Welterfinden
Auseinandersetzung mit Musik ist etwas anderes als Musik hören. Musik muss natürlich gehört werden. Aber sinnliches wie intellektuelles Verständnis herstellen, Musik anwenden auf sich selbst und alles, das sind eigenständige Tätigkeiten.
Wie viele Dinge beginnt meine Faszination für eine Musik mit Codierungen, Verweisen auf eine Weltperspektive oder ein größeres ästhetisches System. Ich bleibe hängen, und das ist ein entscheidender Moment, der Anfang eines Gedankens. Habe ich Zeit, ihn zu verfolgen, zwischen zwei Haltestellen einige Zeichen in die dunkle Monospacewelt von IA Writer zu notieren, dann ist etwas gewonnen: eine Welt, eine Quelle für Neues.
Ich habe dieser Art der Auseinandersetzung mit Musik Zeit und Raum gegeben, in diesem Jahr. Eine Nacht im Schreibzimmer in Porto, ein langer Spaziergang am Kanal in die Wildenbruchstraße. Ich bin dankbar für die unendliche Menge großartiger Haltungen, Styles und Perspektiven und dankbar für die Fähigkeit, etwas vorfinden und erfinden zu können, in den Welten anderer. Fünf Platten, die mir 2018 wichtig waren.
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Topdown Dialectic – 20170804 (/\\Aught)
Mit der Musik von Topdown Dialectic habe ich die Entsprechung einer Stimmung entdeckt, die ich zuvor allenfalls mit architektonischen Kriterien hätte beschreiben können: Ein ruhiger, heller, angenehm aufgerauhter Sinneszustand, einhergehend mit großer Neugier auf Komplexes – und dem Wunsch, sich etwas einfallen zu lassen.
Wie mit keiner anderen Musik assoziere ich diese verspielte Angriffslustigkeit des Intellekts mit 20170804 – wie im März gesagt, weniger eine Platte als die Momentaufnahme eines großen Arrangement aus Loops und Cuts:
Ihre hellgraue Körperlosigkeit erreicht nie das hier, den Vordergrund, sie bleiben im dort, eine architektonisch zu spürende Abstraktion, Musik als Infrastruktur.
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Joey Bada$$ – Summer Knights (Cinematic Music Group)
Ich erinnere mich, an den Spreebrücken an der Friedrichstraße gestanden zu haben, auf die untergehende Sonne hinter dem Berliner Ensemble wartend. Einmal in den frühen Zweitausendern und einmal 2018. In diesem Jahr hörte ich 95′ till Infinity und Death of YOLO, also ein Tape von 2013 im Rückgriff auf 1996, und diese ganze wahnsinnige Weltkomplexität erschien mir sinnvoll. Ich habe meine Jugend mit dieser Art Hip Hop verbracht. Er hat mich nie verlassen. Ich bin mir nicht sicher, ob es Joey Bada$$‘ wundervolle Stimme ist, sein zugleich smoother und rauer Flow oder seine Fähigkeit zu echtem Pop1 – wenn ein Kid aus einer anderen Welt mit Flow und Attitüde sein Leben derart zwingend erzählt, dann denke ich nicht, sondern höre zu. Die Unmittelbarkeit und Vielfalt von Summer Knights, der Rudeboy Skank von My Yout, sie waren untrennbar mit den guten Tagen im frühen Sommer dieses Jahres verbunden.
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Alva Noto – Unieqav (Noton)
Es vergeht selten eine Woche, in der ich keine Musik von Carsten Nicolai alias Alva Noto höre. Die konzentrierte Stimmung, die große Ruhe, die Verdichtung des Minimalen zum Monumentalen in seinen Releases sind Konstanten, an denen ich mich orientiere. In diesem Jahr war UNIEQAV (nach UNITXT und UNIVRS der dritte Teil der Uni-Trilogie) ein Höhepunkt und ein Endpunkt dieser Form der Verdichtung. Elektronische Popmusik, die emotionalen und intellektuelle Räume schafft, in denen ich denken und empfinden kann. Musik zum Verlassen der U-Bahn, für den Weg die Treppen am Nollendorfplatz hinab, für die verschwimmenden Lichter nebelfeuchter Nacht. UNIEQAV, das sind natürlich alles Hits, der Welt fern und dem kollektiven Inneren nah. Ein weiteres, essentielles Album, eine weitere Konstante im zeitlosen Raum2.
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Xmal Deutschland – Fetisch (4AD)
Diese erste Platte3 von Xmal Deutschland ist in vieler Hinsicht das prägende Album des Jahres, 35 Jahre nach ihrer Veröffentlichung. Die antiaffirmative und zugleich ästhetisierte Gothgrundhaltung der frühen 1980er liegt mir nah. Niemand sollte dauernd lächeln müssen; wer denken und fühlen kann, ist verletzt von der Welt, eine eigene muss her. Fetisch ist die Erfindung dieser eigenen Welt mit groben Mitteln,
ein Powermove, ein Manifest dafür, innere Fragilität nicht als Hinderung, sondern als etwas zu schützendes zu begreifen.
Dieser Gedanke ist einfach, schön und richtig. Diese Musik ist eine Lektion darin, wie man dem Draußen mit Würde und Haltung begegnet. Seit ich mich im Januar eingehender mit Xmal Deutschland befasste, war ich zwölf Monate lang immer wieder dankbar, dieses Album hören und mich an der Fierceness dieser Frauen aus dem Hamburg einer anderen Zeit orientieren zu können.
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Clouds – Heavy the Eclipse (Electric Deluxe)
So wichtig Fetisch mir in diesem Jahr war – Heavy the Eclipse erscheint mir im Rückblick wie die gegewärtigere (und darum zwingendere) Fortsetzung ähnlicher Gedanken. Clouds verlegen sie in ein anderes Genre (UK Hardcore), unter Verwendung der musikalischen und technischen Mittel dieses Jahres (2018). Auch hier geht es ums Welterfinden, darum, einen gesamtästhetischen Vorschlag zu machen. Neurealm ist dieser Vorschlag.
Die Tracks auf Heavy the Eclipse sind Fragmente, die aus einer vollständig eingerichteten Welt gegriffen scheinen. Sie sind so stark, so verdichtet und hinreichend voller Fragen, dass sich aus jedem die Gesamtheit jener Welt herausklonen ließe. Skulcoast und Onslaught Ash Krew sind geradezu cinematisch in ihrer ästhetischen Qualität, ihre Informationstiefe spürbar in jeder Sekunde. Das ist massive Musik, Quelle von Intensität und neuer Ideen zu einer Zeit, in der wir beides dringend brauchen. Ein singuläres Album einer kontigenten Gegenwart.
I think this whole idea of creating a universe, and then living in the middle of it always attracted me.
Auch wichtig und häufig gehört: Heathered Pearls – Detroit, MI 1997—2001 Remixes, Felix K, Marcel Dettmann, Sa Pa & Simon Hoffmann – Rauch, Zuli – Terminal, Front 242 – Back Catalogue, Warsaw – Warsaw, Shed – No Repress but Warehouse Find EP, Sisters of Mercy – Some Girls wander by Mistake, Pom Pom – Untitled, Yan Cook – Dead Satellite
Im Sinne des großen universellen Kunst/Leben-Moments affirmativer Musik, nicht im Sinne der Marktgesetzoffensichtlichkeiten aktueller Protagonisten. ↩
Es gibt übrigens einen sehr guten Mitschnitt der Finissage der Carsten-Nicolai-Ausstellung in der Copenhagen Contemporary von 2016. Ein ähnlich herausragendes Set sah ich mit Hannes beim Sonar Festival, eine meiner liebsten Erinnerungen aus jenem Jahr. ↩
Das erste Release ist wirklich, ohne Ausnahme, immer das beste: Die konzentrierte Inkarnation einer Idee, entbehrungsreich oder nachlässig hergestellt, ohne dass sonst etwas notwendig wäre. Die erste Platte ist ein Moment der Klarheit, Begrenztheit und Intensität. ↩