electricgecko

Dezember

Nicht weniges wird erst interessant, wenn man es aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Es ist nicht so, dass dieser Winter das unbedingt nötig hätte, nein, er ist auch für sich genommen hinreichend vielschichtig und angenehm. Ich komme dennoch nicht umhin, ihn gefiltert wahrzunehmen — und zwar durch zwei Platten, die in den letzten Monaten erschienen sind.

Bei der ersten Platte handelt es sich um ein Werk, das sich geradezu aufdrängt: Mimikry, das erste Album der Kollaboration zwischen Blixa Bargeld und Carsten Nicolai, alias Alva Noto. Die Verbindung solch brachialer Stimmqualität mit Alva Notos nicht weniger brachialem Glitchfunk geht exakt so gut auf, wie man sich das vorstellt. Ihr gemeinsames Album variiert zwischen feinsten Kristallstrukturen und elektronischer Dekonstruktion, dem monumentalen Berghain und dem feinen One, einem der Songs des Jahres. anbb sind U und E zugleich. Anders als in seiner Arbeit mit Ryuichi Sakamoto beschränkt sich Alva Noto dabei nicht auf die Rolle des Intervenierenden, Remixenden. Vielmehr erinnert die Arbeitsteilung bei anbb an die eines klassischen HipHop-Outfits: Alva Noto macht die Beats, Blixa Bargeld ist der MC. Eine Platte, harsch wie der Winter, sanft wie frischer Schnee.

Lucky Shiner, das Full-Length-Debut von Gold Panda schlägt eine vollständig andere Perspektive auf den Winter vor. Derwin Panda (er heißt tatsächlich so) sampled, cuttet und looped ebenso kunstvoll wie Flying Lotus das für Warp tut. Doch Gold Panda veröffentlicht bei Ghostly — und interessiert sich folgerichtig für warme Synths und Stimme statt für Beat und Jazzsnare. Tracks wie You oder Snow and Taxis leben von der Wiederholung, doch sie stagnieren nicht. Sie streben nach oben, mit jeder Iteration schimmern ihre Schönheit und Wärme stärker. Darum ist Lucky Shiner treffend betitelt. Darum ist Lucky Shiner ein Album fürs Drinnensein, für die Wärme im Winter.

Ich werde das Haus nicht mehr ohne diese Alben verlassen, bis das Jahr endet.

  • anbb — Mimikry, LP/MP3/CD, Raster-Noton.
    Gold Panda — Lucky Shiner, LP/MP3/CD, Ghostly
dunkel hell

schnell langsam langsam schnell / hell dunkel dunkel hell

November

Am besten nennt man die Dinge beim Namen, im Gefühl der Situation, in der sie entstehen. In dieser Hinsicht gibt es wenige richtigere Namen für ein neues Unternehmen, dessen Ziel es ist, interessante Ereignisse und Orte zu schaffen, als Here We Go. Was Here We Go vorhaben, darf man auch Event nennen, aber nur wenn man böse ist und/oder in einer Agentur arbeitet. Sollte man aber nicht. Denn was Louise und Florian mit Here We Go zukünftig in Vollzeit tun werden, hat mehr mit der Entwicklung von interessanten Beziehungen zu tun. Ortsgebundene Arrangements zwischen U, E, Konsum, Gemeinschaft und Werbung. Ich halte das für eine sehr gute Idee. Dazu hätte es nicht einmal den nichts weniger als hinreißenden Pop-Up-Store im Das Magazin an der Elbe gebraucht.

Weil ich das alles gut finde, habe ich einige Tage darauf verwendet, eine Website zu gestalten, die Louise und Florian gerecht wird. Die übermütig Here We Go! schreit und gleichzeitig klar sagt, was gerade passiert. Die bei aller Klarheit provisorisch und hinbalanciert erscheint, weil nur das interessant ist. Das Ergebnis: here-we-go.org. Take notice.

Oktober

Kopenhagen und Hamburg haben vieles gemein. Einiges davon liegt nahe, und hat mit der Lage am Fluss, am Delta, am Wasser zu tun; beide Städte wirken unmittelbar maritim. Das Vorhandensein von Wasser und Hafeninfrastruktur ist wichtig, auch für Dinge, die mit der geographischen Lage wenig zu tun haben: in welcher Haltung man durch Straßen geht, wie man zur Sonne steht, was die Menschen sagen, die man trifft. Es mag der unverstellte Blick in die Weite sein, oder der Wind, der vom Meer durch die Städte weht. Kopenhagen und Hamburg könnten zwei Remixe des gleichen Ausgangsmaterials sein.

Ich habe einige Tage in Kopenhagen verbracht und mich dort sehr wohl gefühlt. Nicht wegen der Nähe zu Hamburg, sondern in erster Linie wegen der großen Klarheit und Ruhe der Stadt und ihrer Bewohner. Sechs Orte, an denen sie besonders spürbar war.

  • Skuespilhuset (Karte)
    Das königliche Schauspielhaus liegt direkt am Hafen, genauer gesagt im Hafen — ein Teil des Gebäudes und seiner umlaufenden Plattform ist auf Pfähle gebaut. Wenn man auf dem fast parkettartigen Holz der Plattform in der Sonne sitzt, hindert nichts den Blick in den Hafen, auf das Opernhaus von Henning Larsen, auf die Stadt, in die Sonne. Ein nutzbarer öffentlicher Raum im besten Sinne.
  • Karriere (Karte)
    Karriere ist eine der schönsten Bars, in denen ich je war. Sie befindet sich in einer der weiß gekachelten, ehemaligen Schlachtereihallen am Flæsketorvet. Darin stehen wenige, für die Bar entworfene Möbel aus Stahl und ein schimmernder Tresen. An Decke und Wänden: Lampen aus der Werkstatt von Olafur Eliasson. Es gibt wenig, das nicht aus Metall oder texturiertem Plastik ist. Dennoch ist Karriere ein warmer Ort. Weil Lichtstimmung und die Musik (~ Microhouse, Dial) die industrielle Einrichtung perfekt kontrastieren, ohne dem Ort die Klarheit zu nehmen. Es gibt saisonale Getränke und großartiges Baressen.
  • Frederiksberg (Karte)
    Frederiksberg besteht aus einigen Straßen und gefühlt fünfzig Parks im Westen von Kopenhagen. Das Viertel ist eine Blaupause skandinavischer Aufgeräumtheit. Doch ein Ort, an dem fantastischer Kaffee die Regel ist, in jeder Straße Kastanien stehen und wo es weder Supermärkte mit hässlichen Schildern noch sonstige Filialen großer Ketten gibt — man hätte ihn gern in der Nähe, um Sonntags Nachmittags darin umhergehen zu können.
  • Louisiana Museum of Modern Art (Karte)
    Es gibt Orte, die sind gut eingerichtet, architektonisch interessant oder liegen in einer angenehmen Klimazone. Und dann gibt es Orte, die sind so schön und frei und groß, dass man ganz still sein möchte. Dass man aufhört, mit dem Gedankenmachen und dem Einordnen. A delightful stillness and amazement that raises the mind to sublimity, schreibt Alain de Botton.1 Das Louisiana Museum of Modern Art in Humlebæk, an der Küste, wo man Schweden sehen kann, ist so ein Ort. Es gibt nicht viele.
  • PARISTEXAS (Karte)
    Selbst zwischen den vielen wunderbaren Kleidungsstücken in Kopenhagen nimmt sich das Sortiment von Paristexas aus. Aber ein mit weißem Holz verkleidetes Ladenlokal, das Stücke von Damir Doma und Kris van Assche verkauft, würde wohl überall auffallen. Mehr Galerie als Geschäft, und wunderschön.

  • Ruby (Karte)
    Schließlich: Ruby, eine Bar, die sich ihre Adresse mit der georgischen Botschaft teilt — und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch die Einrichtung. Im Ruby trinkt man die (sehr, sehr gute) Hausvariante des Sour in einem vollständig birkenholzvertäfelten Raum mit Teppichboden und zu einer leisen Platte von Thelonious Monk. Die Definition eines ruhigen Abends im besten Sinne.

Fotos dieser und anderer Orte in Kopenhagen gibt es in meinem København-Set bei Flickr.


  1. Alain de Botton – The Art of Travel, Seite 165. 

Mimikry, København

Ich kann das mit der Kunst nicht mehr machen. Obwohl mich Kunstgeschichte und neue Entwicklung sehr interessiert. Und Bilderbücher mich interessieren und ich nachher die Abwicklung sehe. Im Grunde genommen möchte ich gar nicht die Bilder selber malen. Ich möchte das nur abgebildet sehen, wie das Ding neben dem anderen steht. Das interessiert mich, das ist wie so ein Puzzle. Memory, sowas. Auch mit Abbildungen, nicht Memory in deinem Kopf, sondern mit Abbildungen. Das sind bestimmte Zeichen, bestimmte Gefühle, genauso mit Musik. Ich weiß genau, welche Musik gelaufen ist, wo ich welches Bild gemalt habe. Oder welche Zeit da war.

Martin Kippenberger, Stellen Sie sich vor, dein Mond scheint am Himmel, Starship, 2007.

September

MIT

Es ist sieben Jahre her, dass ich ein Konzert von MIT gesehen habe. Das war in Münster, in einem Club, in einem Gebäude, das es nicht mehr gibt. Damals hatten die drei jungen Kölner die Idee Elektroclash weiter und präziser entwickelt als alle Gruppen, die in dem Jahr für das Genre bekannt werden sollten. Nach einigen 12″-Hits1 erschien vor zwei Jahren das herausragende Debut-Album Coda. Dieser Platte hörte man ihre Herkunft an; Techno Kölner Machart, Kompakt und all das.

Nanonotes ist etwas anderes. Nanonotes ist ein eigener Entwurf von Popmusik, nicht weniger. MIT klingen aktueller als jede andere Musikgruppe; so zeitgemäß und nach 2010, dass man erschrickt und sehr kurz irritiert ist, wenn in Hydra der Gesang einsetzt. Zeitgemäß, das muss natürlich immer bedeuten: klingen wie viele Dinge, die es bereits gab. Und darum ist es genau richtig, dass sich die Musik seit Coda weiterentwickelt und neue Aspekte gewonnen hat. Und jetzt klingt, wie man sich den Sound von Tokyo in den späten Achtzigern vorstellt, wenn man niemals dort war, in dieser Zeit.

Nannotes ist ein Album über Technik, das verwundert nicht. Bereits die Texte des Vorgängeralbums behandelten die Artefakte moderner Kultur, urbane Räume und das Gefühl, jederzeit Teil dieser Dinge zu sein. Diese Platte verwebt das Leben in den Städten, die ständige Bewegung durch sie hindurch vollends mit der Wärme des Bordsteins, dem Sonnenaufgang an der Oberbaumbrücke und, ja unbedingt, der Natur. Um sie dann wieder mit den Vokabeln der Medien und der Gegenwart zu kontrastieren — blaue nacht und alt global, das gehört zusammen. Da ist eine Autobahn von Buchforst nach Odenwald.

Insofern ist die Orientierung an Krautrock, das Aufgreifen von Motorik nur richtig. Und die Zusammenarbeit der Gruppe mit Emil Schult, einem der Schöpfer der Kraftwerk-Ästhetik, wird offensichtlich. Ebenso wie das herausragende Artwork von Alexander Ernst Voigt. Wie die Gestaltung von Rückseite und Innersleeve von Kirstin Weppner, Elisabeth Moch und Christian Schneider.

du bist die basis
für komplikation
grammatische hilfe
in meiner aktion
IN TER AK TION
reine form
die nie vergisst
eine figur
die geometrisch ist

Nanonotes wird eine der Platten des Jahres sein. Inhaltlich, musikalisch, als geschlossenes ästhetisches Konzept. Ich bin sehr, sehr hingerissen und dankbar für diese Musik. Es wird ein neues Konzert geben müssen. Foto von mitmitmit.net.


  1. Was war es und die B-Seite der Good Book 7″, Park sind nach wie vor legitime Teile eklektizistischer Playlists. 

Minimalismus ist Arbeit, weil jedes Weglassen an der Oberfläche in umgekehrter Proportion Nachdenken darunter erfordert. So geschehen bei meinem letzten Projekt mit Till, dass wir in der vergangenen Woche abgeschlossen haben: Die Website für KUXMA, ein Studio für Filmproduktion in Kreuzberg. Während Till viel Zeit investiert hat, um ein gleichermaßen reduziertes wie funktionales CI zu entwickeln, habe ich mich um die Adaption an Front- und Backend im Web gekümmert. Das Ergebnis: eine simple Website mit maximaler Flexibilität. Layout und Content skalieren mit der Fenstergröße. Das HTML-Markup ist 46 Zeilen lang. Der Preis: Haareraufen, 400 Zeilen JavaScript und zeitweilig Bugfixing by Committee (danke, Hannes und Jan). Was tut man nicht alles für die glänzende Oberfläche. Das Egebnis: kuxma.de.

August

Revolve — Cover

Etwas zum zweiten Mal zu tun ist grundsätzlich viel schwieriger als das erste Mal. Weil erwartungsfreies Handeln nicht mehr möglich ist, weil ein Vergleich möglich ist, weil der Vergleich sein muss. Machbar wird es, wenn man die Möglichkeit akzeptiert, dass nicht alles immer besser werden könnte, sondern mittelmäßig bleibt oder blöder wird. Machbar wird es, wenn man irgendwann grinsend unfertig aufhört, das Denken lässt und sich ein zweites erstes Mal leistet, Dendemann.

Darum nun also: Revolve, ein zweites Tape zeitgenössischer Musik. Rainfall war ein Produkt des Hamburger Herbstes. Das hier ist Sommer. Revolve oszilliert, stolpert, albert herum und wagt schließlich sogar unerhört gute Laune. Alles strebt nach oben. Ich wünsche gute Unterhaltung.

Überhaupt: Auf unterhaltsame Weise zu scheitern, das scheint mir ein gutes Ziel.

Ich habe mich bislang zurückgehalten, mit Meinungen und Kritik zur wichtigen Frage: Wie soll man sich kleiden? Das hat zum einen damit zu tun, dass eine interessante, anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Thema schwer ist — die extrem überschaubare Zahl brauchbarer Publikationen ist nur ein Indiz. Zum anderen ist gute Kleidung eine Sache, die im Idealfall unkommentiert zur Kenntnis genommen werden sollte.

Darum will ich versuchen, in meinen Beiträgen für Kacpers wundervolle neue Publikation möglichst wenig zu nerven, nicht an der Oberfläche zu bleiben und vor allem: sie nicht todernst zu nehmen. In meinem ersten Text geht es unter anderem um Brötchen.

Ich freue mich sehr, an Bord zu sein und lege euch ein Magazin ans Herz, hinter dessen Titel ich mich, in Chelsea Boots und Button-Down, guten Gewissens stelle: The Modern Gentleman.

Neuere Texte

Ältere Texte