Textdokument 2019.txt, das meine Notizen dieses Jahres enthält, vermischt mit Zitaten, Verweisen, noch zu lesenden und zu sehenden Dingen und den Sedimenten des Alltags.

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