Der Lange Sommer
Dieses Jahr war Zeit für Musik. Nach den vergessenen, überarbeiteten Jahren zu Beginn der Dekade war 2022 hell und weit, es begann früh und blieb offen, wie ein langer wacher Sommer. Ich konnte Musik aufmerksam hören, selten fand ich mich in Situationen, in denen ich sie benutzen musste – und wenn, dann tat ich es mit der Lust, das Bewusstsein zu verlieren (SPFDJ, give me strength). Das war eine Entscheidung und ein Bruch.
Meine Aufmerksamkeit und Begeisterungsfähigkeit für Details in Musik war wieder präsent, die Freude über wilde Entschlossenheit und kluge Ideen: Manchmal bin ich so hingerissen, dass mein Glaube an Schönheit und Würde für einen Moment wieder hergestellt ist1. Diese Quelle von Optimismus wurde mir in diesem Jahr wieder bewusst. Ich wollte bewegt werden, ich wurde bewegt, und Musik war die Richtung.
Wenn ich diese fünf Releases betrachte, scheinen sie mir universell, wenig gebunden an Erfahrungen oder Orte. Was ich gehört habe, habe ich dauernd gehört. Keine dieser Platten ragt heraus, wie es Darkside’s Spiral im vergangenen Jahr tat. Diese Platten sind abstrakt, vielschichtig und deep, sie eint eine gewisse Ruhe. Wenige Freakouts, keine Gitarren, keine großen Gesten und kein Geschrei. Vielleicht bin ich da etwas auf der Spur, vielleicht habe ich mich weniger an der Welt gerieben, weniger von mir vebraucht als ich gewonnen habe. Das wäre neu und gut, und vielleicht ist das die Richtung des vierten Jahrzehnts.
Listen to the few that understand rationality and poetry alike, who cannot fathom difference between knowing and making, able to create the world by speaking it. The ones that act and think in silence, obscured and friends with shadows and birds and moss, disconnected as in free.
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Strategy – Unexplained Sky Burners (Peak Oil)
Bevor es wirklich Sommer wurde in diesem Jahr, saß ich im Sand am Atlantik. Wir waren weit gegangen, wir hatten die Raffinerie hinter uns gelassen, wir hatten wenig mitgebracht. Wir ließen uns nahe des Obelisken nieder und besprachen den Zustand der Welt, und wie in Zukunft Umgang mit ihr zu finden sei. Mitten im Satz springe ich auf und renne, einer plötzlichen Sucht nach Intensität folgend, auf das kalte Meer zu. Die wenigen Sekunden, die ich brauche, kann ich den Moment des Eintauchens, des Auflösens im Salzwasser nicht erwarten, das kinetische und körperliche Außufern. Ich werfe mich in das Meer und in den Sand, und ich werfe mich in die Welt. Ein Mikroexzess, zu subtil und merkwürdig als dass er für die meisten erkennbar wäre.
Unexplained Sky Burners zu hören, ist wie ein Bruchteil von Momenten wie diesem. Diese Tracks sagen nichts, und es gibt nichts über sie zu sagen2, hier ist nichts zu lesen, nur alles zu fühlen: Das encodieren und decodieren ist zeitweise ausgesetzt, Sprache hört auf, ein Bruch, ein Verglühen des sonst immer vorhandenen. Die Bedeutung dieses Albums für dieses Jahr liegt in seiner Sprachlosigkeit, und darin, wie es mich aus allem herauszuziehen in der Lage ist. Es erklärt nichts. Es ermöglicht neues Handeln.
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Jamal Moss – Thanks 4 the Tracks you Lost (Modern Love)
Es war ein Jahr auf der Suche nach Alternativen, der aufregenden Frage, was auf der anderen Seite der Kontingenz liegen möge. Wohin ginge all die Energie, wäre sie frei, sich in alle Richtungen auszudehnen? Thanks 4 the Tracks you Lost mag eine der Antworten auf diese Frage sein. Die sechs verlorenen Tracks sind keine EP, eher ein kurzes Best-of aus dem ausufernden Katalog von Jamal Moss3, ausgewählt von Modern Love und bei der Gelegenheit mit dem besten Artwork des Jahres versehen. Moss sucht bereits seit langem nach Alternativen, er tut es in großer Breite und Vielfalt. Mit Chicago House4 als Ausgangspunkt verfolgt er Strategien der Entgrenzung. Alles geht, und zwar zugleich und in rascher Folge: Footwork (When Love knows no Bounds), Funk, Big Room Techno (This is 4 the Rave Bangers), zu Eisnadeln gecrushte Vocals, Hooks die keine sind (weil sie nur einmal vorkommen), Minimalismus gefolgt von Maximalismus, dann plötzlich Ruhe, eine warme Rhodes, plötzlich ist es einsam auf dem Floor.
Dem entsprechend ist Thanks 4 the Tracks you Lost eine ungeheuer eklektische Angelegenheit. Es ist Musik, die der Intuition mit dem Ziel folgt, sie vollständig und wahrhaftig offen zu legen. Es könnten Live-Aufnahmen sein, in einem Take. Die Energie der Produktion wird nie gebündelt, sie ist frei, ihren eigenen Weg in der Weite der Vorstellungskraft ihres Schöpfers zu finden. Dennoch bewahrt dieses Release zu jeder Zeit seine erkennbare Form, es wird zusammengehalten durch den Druck ihrer Intensität und Aufrichtigkeit. Das hat diese Platte für mich verständlich gemacht. Gleichzeitig war sie neu und aufregend, als Musik und als Abkehr von der Sicherheit bekannter Strategien, als Marker für was sein könnnte: same energy, less direction, Be Fearless in Your Pursuit Of What Sets Ur Soul On Fire, das ist einfach und richtig.
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Moor Mother – Jazz Codes (Anti-)
Nun diese Platte, die auch ein Buch oder ein Film oder eine raumgreifende Installation sein könnte, oder alles nacheinander oder alles zusammen – so viel weiß Camae Ayewa und so viel vermag sie in Worte zu fassen. Als Moor Mother hält sie auf Jazz Codes Hof. Sie ist die Bandleaderin, die Universalgelehrte. Sie produziert durch Beschwörung, deutet auf ihre Solisten und Alter Egos, verwebt ihre Beiträge in einen Groove aus Produktion, Rezitation, Rap, Gesang und Text. Das Ergebnis ist ein Stream of Consciousness, ein fließendes Hier und Jetzt ohne Ort und Zeit, ein universeller Chant, eine Synthesis. In ihren Worten: I can shift this shit, I can lift this shit, I can last all night.
Diese Platte steht in der Historie von Blue Note und Monk, Miles, Prince, Eryka Baduh, Wu-Tang, Outkast und D’Angelo. Mir fällt keine wichtigere Vertreterin ihres Gedankengutes ein, inklusive der satten oder toten Urheber. Das ist bemerkenswert und Bürde genug. Doch Moor Mother’s Blick reicht weit über ihr unmittelbares musikalisches Universum hinaus, es umfasst Literatur, Spirituals und aktuelle Poesie, blk girl blues, project housing bop and black ghost songs5, Mr. Bones, John McPhee und Iggy Pop. Selbst vor diesem Hintergrund ist die Vielfalt an Styles und Stimmungen bemerkenswert. Real Trill Hours ist eine Nokturn, allein mit den glühenden Devices und den glühenden Gedanken, ein Verweis auf Schreiben in der Nacht als M.O. und als Fluchtweg – und dann gibt es auch acht Bars von Yung Morpheus und das ganze ist irgendwie der smoothe Hit des Albums. Barely Woke ist die Skizze eines Garage-Tracks im Hintergrund einer Rezitation, die zu Rap wird und schließlich detailreich zerfällt. Rap Jasm entwickelt aus zwei Samples eine komplexe lyrische Dramaturgie, die endet before it’s all said and never done. Unreal.
Ich erinnere mich, wie ich im Frühling im dunklen London den langen Weg nach Hause gehe. Ich bin gebannt von Camae Ayewa’s Stimme. Ich überquere eine Brücke, ich folge den Tracks und ich folge den Lichtern, Skaterkids ziehen Bahnen. Ich bin ganz hier und zugleich im Kosmos der Verweise, in einem mehrdimensionales Flechtwerk, alternierend zwischen soulful und raw, zwischen der großen Anklage der zerstörten Gesellschaft der Vereinigten Staaten und dem spirituellen Consciousness einer parallelen Gesellschaft, die über Geist und Körper, Kultur und Sport Einfluss auf das Endstadium der Konsumgesellschaft gewonnen hat. Hier liegt die größte Hoffnung diesseits der strukturellen Kaputtheit des industrialisierten Kapitalismus.
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Relaxer – Concealer (Planet Mu)
Wenn ich in naher oder ferner Zukunft erklären wollte, wie sich dieses Jahr angefühlt hat, würde dieses Album nennen. Vielleicht gab es wichtigere oder präsentere Musik, für die Welt und mich. Aber Concealer ist das richtige Vokabular um den langen Sommer, der 2022 war, zu beschreiben. Wie häufig ist es der Bezug von Sound auf Raum oder die – von mir so wahrgenommene – Definition empfundener Räume, die diese Musik greifbar macht. Das ist ein Muster. In diesem Fall sind die Räume nicht eindeutig definiert – hier scheint für vieles Platz zu sein, aber wir empfinden die Ausdehnung dieser Tracks nie vollständig, ihre Größe und Form scheinen sich zu verändern, Dimensions variable. Das ist ein gutes Gefühl, und das ist neu.
In manchen Tracks auf Concealer herrscht eine rastlose Spannung, ein Oszillieren auf der Stelle, das die Schwingungen der Atome aufrecht erhält. Organismus und Technologie sind gleich schwer und gleich bedeutsam in diesen Räumen
, schrieb ich dazu im September.Eine Sache ist hinzuzufügen. Der Output von Daniel Martin-McCormick als Relaxer ist umgeben von einer spartanisch, aber bemerkenswert präzise definierten Ausdruckswelt. Text, Gestaltung, Fotografie, Track-Titel und Release-Titel, Pseudonym und Styling sind so gut und so spezifisch in ihrer Relation zueinander, dass sie mehr bilden als die gemeinhin notwendige, hinreichend anschlussfähige Ästhetik. Jede Entscheidung ist entschlossen und ihre Gesamtheit ist kohärent ohne eindeutig zu sein. Hier wird keine Identität definiert. Es ist der Vorschlag einer Perspektive auf die Dinge, eine Art der Bezugnahme von innen auf außen. Auch in dieser Hinsicht ist der Eindruck vieldeutig: Am Kontext des Clubs (und damit der Welt) nimmt die Hörerin dieser Musik distanziert, aber bewusst teil, mit dem notwendigen Abstand für Konzentration und aufmerksame Wahrnehmung. Wer was mitbekommen will, muss anwesend und bereit sein, aber nicht mittendrin und nicht zu allem.
Bei aller Bestimmtheit bleibt diese Musik ergebnisoffen, sie ist unversell zur Zeit: angemessen für das allgemeine Gefühl hier und jetzt, und doch ohne jede direkte Anschlussfähigkeit für ein Thema oder einen Aggregatszustand
, Musik als Raum und Interval. -
Borderland – Transport (Tresor)
Diese Platte fuhr wie ein silberner Zug durch das Jahr. Sie beschreibt die Entwicklung eines spezifischen, präzise geformten Sounds durch die Dauer und Dramaturgie einer Langspielplatte: Kraft mal Weg, der Beweis des Energieerhaltungssatzes mit den Mitteln von Techno.
Diese Musik ist Dub-basiert, und als solche geht es ihr um Konzentration und Versenkung, Schweben bei großem Gewicht6. Das ist nur in Balance möglich, also der Zustand nach dem alle Dinge und Wesen streben. Acht Elektronen auf der Außenschale, die Balance der Konzentrationen auf beiden Seiten einer permeablen Membran. In dieser Hinsicht ist Transport ein zirkuläres Album, sein Momentum zielt nicht auf Fortschritt, sondern auf Introspektion. Was Moritz von Oswald und Juan Atkins produzieren, leitet Energie nach Innen, sie wird der Musik wieder zugeführt. Reflektion erzugt Rotation, Rotation erzeugt Balance.
Es begann im Mai, als Moritz von Oswald einen seltenen Gig spielte, im Keller eines Kinos in Porto. Noch in der Nacht befasste ich mich einmal mehr mit seinem Output und all den Projekten, es war meine Rückkehr zu Detroit, zum gemessenen Living Room Techno, zum Eiermann-Techno und zu Dial7. Diese Dinge aus meiner Vergangenheit, die neue Sinne ergaben.
Lightyear und Riod, Tracks die niemals Hintergrund sind und dennoch Raum lassen, der Vergangenheit und Zukunft verbindet. Das ist monumentale Musik, die nichts betäubt
, schrieb ich im August. Das ist vermutlich, was ich in den vergangenen acht Monaten erster Linie brauchte: Aufmerksamkeit, Wachheit, innere Offenheit für Zukunft. Ich hörte diese Platte immer wieder, ich stieg in diesen Zug. Sie hat mir geholfen, zu verlassen was falsch geworden ist. Sie gehörte zu nichts und zu allem, sie ist die Atmosphäre von 2022.
Generell relevant, stets vorhanden oder kurz wichtig: Au Suisse – S/T, Borderland – S/T, The KVB – Unity Remixes, Carsten Jost – La Collectionneuse, Sten – Earthshine8, Yves Jates – M, Sky H1 – Azure, Onoe Caponoe – Voices From Planet Cattele, Mhamad Safa – Ibtihalat, Relaxer – Licking, She Past Away – X, Kuedo – Infinite Window, VA – Best of Delsin Records 2022, Airchina – LP3, Andy Stott – The Slow Ribbon
Ocean Vuong hat es besser gesagt:
There are moments, I think, that are more heartbreaking or absurd in reading, which I respond to by simply putting the book down (…) For me, those moments are so full of astonishment that there is no room even for their expression. (…) Maybe there’s just something wrong with me in that I cry and laugh at life — but often end up in muted awe and wonder of words.
↩Es gibt selbstverständlich immer etwas zu sagen, zumal über die technischen und handwerklichen Aspekte dieser Musik, und über die Art, wie sie verankert ist, die übliche Suche nach Verbindungen zu Welt und Selbst: Musik die es nicht gibt ↩
Ein wichtiger Teil dieses Katalogs läuft natürlich unter dem Pseudonym Hyroglyphic Being, und der vielleicht interessanteste Teil als Mitglied von Africans with Mainframes. ↩
Also dieser anderen Sorte House, mit der ich immer meine Schwierigkeiten hatte: zu nervös, zu freaky, zu sehr anything goes, why not und all das. Ich lag falsch, wie mit so vielen anderen Dingen, die mal richtig gewesen sind. ↩
So ihre selbstgewählten Genrebeschreibungen, die treffender nicht sein könnten. ↩
Ich kann nicht anders als die Echos und Schichtungen von Dub als Gewicht wahrzunehmen, nicht wie das Gewicht eines schweren Objektes, eher wie das implizit wahrgenommene, eher gewusste Gewicht des Wassers über mir am Grund eines Pools. ↩
Neben der viel besprochenen Achse Detroit–Berlin gibt es natürlich auch Detroit–Hamburg. Von Oswald ist Hamburger, und die Stadt fand in den frühen nuller Jahren zu einer eigenen Version von Detroit: die Stoik der Musik und der Menschen, ihr Schalk und ihre Sachlichkeit, sie entsprachen einerander für einige Jahre. Dial Records formten daraus eine eigenständige Version von Techno, die mir vor vielen Jahren Hamburg ermöglicht hat. und das dieses Jahr bestimmt hat, in dem ich die Stadt zu verlassen begann. ↩
Ein Verweis zurück auf The Essence, eine der zentralen Platten des Dial-Universums. ↩