electricgecko

September

MIT

Es ist sieben Jahre her, dass ich ein Konzert von MIT gesehen habe. Das war in Münster, in einem Club, in einem Gebäude, das es nicht mehr gibt. Damals hatten die drei jungen Kölner die Idee Elektroclash weiter und präziser entwickelt als alle Gruppen, die in dem Jahr für das Genre bekannt werden sollten. Nach einigen 12″-Hits1 erschien vor zwei Jahren das herausragende Debut-Album Coda. Dieser Platte hörte man ihre Herkunft an; Techno Kölner Machart, Kompakt und all das.

Nanonotes ist etwas anderes. Nanonotes ist ein eigener Entwurf von Popmusik, nicht weniger. MIT klingen aktueller als jede andere Musikgruppe; so zeitgemäß und nach 2010, dass man erschrickt und sehr kurz irritiert ist, wenn in Hydra der Gesang einsetzt. Zeitgemäß, das muss natürlich immer bedeuten: klingen wie viele Dinge, die es bereits gab. Und darum ist es genau richtig, dass sich die Musik seit Coda weiterentwickelt und neue Aspekte gewonnen hat. Und jetzt klingt, wie man sich den Sound von Tokyo in den späten Achtzigern vorstellt, wenn man niemals dort war, in dieser Zeit.

Nannotes ist ein Album über Technik, das verwundert nicht. Bereits die Texte des Vorgängeralbums behandelten die Artefakte moderner Kultur, urbane Räume und das Gefühl, jederzeit Teil dieser Dinge zu sein. Diese Platte verwebt das Leben in den Städten, die ständige Bewegung durch sie hindurch vollends mit der Wärme des Bordsteins, dem Sonnenaufgang an der Oberbaumbrücke und, ja unbedingt, der Natur. Um sie dann wieder mit den Vokabeln der Medien und der Gegenwart zu kontrastieren — blaue nacht und alt global, das gehört zusammen. Da ist eine Autobahn von Buchforst nach Odenwald.

Insofern ist die Orientierung an Krautrock, das Aufgreifen von Motorik nur richtig. Und die Zusammenarbeit der Gruppe mit Emil Schult, einem der Schöpfer der Kraftwerk-Ästhetik, wird offensichtlich. Ebenso wie das herausragende Artwork von Alexander Ernst Voigt. Wie die Gestaltung von Rückseite und Innersleeve von Kirstin Weppner, Elisabeth Moch und Christian Schneider.

du bist die basis
für komplikation
grammatische hilfe
in meiner aktion
IN TER AK TION
reine form
die nie vergisst
eine figur
die geometrisch ist

Nanonotes wird eine der Platten des Jahres sein. Inhaltlich, musikalisch, als geschlossenes ästhetisches Konzept. Ich bin sehr, sehr hingerissen und dankbar für diese Musik. Es wird ein neues Konzert geben müssen. Foto von mitmitmit.net.


  1. Was war es und die B-Seite der Good Book 7″, Park sind nach wie vor legitime Teile eklektizistischer Playlists. 

Minimalismus ist Arbeit, weil jedes Weglassen an der Oberfläche in umgekehrter Proportion Nachdenken darunter erfordert. So geschehen bei meinem letzten Projekt mit Till, dass wir in der vergangenen Woche abgeschlossen haben: Die Website für KUXMA, ein Studio für Filmproduktion in Kreuzberg. Während Till viel Zeit investiert hat, um ein gleichermaßen reduziertes wie funktionales CI zu entwickeln, habe ich mich um die Adaption an Front- und Backend im Web gekümmert. Das Ergebnis: eine simple Website mit maximaler Flexibilität. Layout und Content skalieren mit der Fenstergröße. Das HTML-Markup ist 46 Zeilen lang. Der Preis: Haareraufen, 400 Zeilen JavaScript und zeitweilig Bugfixing by Committee (danke, Hannes und Jan). Was tut man nicht alles für die glänzende Oberfläche. Das Egebnis: kuxma.de.

August

Revolve — Cover

Etwas zum zweiten Mal zu tun ist grundsätzlich viel schwieriger als das erste Mal. Weil erwartungsfreies Handeln nicht mehr möglich ist, weil ein Vergleich möglich ist, weil der Vergleich sein muss. Machbar wird es, wenn man die Möglichkeit akzeptiert, dass nicht alles immer besser werden könnte, sondern mittelmäßig bleibt oder blöder wird. Machbar wird es, wenn man irgendwann grinsend unfertig aufhört, das Denken lässt und sich ein zweites erstes Mal leistet, Dendemann.

Darum nun also: Revolve, ein zweites Tape zeitgenössischer Musik. Rainfall war ein Produkt des Hamburger Herbstes. Das hier ist Sommer. Revolve oszilliert, stolpert, albert herum und wagt schließlich sogar unerhört gute Laune. Alles strebt nach oben. Ich wünsche gute Unterhaltung.

Überhaupt: Auf unterhaltsame Weise zu scheitern, das scheint mir ein gutes Ziel.

Ich habe mich bislang zurückgehalten, mit Meinungen und Kritik zur wichtigen Frage: Wie soll man sich kleiden? Das hat zum einen damit zu tun, dass eine interessante, anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Thema schwer ist — die extrem überschaubare Zahl brauchbarer Publikationen ist nur ein Indiz. Zum anderen ist gute Kleidung eine Sache, die im Idealfall unkommentiert zur Kenntnis genommen werden sollte.

Darum will ich versuchen, in meinen Beiträgen für Kacpers wundervolle neue Publikation möglichst wenig zu nerven, nicht an der Oberfläche zu bleiben und vor allem: sie nicht todernst zu nehmen. In meinem ersten Text geht es unter anderem um Brötchen.

Ich freue mich sehr, an Bord zu sein und lege euch ein Magazin ans Herz, hinter dessen Titel ich mich, in Chelsea Boots und Button-Down, guten Gewissens stelle: The Modern Gentleman.

Die Gestaltung von Möbeln, Stühlen zumal, ist ein Thema, über das zu viel gesagt wird. Wie man sich eingerichtet hat, in der täglichen Umgebung — diese Frage liegt einfach zu nah und ist zu einfach zu lösen1. Um so schöner, wenn man Arbeiten findet, die der Rede wert sind und noch dazu nicht vom ubiquitären Konstantin Grcic2 gestaltet wurden.

Das Baseler Label Inch Furniture ist so ein Fund. Die Kollektion umwelt- und sozialverträglich gestalteter Massivholzmöbel ist eine Freude. Starke, geometrische Lösungen für einfache Probleme fügen sich zu einem funktionalen, konstruktivistischen Gesamtbild, das — zumindest mir — in Konsequenz und Ausdruck bei zeitgenössischen Möbeln nur selten begegnet.

Das gilt auch für die Inszenierung der Möbelstücke. Website, den Katalogen und ganz besonders für die Ausstattung des Schweizer Pavillons auf der Expo 2010 in Shanghai. Architektur, Holzmöbel und Grafikdesign ergänzen sich. Sie sind gleichermaßen sperrig wie simpel und damit: interessant. Vier Satu Chairs, bitte.


  1. Nachzulesen in anspruchslosen Publikationen wie Home oder gar Schöner Wohnen

  2. Nichts gegen Konstantin Grcic. Seine Arbeiten sind fantastisch. 

M — Logotype

Wenn vergehende Zeit nur eine Metapher ist, für die fortlaufende Prozessierung von allem, dann kannst du Veränderungen nur an ihren Artefakten fest machen. An solchen Dingen, die herauskommen. An Resultaten, die sowohl den Weg zu ihnen (so far) als auch den Weg von ihnen (from now on) unsichtbar machen. Wenn das so ist, dann bedeutet aufzuwachsen wohl, dass du dich nicht mehr wiedererkennst, in den Artefakten. Mit etwas Glück und harter Arbeit ist das ein gutes Gefühl. Weil du dich freust, über die zurückgelegte Strecke und dass das meiste dann doch ganz anders gekommen ist. Zeit für neue Artefakte.

Bei allem, was ich im Web veröffentliche, Gestaltung, Text, Fotos, hat mich in den letzten Monaten die Abwesenheit meiner professionellen Rolle gestört. Das Journal, Soundcloud, Gefundenes und Gesampletes — keines dieser Dinge sagt klar, wer ich bin und was ich tue. Nicht zuletzt hat mich Kriesse, meine Nummer-Eins-Partnerin in Gestaltungsdingen, mit ihrem Schritt von kriesse.de zu kristinaschneider.com inspiriert: Wir machen immer noch Kram im Web, aber der bezahlt inzwischen unsere Rechnungen.

Also. Ein Logo, das mich repräsentiert, eine Ansage, eine Seite für Kunden, Partner, für Frauen und Männer in Anzügen: maltemüller.com.

Mit Konferenzen sollte man es halten wie mit Parties, Konzerten und überhaupt allem: weniger, dafür besser. Darum habe ich in diesem Jahr bereits die ausgezeichnet kuratierte OFFF in Paris und das Melt! besucht — nicht aus Prinzip, nicht, weil man das ja so macht. Sondern sehr bewusst, aufgrund von Lineup und Setting. Weil das so gut funktioniert hat, werde ich es auch im nächsten Jahr so halten. Im Januar werde ich gemeinsam mit Kriesse die frisch aus der Taufe gehobene New Adventures in Web Design in Nottingham besuchen. Die Early-Bird-Tickets hängen an unseren Kühlschränken. Wir freuen uns auf die Großen, die da kommen: Simon Collison, Jon Tan, Tim van Damme. Das wird spezifisch, familiär und interessant. Ein Grund zur Freude.

Juli

In ungewohnten Umgebungen sind neue Ideen einfach, weil ja alles fehlt, auf das man normalerweise so schaut. Das Poster neben dem Schreibtisch und die Rücken der Bücher im Regal. Wenn man sein Notizbuch an einen Ort wie Paris trägt, füllt es sich praktisch von alleine. Schwierig ist es, die Ideen den Transferzustand, der Teil jeder Reise ist, unbeschadet überstehen zu lassen. Weil dann wieder Alltag in allen Blickrichtungen steht. Und das eigene Geschmiere und die hastig aufgeschriebenen Namen nur noch hübsch aussehen, aber nicht mehr lesbar sind. Darum schnell raus damit. Sechs Orte in Paris, an denen man gewesen sein sollte.

  • Merci (Karte)
    Merci ist schwer zu klassifizieren. Es es eine Mischung aus Boutique, Ausstellung angewandter Kunst, Möbelshowroom und Café. Auf zwei Etagen kuratieren die Besitzer Mode, klassisch moderne Möbel, Bücher, Papier, Tape, Stifte und hundert andere Dinge. Merci fühlt sich an wie eine Raum gewordene Ausgabe des Inventory Magazine. Unbedingt besuchen und japanisches Papier, Hemden aus Schweden und den Plaid-bezogenen Eames Lounge Chair im ersten Stock mit großen Augen ansehen.
  • La Défense (Karte)
    Die urbane Struktur rund um La Défense ist beeindruckend komplex, konsequent und angenehm over the top. Man kann das Projekt der Moderne ablaufen, zu beiden Seiten des Grande Arche — samt aller Verfehlungen und Schönheiten. Der Bogen selber ist ein Erlebnis in formaler Perfektion; die strikte Entsprechung aller Winkel schließt nicht nur Seiten, Dach und Freitreppe ein, sondern auch den Winkel der Schattenwürfe bei Sommersonne.
  • Comptoir de l’Image (Karte)
    Nimmt man Kioske aus, handelt es sich um das kleinste Ladenlokal, das ich je betreten habe. Compoir de l’Image ist ein Antiquariat, spezialisiert auf Modemagazine und Fotobände der vergangenen 70 Jahre: Männermagazine der fünfziger, die Vogue der Woche meiner Geburt, vergriffene Bände von Eggleston, ein vollständiges Archiv aller Interview-Ausgaben. Die Blaupausen zeitgenössischen Editorial Designs stapeln sich bis unter die Decke, in ihnen Fotos, mit denen sich drei Streetstyleblogs über Jahre füllen ließen. Man bewegt sich leise, tritt am besten einzeln ein und freut sich still über die Präsenz von so viel populärer Kultur an einem Ort.
  • Grom (Karte)
    Bei Grom habe ich das mit Abstand beste Eis meines Lenbens gegessen. Es gibt einen Unterschied zwischen Eisladen und Eiskonditorei. Und der muss irgendwas mit der Geschmacksrichtung Fior di Latte/Pfefferminz zu tun haben.
  • Galerie Patrick Seguin (Karte)
    Von der Rue des Taillandiers aus gesehen ist diese Galerie nur eine Stahltür in der Backsteinwand; mit einer Klingel und einem kleinen Schild. Dahinter verbirgt sich eine großartige Sammlung von Möbeln der fünfziger- bis späten sechziger Jahre. Arbeitsmöbel von Jean Prouvé, architektonische Objekte von Corbusier und viele andere wunderbare Gegenstände. Wie zum Beispiel diese perfekte Sofa/Beistelltisch-Kombination von Carlotte Perriand aus dem Jahr 1958. Wieder auf der Straße hat man das dringende Bedürfnis, ein Tweedsakko zu tragen und sich neu einzurichten.
  • Pierre Hermé (Karte)
    Pierre Hermé verkauft Süßigkeiten von denen hundert Gramm deutlich mehr als zehn Euro kosten — aber die Macarons sind diesen Preis wert. Man könnte sie problemlos für das Doppelte verkaufen, weil der Moment, in dem man die Intensität des Geschmacks realisiert, für sich genommen schon ein Erlebnis ist. Es gibt eine Sorte Macaron, die intensiver nach Erdbeeren schmeckt als Erdbeeren. Das ist ein hübsch absurder Gedanke.

Weitere bebilderte Erlebnisse gibt es in meinem Paris-Set bei Flickr.

To create architecture is to put in order. Put what in order? Function and objects.

Juni

Die Geschichte vom Web und dem gegenseitigen Zusehen, der stetigen Begeisterung über unfassbar richtige Perspektiven anderer, sie wurde zu häufig erzählt, um noch originell zu sein. Eine meiner Geschichten, dieser Sorte ist Ramon Haindl. Über die Tapes1 und die Ästhetik von We are Gosh war es ein kurzer Weg zu dem, was er in erster Linie macht: Fotografie. Seine Bilder verbinden einen harschen, matter-of-fact-Stil mit Nähe und Wärme. Es tut weh, und dann möchte man mehr.

Ramon hat heute sein Portfolio veröffentlicht. portfolio.ramonhaindl.com zeigt Kommerzielles, persönliche Fotografie und Editorial-Arbeiten. Alles davon ist unbedingt sehenswert, ebenso das assoziierte Journal. Aus letzterem stammt das Bild zu diesem Eintrag. Es wurde in Tell Mum Everything Is Okay N°3 veröffentlicht und gehört zu den spannendsten, die ich in diesem Jahr gesehen habe. Bitte beachten.


  1. Ich höre das düstere D’Arc-Tape immer noch. Seit zwei Jahren. Es wird nicht schlechter. 

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