electricgecko

April

Kuala Lumpur ist weniger eine Stadt als die südostasiatische Version des Sprawl – das Substantiv im Gibsonschen Sinne, nicht das Verb im Infinitiv. Es ist ein für europäische und (noch) zeitgenössische Verhältnisse unkontrolliert wachsendes Geflecht aus Tradition, Pragmatismus, dem Technologismus des vergangenen Jahrtausends und dem simplen Prinzip der Verdrängung: Masse erzeugt Druck und erschließt in der Folge Wege und Raum.

Somehow everything is infrastructure here1, und interessanterweise scheinen ihre Komponenten ihren eigenen Codices zu folgen. In dieser Hinsicht entspricht Kuala Lumpur seinem Land. Malaysia bezieht Identität aus Multikulturalität: muslimische Prägung, ethnische Bevölkerungsgruppen aus Indien und China sowie eine trotz allem spürbare indigene Präsenz.

In Kuala Lumpur ist das an wenigen Orten so evident wie am Central Market am Rande von Chinatown. Es ist sicherlich ein chinesisches Viertel wie es im ostasiatischen Raum häufig zu finden ist (think Garküche, tech repair shack, unlikely Yeezy colorways) – doch es ist durchdrungen von den Vibes und der Haptik des mittleren Ostens. Der Dayabumi-Komplex überragt das kleine Viertel wie ein Architektur gewordener Konjunktiv: Ein Turm ornamentierter Geradlinigkeit, ein entschlossener Entwurf, on point in seiner Slickness (und vermutlich eines der schönsten Gebäude, die ich gesehen habe).

Das Durcheinander Kuala Lumpurs ist bestimmt von Kontrasten wie diesen, zu denen mir kein adäquater Vergleich einfällt. Alles hier war niemals prä- oder post-, es ist urbane Biologie, das über-, unter- und ineinander Verwachsen in alle Richtungen, möglicherweise die Entsprechung des malayischen Dschungels. Drei Orte in Kuala Lumpur.

  • (Karte)

    Zu mehr oder weniger großen Teilen ist Kuala Lumpur ein Street Food Market, und war es bereits bevor dieser einigermaßen doofe Begriff existierte. Die Hawker Stalls (das ist ein Ausdruck) von Bukit Bintang (Jalan Alang und so weiter) durchzuprobieren ist eine lebensabschnittfüllende Aufgabe – und zugleich Kulisse für ein akkurates Cosplay der Ramen/Recruiting-Szene aus Blade Runner. Daher ist es praktisch, dass unter dem Namen Lot 10 eine Auswahl der besten und langlebigsten Street Food Stalls in den Keller einer Mall gedrängt wurde. Die Entscheidung zwischen Hokkien Mee, Roti Cannai, vielerlei Dumplings, Naan-Varianten und hundert anderen Optionen fällt dennoch hinreichend schwer. Alles hier ist von exzellenter Qualität und in vielen Fällen durch mehrere Generationen einer Familie erprobt und verbessert. Stressfreude erster Güte.

  • Feeka Coffee Roasters

    (Karte)

    Bukit Bintang ist das interessante Viertel in Kuala Lumpur – die Grenze zu unerträglich ist allerdings einigermaßen fließend, auf eine ähnliche Weise wie es in Itaewon der Fall ist. Beim Versuch, Amusement und expatkompatibler guter Laune aus dem Weg zu gehen, führte mich mein Weg an Feeka vorbei. Wie der Name vermuten lässt, handelt es sich um den lokalen Ort für Third-Wave-Kaffee, Gebäck und gute Vibes. Interessant, weil spezifisch, ist die Raumsituation: zwei kahle Geschosse, eine gerüstartige Terasse, Sitzplätze zwischen großen Blättern. Ruhe, wie sie nur in einem verlorenem Karton im tosenden Regen einer Stadt wie Kuala Lumpur existieren kann.

  • Tsujiri

    (Karte)

    In Kuala Lumpur gibt es eine Isetan-Dependance. Der Grund, auf dem dieses Kaufhaus steht, sollte japanisches Staatsgebiet sein – ein Besuch entspricht einem Augenblick Tokyo, in Ruhe und Schönheit. Das gilt im Besonderen für das Erdgeschoss und die Delikatessenabteilung im Untergeschoss. Abgesehen von 35 Sorten Junmai und Bento für Unterwegs gibt es hier in einem Halbrund eine Tsujiri-Filiale. Ihre Angestellten verkaufen die besten teebasierten Desserts der Welt. Chiffon-Kuchen, Hojicha-Bisquit, Matcha-Eiscreme, Matcha-Floats, Azuki – alles ist von perfekter Form und ebensolchem Geschmack. Eine Erinnerung an Omotesandō, samt seiner stillen Wärme und dem Grün und Schwarz. Unerwartet und in seiner gänzlich unmalayischen Auszeit-Erfahrung unbedingt einen Besuch wert.


  1. William Gibson – Disneyland with the Death Penalty, Wired (1993). 

März

Ich bin nicht hier, sondern setze mich Atmosphären aus, für eine Weile: Eine Schlucht voll gelber Luft im Glühen von Xenon, grüne Felsen, rostige Erde. Unterwegs, die dunklen Tropen zu besuchen und einen Moment in der Dystopie der Ungleichzeitigkeit verbringen. Nach Singapur, 28 Jahre später, und in einen neuen Kontinent.

Ich legte einen der Ilford-Filme in meine elektronische Kamera ein, der andere liegt in der Tasche in meiner Armbeuge. Um einen weiteren Teil der Welt zu beschreiben, gespannt auf die Sprache, die ich vorfinde und darauf, wie die Dinge beschaffen sind. See you in some universe or other.

Februar

Puff of white vape, like a winter locomotive in an old movie. „Sorry. I know it’s weird. That’s part of why I keep thinking it’s not real. What’s the other part?“

„You’re fucking impossible, as far as I know. Too advanced. Too slick. Or maybe the opposite of slick? Too organic?“

„Organic’s for tea“, Eunice said. „Tulpagenics. Google tulpa, I get Tibetan occult thoughtforms. Or I get people on the Internet who’ve invented their own imaginary friends.“

„I know. I did too.“

„I don’t feel Tibetan,“ Eunice said. „Or invented.“

  • Bill Gibson – Conversation in Dolores Park, late November, evening. Veröffentlicht als fotografiertes Manuskript, April 2016.

House ist ein erschöpfendes Genre. Es zielt auf Zustimmung, auf Affirmation, es probiert alle Winkel auf der Suche nach dem konzentrierten großen Moment. Fehlt diese Dringlichkeit, bleibt meist Muzak, die zu einfach zu produzieren und zu hören ist.

Dieser Zusammenhang mag damit zu tun haben, dass House in den letzen Jahren eine sehr geringe Rolle in meiner Musikrezeption eingenommen hat – gelangweilt von der samtenen Smoothness, desillusioniert vom Versprechen der gemeinsamen Auflösung auf dem Floor.

Dennoch bleibe ich zu Beginn dieses Jahres an einer Reihe Releases dieses Genres hängen. Sie sortieren die Tropes und Erwartbarkeiten von Housemusik auf interessante Weisen neu. So unmittelbar vertraut und abgegriffen die Texturen sind, so fern und selbstbezüglich sind ihre Ziele. Hier wird nichts gefeiert und vereint. Das Soundmaterial wird durchgesehen und herauspräpariert. House ohne Dringlichkeit, ohne Unschuld. „A record about the utopian idea of club culture – music about the club, as well as for the club“, wie Jacques Greene es formuliert. Ein wenig wie Jon Hopkins, nur halt in interessant.

Also: Jacques Greene’s EP After Life After Party und die noch zu erscheinende Debut-LP Feel Infinite, Joy Orbison’s Toss Portal und die in dessen Selbstverlag erschienene Gudrun EP von CO/R. Eine abwegige 12″ namens Shinjuku One Night Stand (sic) von S.O.N.S.

Möglicherweise sind diese Releases weniger signifikant als sie mir erscheinen. Dann mag es der reale Terror der Ignoranz, die uns umgibt sein, der Beschleunigungsdruck meines Lebens und die immer fremd bleibende Fähigkeit zum Hedonismus, die mich zu dieser Musik zurückkehren lässt. Aber vermutlich nicht.

Neuere Texte über