electricgecko

November

August. Die Studiotür fällt ins Schloss und die Nacht liegt weit und offen über der Stadt. Es ist unmöglich, jetzt nach Hause zu gehen. Zu einfach scheint die Welt und zu affirmativ der Sommer. Wir lassen los, passieren die Einfahrt zum Hinterhof und berühren Play: Shoom, dieser Track und TRST, das Album, Repeat in den wenigen warmen Wochen dieses grauenvollen Jahres.

Auf der About-Seite steht irgendwas über meine Vorliebe für sehr komplexe und sehr simple elektronischer Musik. TRST1 ist Letzteres: straighter Rave, geradeaus und wirkungsorientiert. Diese Form guter Musik ist selten. Möglicherweise erfordert die Fähigkeit, ein großes und dabei nicht triviales Gefühl zu erzeugen, bemerkenswerte Disziplin im künstlerischen Prozess und eine Form von Intuition, die sich in vielen Fällen gegenseitig ausschließen. Letztlich die Lösung der großen Aufgabe des Pop, also.

Robert Alfons (ergo: Trust) löst sie durch hinreichend düstere Textur in seiner bemerkenswerten Stimme2 und den im Nebel verhallenden Sawtooth-Basslinien. Tiefe durch dunkle Blicke, Eyeliner und gute Kleidung, die Powermoves des Goth. Sind sind der Secret Handshake: Nachdem wir uns alle darauf verständigt haben, dass wir es ernst meinen, dass wir nicht zum Spaß hier sind, dass wir nicht anders können – dann, und nur dann können wir hier gemeinsam loslassen. Arpeggios und zu viel Hall auf allem, wir wissen ja, wie es gemeint ist. Das gefällt mir natürlich.

Inzwischen ist es Winter geworden, und dieses Album ist immer noch hier. Vielleicht, weil es eines der reinen, euphorischen Erlebnisse meines Jahres war. Vielleicht, weil mir diese Form affirmativer Begeisterung so selten zugänglich ist. Platten wie diese bedeuten mir viel, weil sie mich daran erinnern, dass wir nicht nur in einer Gedankenwelt leben, sondern auch in einer Welt der Dinge3. It’s about control and all the gazing afterwards.


  1. Die Naming-Konvention ist nicht ganz klar. Ich halte es so: Trust ist der Act, TRST das Debutalbum. Slashes verwenden und Vokale entfernen like it’s 2005, also wirklich. 

  2. Deem him high/he’s bound to fall/When you say love/it sounds so good 

  3. Aus: Christian Kracht – Die Toten 

September

Ich las einige Kritiken der Drangsal-Platte. Es scheint ein Missverständnis vorzuliegen. Entgegen verbreiteter Annahme ist das ja keine Musik, und Drangsal ist keine Musikgruppe. Max Gruber mit den Annahmen und Methoden der Musikrezension zu begegnen, führt zu wenig interessanten Resultaten und übersieht die ästhetischen Maneuver, die er als Drangsal betreibt. Mal sehen:

Da ist überhaupt kein ersthaftes Interesse an der Disziplin des Musik-Machens. Das ist alles Geste, ein Mittel zum Zweck. Was Drangsal zur Aufführung bringt, existiert als Grund, um jung da oben zu stehen, am Hemd zu zerren, bös zu schauen, am Mikroständer zu reißen. Das alles ist legitim. Hier geht es um ein Ganzes, einen kohärenten Vorschlag, wie man sein und aussehen und reden kann. Eine Möglichkeit, der Welt zu begegnen.

Man muss das natürlich extrem gut machen, sonst klappt’s nicht. Gut meint in dem Fall etwas anderes als das gut in gute Musik. Es hat eher der Art und Weise zu entsprechen, auf die gute bildende Kunst gut ist, also dem einzigen Paradigma des Zeitgenössischen zu genügen: Du sollst nicht langweilen.

Das ist also alles ziemlich kippenbergerhaft. Natürlich ist solcherart künstlerisches Handeln albern und ruinös1, aber es ist auch genuin, ernsthaft und aufrichtig2. Um im Vergleich zu bleiben: Es musste vor allem anderen Martin Kippenberger ermöglichen, an der Kunstwelt teilzunehmen. Also irgendwo rumzustehen, Gläser mit Crémant über den Tresen zu werfen und grandiose Scheiße zu reden. Der Welt zu begegnen. Dazu musste der Move halt gut sein, der Approach, die Gründe, das Material und die Referenzen. Hier bestehen Parallelen.

Ein Weiteres: Wer Drangsal als konstruiert und verkopft beschreibt, und das als Kritik aufgefasst wissen will, hat nicht verstanden, worum es geht. Denn Authentizität als Zwingendes, vorgeblich aus tiefster Seele Empfundenes existiert erstens nicht und ist zweitens nicht das Ziel. Drangsal bemüht sich nicht um den Sound von Tears for Fears und Prefab Sprout. Sie verwendet was vorhanden, wahr und effektiv ist, planvoll und mit Absicht. Das Ziel ist Recht haben und schön sein. Beides gelingt.

Harieschaim ist das Debutalbum als Greatest-Hits-Platte: Ernst und sorgsam entworfen, an den jeweils richtigen Stellen aufmerksam brillant und nachlässig beschissen. Futures invade and haunt the production of both present and past. This is post-contemporaryism I can get behind, um es mit Malik und Avanessian zu sagen.


  1. Das Bad painting setzt nicht auf Überraschungen durch mangelnde Beherrschung der Technik, es entspringt einer intellektuellen Distanzierung von der Eigengesetzlichkeit des Gut-Gemachten, ja des Vollendeten. Es will verhindern, daß schlechter Geschmack durch Gewöhnung zum guten Geschmack wird. Ruinieren wird zu einer erkenntniskritischen Haltung. Sie ist nicht mutwillig zerstörerisch, sondern konstitutiv. Sie definiert das Werk von vornherein gerade deswegen als interessant, weil es keinen Anspruch auf Endgültigkeit erheben kann. Bazon Brock, Bildjournalismus als ästhetische Macht (1986).  

  2. Ich weiß, dass meine Kunst albern wirkt, vielleicht sogar dämlich, oder dass das Gleiche schon gemacht worden ist, aber das bedeutet nicht, dass ich es nicht ernst meine. Robin van den Akker und Timotheus Vermeulen, Anmerkungen zur Metamoderne (2015). 

Juni

Da ist die andere Seite des Sommers, wenn die Hitze auf der Stadt liegt und dieser langsame, schwere Regen fällt. Nass und dunkel, lange Schatten, die Luft aus Blei: Zeit für zugleich matte und überhitzte Musik, die natürliche Umgebung für Black Devil Disco Club. Ein dunkler Freakout, der jede Albernheit mit messerscharfer Attitüde balanciert – jedenfalls das Reissue-Album (28 After), die folgende LP (Eight Oh Eight) und vor allem die zugehörigen Remixes und Dubs (diverse).

Aber man kann ja auch nicht immer das gleiche hören. Leider gibt es in diesem Genre wenige Releases, die Bernard Fevre qualitativ gerecht werden1. Darum freue ich mich dieser Tage sehr über die beiden Platten von Phantom Love, die mir beim Crate Digging an einem düsteren Abend im Mai in die Hände fielen.

Valentina Fanigliulo operiert an der Grenze zwischen Krautrock und Italo Disco, also definitiv weit draußen in der kosmischen Musik. Darum geht es um Atmosphäre, Raum und Weite – aber auch um die düstere Hitze, die Black Devil Disco Club ausmacht.

An Stelle der Italo-Hysterie tritt bei Phantom Love ein schleppendes Momentum, das den Tracks ein Gefühl der Unaufhaltsamkeit, ein unendliches Voran und Nach Oben verleiht. Case in Point: Power and Passion, ein auf sieben Minuten gestrippter Hit, der auch ein Snippet aus einem unendlichen Versuchsaufbau rekursiver Vocaldelays sein könnte.

Mit der zweiten, selbstbetitelten, 12“ bewegt sich Phantom Love in die erste Dekade des Ausverkaufs synthetischer Musik: Ziemlich straighter Italo Disco, der das stoische Momentum der früheren Tracks behält. Alles hier ist heiß, verschwitzt und angenehm paranoid. Das kosmische Element der Musik hat die Mystik verloren, in diesen Tracks sind es definitiv dunkle Sterne und klaustrophobische Räume. Die ersten anderthalb Sekunden von Tropic Illness klingen wie Crockett’s Theme, diese nachdrücklich anziehende, synthetische Fläche. Wo Jan Hammer in die Melodie übergeht, stürzt sich Phantom Love ins Unendliche. Die Achtziger endeten nicht gut.

Phantom Love ist einer dieser Funde, die am Ende des Jahres 2016 hängen geblieben sein werden. Weil diese Musik emotionales Vokabular für eine Stimmung bereitgestellt hat, die mir zuvor nicht greifbar war. Ich mag es sehr, wenn das passiert.


  1. Inklusive seiner späteren Arbeiten, die er im Anschluss an Eight Oh Eight bei Lo Recordings veröffentlicht hat. Alles leider äußerst richtungslos. 

März

Faint memories of wood-panelled bars in Itaewon, absurdly coherent and outfitted in otaku-like manner, down to glinting silver tie pins and accurately replicated figure-eight moves of the Boston shaker, cheered on by three tipsy women in cream-colored dresses. The illusion of truthfulness and simplicity, of one here and one now, is profound. At the same time, a high-resolution rendering of a contemporary future is revolving on the other side of the sliding door.

Suspension monorailways moving in the distance, jittery graffiti illuminated by flickering xenon tubes. Square shoulders gently forcing their way. A multitude of scurrying feet in high heels and pristine white sneakers, knitted by servo arms in the not too distant factory halls of east Asia. The engine of a black Aventador revvs up into a booming drone. Billowing cargo trousers, heavy boots threading the ground with sawtooth soles, a squad of soldiers in mirage camouflage emerges and disappears in the crowd.

Many white stairs down, at Hangangjin station, aseptic cathedral spaces, cavernous and immaculately clean like the flight deck of a deserted space frigate. Both sound and silence are amplified. An escalator quietly lifts me towards the starry night sky. On the upper deck, the air is perfectly still.

Later, as my cab crashes into a small transporter, spatial memories whizz past. Exhaling, I leave the wreckage and join the bustling sidewalks and the lights of Night City, amidst everything and alone in the matte gray night.

(Über eine EP und einen Track von ASC, und über meinen Hang, Musik und Raumwahrnehmung miteinander zu verbinden.)

Februar

Vermutlich eignet sich diese Website auch nach zwölf Jahren als Kondensationsfläche meiner Vorhaben und Interessen. Soweit sie interessante Musik betrifft, ließe sie sich bisweilen allerdings durch einen halbwegs regelmäßig aktualisierten Scrape von http://p-a-n.org/releases ersetzen. Was PAN veröffentlicht, ist zu hören, jedes Release eine Perspektive auf den kurzen Moment Gegenwart. Gerade jetzt: die aus den rauchenden Resten der Corporate Muzak gefallener Megakonzerne zusammengebaute Attachment EP, das Debut von Ling bei Codes.

Die erste Faszination über diese Passung verwandelt sich nicht in allen Fällen in dauerhafte, persönliche Relevanz – doch wenn das geschieht, dann mit bleibendem Einfluss auf meinen Input und Output. Case in Point: Die vier Versionen von Scythians, der ephemeren, gänzlich körperlosen Hymne von M.E.S.H., veröffentlicht als digitale EP.

Das Original ist pure Atmosphäre und purer Raum, Drumsounds sind verphasete Textur, nie Rhythmus. Darum ist es gut und richtig, dass Groovestreet den Track im zentralen Remix der EP zu einem fantastischen Stomper umbaut, der schwerer und linearer nicht sein könnte: Sicherlich kein Walking down the Street Song, aber vielleicht das Äquivalent des grimmigen Voranschreitens, Runway Music, Fashioncore.

Dagegen: DJ J Heat und Logos, die in in der großen Weite des Tracks neue Resonanzräume finden. Sie sind ganz Stimmung und Versunkenheit: Die J-Heat-Version für den Postgrime-Floor, die Logos-Version für die gelegentliche sakrale Situation zu Hause, fünf Meter Deckenhöhe vorausgesetzt.

Diese EP ist (zusammen mit ihrem Ausgangstrack) eines dieser Releases, die den Umgang mit der gesellschaftlichen und ästhetischen Umgebung der Gegenwart möglich und im besten Fall erträglich machen. No leaving home without it.

Will will will will kein Bestandteil sein
will will kein Bestandteil sein
kein Bestandteil sein

nicht von dem was war – es war nichts
nicht von dem was demnächst kommt
nicht von nichts davon, nicht von dem was ist
allemal nicht, nicht davon

will will will will will will will will will
will will will kein Bestandteil sein

kein Bestandteil sein
kein Partikel im Netz
kein Staub

Dezember

Das Ziel schien wieder etwas weniger klar, in diesem Jahr, aber der Zustand des Unterwegsseins um so schöner und vertrauter. In Transit zu sein, durchweht zu werden, von den Orten und ihren Atmosphären, das ist erstrebenswert und soll so weitergehen. Weiter mit euch zu sein und unserer unzeitgemäßen Fähigkeit zu strong ties, und tatsächlichem Interesse an den Dingen und nicht ihrer Politik, das war das Beste an der Fortbewegung.

Ich war zurück an den Orten, an denen ich wirkliche Ruhe zu empfinden in der Lage bin. Meine Zeit und meine Gedanken im Garten von Hōkoku-ji, Sogetsu Kaikan, die glühenden Straßen in der Nacht von Daikanyama und mein Gespräch mit Koichi Kimura über Teeschalen und die Schönheit von Schwarz und Grün – diese Orte in der intellektuellen, emotionalen und physischen Reichweite zu haben, das ist eine Sache, über die ich nichts empfinden kann als große, ungerichtete Dankbarkeit.

Idiosynkrasie: Die anmaßende Überzeugung, die eigene Art und Weise zu handeln sei valide – das war von den Besten zu lernen, in diesem Jahr. Es ist außerordentlich befreiend, nicht Teil des Wettbewerbs zu sein, die Prämissen von Erfolg und Misserfolg selber zu definieren. Pick your fights wisely. Onwards, with supreme confidence.

Musik der Zeiten und Orte des Jahres 2015.

Winter

  • Oppenheimer Analysis – The Devil’s Dancers
  • Masta Ace – People in my Hood
  • DJ Koze – 40 Love
  • Kraftwerk – Tour de France (Etape 2)
  • Aphex Twin – Fork Rave
  • Vril – Portal 3
  • 18+ – Crow
  • The Soft Moon – Far
  • D5 – Floatation Tank
  • STP – The Fall
  • OG Maco – 5 A.M In LA
  • New Order – Video 5–6–8

Frühling

  • WK7 – Higher Power
  • Egyptrixx – Mirror Etched On Shards Of Amethyst
  • Jungle – The Heat
  • Bok Bok – Funkiest (Be Yourself)
  • Messer – Abel Nema
  • ADR – Stray Dog Strut
  • Lee Gamble – Nueme
  • Ghostface Killah – The Faster Blade
  • Grimm Doza – Intergalactic
  • Egyptrixx – Water
  • WK7 – Higher Power
  • Aliceeffect – In Virtue and Truth, not Power
  • Zum Goldenen Schwarm – Übergang

Sommer

  • Orson Wells – Open Light
  • Monomood – Greyzone
  • QY – Ghoul
  • The KVB – Pray to the Light Machine
  • Ital – Whispers in the Dark
  • Helm – Fluid CLoak
  • Sandwell District – Svar (Graz Version)
  • Shark Vegas – You hurt Me
  • U–God – Rumble
  • Ligovskoï – Labiate (Abdulla Rashim Remix)
  • Acronym – Realisation
  • Regis – White Stains
  • Monomood – Absorbtion
  • The Black Keys – Fever

Herbst

  • Anne Clark – Sleeper in Metropolis
  • Byetone – Heart
  • Einstürzende Neubauten – Sehnsucht (live, Berlin 1983)
  • anbb – Electricity is Fiction
  • GZA – Swordsman
  • Sten – City of Dust
  • STL – Silent State
  • Cut Copy – Sun God
  • Ital Tek – Mega City Industry
  • Vangelis – Blade Runner Blues
  • Efdemin – No Exit
  • Kassem Mosse – Untitled (B4)

Winter

  • D5 – Transglide
  • Ryan Elliott – Smith Lake
  • Helena Hauff – Sworn to Secrecy (Part I & II)
  • Scratch Massive – Pleine Lune
  • Abdulla Rashim – A Shell of Speed
  • Ital Tek – Universal Decay
  • Stieber Twins – Schlangen sind giftig (Figub Brazlevic Remix)
  • Helena Hauff – Spur
  • My Disco – Recede
  • Lee Gamle – B23 Steelhouse
  • Acronym – Siege

Sets

Zu sagen, meine Begeisterungsfähigkeit für Musik habe abgenommen, erscheint mir falsch, beinahe erschreckend. Doch wenn ich über meine Rezeption der Platten des Jahres 2015 nachdenke, muss ich zugeben, dass es weniger Momente gab, in denen Musik mit Nachdruck alles übernahm. Den Ort, die Zeit und das Befinden beschrieb, massiv Hier und Jetzt war. Ich möchte das meinem Alter anlasten, der damit einhergehenden weiteren Spezifizierung in Allem, der größeren Kompromisslosigkeit und der Ignoranz gegenüber dem Uninteressanten. Noch bequemer wäre es, das Jahr 2015 für ein schwächeres zu halten. Oder jedenfalls eines, in dem sich die guten Releases mit anderen ästhetischen Themen befasst haben als ich.

Atmosphäre, Haltung, Gestus: Auch in diesem Jahr haben mich formale Kriterien, Eigenschaften der Performance und der Inszenierung mehr interessiert als Genres oder inhaltliche Kriterien. Nirgendwo hat dieser Zugang zu Musik besser seine Entsprechung gefunden als beim Atonal, in seiner kristallinen Schönheit.

Ich mag orthogonal zum Zeitgeist leben oder noch einspuriger in meinen Interessen geworden sein. Dennoch war es auch in diesem Jahr so, dass die entscheidenden Augenblicke von Musik begleitet waren – vielleicht sogar intensiver und ausgezeichneter als im vergangenen Jahr. Wenn ich meine fünf Platten des Jahres nenne, gehört jede an einen Ort des Jahres 2015.

  • GZA – Liquid Swords (Geffen)

    Eine zwanzig Jahre alte Platte, als hätte ich meinen stagnierenden Musikgeschmack nicht bereits hinreichend beklagt. Ich habe dieses beste Wu-Tang-Solo-Album zwischen 1996 und 2015 viele hundert Male gehört: GZAs niemals stoppender Flow, die Abwesenheit jeglicher Ornamentierung in Beats wie Rhymes, die Shogun Assassin-Parabel. Die gleichen Gründe, damals wie heute. Doch letztlich ist es die rohe Langsamkeit in Allem, die dieses Album in diesem Jahr wieder für mich relevant gemacht hat. Diese alten Geschichten aus dem fernen Jahrzehnt, sie sind ebenso weit von uns entfernt wie die chinesischen Clans der Shaw-Brothers es von den Kids in Staten Island waren – und darum eignen sie sich zur ästhetisierenden Näherung, in ihrer abstrakten Eleganz. I’ll be the body dropper/the heartbeat stopper/child educator plus head amputator, wie gesagt.

  • Ital Tek – Mega City Industry (Civil Music)

    Auf dem Weg entlang der Bahnlinie, im Niemandsland der Umgebung des Umeda Sky Buildings in Osaka realisiere ich, wie zwingend großartig diese EP ist – und dass sie ihre Entsprechung an diesem Ort findet. Osaka ist der Stadt gewordene Sprawl, eine verdichtete, verwobene Menge Infrastruktur, wuchernde Architektur. Der Ort, an dem an der Erschließung weiterer vertikaler Ebenen der urbanen Struktur gearbeitet wurde – die überdichte Bodenebene sollte dem Transport und der Industrie überlassen werden. Mega City Industry beschreibt diese Situation überaus treffend.

    Es sind vier monumentale Tracks, weite graue Schluchten zwischen ewig oszillierenden Ital-Tek-Beats. Trotz ihrer epischen Skalierung und der industriellen Atmosphäre bleibt ihre Welt durchquerbar – wir scheinen die Umgebung über die glühenden Armaturen eines Spinner-Cockpits hinweg zu betrachten. Die Tage in dieser Stadt, ihre Lichter in der frühen Abenddämmerung und Universal Decay in meinen Headphones werden zu den klarsten Erinnerungen dieses Jahres gehören – und diese EP zu seinen ästhetischen Orientierungspunkten.

  • 18+ – Trust (Houndstooth)

    Der Gedanke von R’n’B ist mir sympathisch, die Sleaziness und die Körperlichkeit des Genres vor allem. Seine Erscheinungsformen der letzten 40 Jahre haben mir allerdings selten gefallen1. 18+ begegneten mir im Januar, an einem Nebenschauplatz des Health Goth/Aesthetics-Diskurses2. Ihr stilisierter, hyperzeitgenössischer Vorschlag zum Thema R’n’B gefiel mir auf Anhieb, von der I-got-five-on-it-haften Selbstbefriedigungsankündigung All the Time bis zur ernst gemeinten Erklärung fragiler Nähe in Almost Leaving. Trust wird den Begriffen Rhythm und Blues gerecht – es geht um die Stimmen von Samia Mirza und Justin Swinburne, und es geht um den Groove, und um sonst gar nichts.

    18+ funktionieren, weil sie weit jenseits überkommener Authentizitätserwartungen operieren. Richtigerweise handeln sie innerhalb ihres selbstgewählten ästhetischen Formats, dessen Regeln selbstverständlich kontingent, doch deren Befolgung genuin und ernsthaft sind. Mehr davon, weniger von dem, was die anderen machen.

    Trust war meine Platte in Rom, in der fahlen Sonne und den Nächten in Testaccio. Ihre Langsamkeit und Abgeklärtheit, die Erinnerung an das Innere, das Unterbrechen des ewigen Rumdenkens zugunsten unmittelbarer Körperlichkeit, davon war viel zu lernen. Und Crow blieb einer der eigensinnigsten und schönsten Tracks des Jahres 2015.

  • Acronym – June (Northern Electronics)

    Was ich eingangs über Atmosphäre und ästhetische Geschlossenheit sagte, trifft in besonderem Maße auf June zu, das Acronym-Release auf Northern Electronics im Frühling dieses Jahres. Es ist eine stringente, klar erzählte Platte – selten habe ich sie nicht vollständig gehört, von Anfang bis Ende, ihrer hypnotischen Wirkung durch die überhitzte, organische Welt folgend.

    Vermutlich waren Ort und Kontext meiner Wahrnehmung von June nicht unwichtig für meine Begeisterung: Ich las viel und hörte viel Musik, in meiner Woche im Waldgebiet Pedras Salgadas im Norden Portugals: In erster Linie ältere Releases des Sandwell-District-Umfelds3, während ich am Pool liegend eine fantastische Oral History der westamerikanischen Szene in den frühen Zweitausendern las.

    Ich gewöhnte mir für einige Tage eine weirde Routine aus morgendlichen Besuchen im neoromanischen Spa-Raumschiff und nachmittäglichen Spaziergängen durch heiße, menschenleere Nadelwälder an – untermalt von dieser bemerkenswert organischen Technoplatte. Angenehm abgefahren, im Wortsinn, also stimulierend und erholsam zugleich.

  • Lee Gamble – Koch (PAN)

    In meinem Text über Koch schrieb ich im März über poröse Oberflächen, also über Objekte, deren äußere Schicht durch maximale Komplexität und Unebenheit besondere Eigenschaften gewinnt – besondere Bindungsfähigkeit, extreme Traktion, Reibung und Haftung, zum Beispiel. Dieses Bild scheint mir weiterhin richtig für diese Platte: Koch lässt Raum für alles, sie stellt Verbindungen her, sie maximiert Komplexität, sie maximiert Reibung.

    Im Rückblick ist daran besonders bemerkenswert, dass die 16 Tracks in ihrer Rauheit gleichermaßen als Input wie als Output funktionieren. Sie sind großartige Resonanzobjekte für die eigenen Gedanken und ästhetischen Versuche – und gleichzeitig eine vielschichtige Quelle für Inspiration und Input im Bezug auf die Themen des Jahres 2015. Case in Point: die disparate und doch absolut balancierte Komplexität von Oneiric Contour, ein Track wie eine Stahlskulptur im Nebel – oder das Arrangement reiner urbaner Kinetik in Jove Layup. Der Ort für diese Tracks war in Transit, auf der Reise, an den Nicht-Orten des Dazwischen.

    Koch hatte immer eine Frage oder eine Antwort für mich, es hat das Jahr 2015 für mich fassbar gemacht. In den vergangenen 12 Monaten habe ich wenig Musik gehört, die so interessant, schön und zeitgemäß war. Überhaupt hat PAN einen seit 2014 andauernden Run herausragender Veröffentlichungen – vereint durch die unbedingte Bezugnahme auf das Aktuelle und eine seltene Ernsthaftigkeit des künstlerischen Anspruchs. Diese Platte ist das herausragende Beispiel.

Weiterhin exzellent: Regis – Penetration, Helena Hauff – Discreet Desires, Helm – Olympic Mess, Sandwell District – Feed Forward, My Disco – Severe, STL – At Disconnected Moments, Vangelis – Blade Runner OST, Zum Goldenen Schwarm – Aufgang


  1. Inklusive des The-Weeknd-induzierten Revivals vor einigen Jahren, und über Kendrick Lamar rede ich gar nicht erst. 

  2. Ausgangspunkt: Der sehr gute Text What Health Goth actually means von Adam Harper und seine Abstraktion und Ausweitung auf den Begriff der Beschleunigung im Bezug auf Popkultur und Ästhetik. 

  3. Immer wieder Feed Forward und die jährlichen Compilations von Regis und den anderen Alter Egos Karl O’Connors. 

Über Severe, das neue Album der australischen Gruppe My Disco.

Den zentralen Track einer Platte an ihren Beginn zu stellen, übergangslos mit dem Powermove zu beginnen – darin liegt eine schöne und seltene Arroganz. Im Falle von Severe ist diese Platzierung von Recede, dem stärksten Stück der LP, außerdem eine programmatische Ansage: Kein Zögern, keine Unsicherheit hier. Severe ist eine monumentale Platte. Klar, präzise, mit überaus hoher Dichte. Ihre Tracks finden in der Weite des Raumes statt, definiert und ausgelotet durch Drones und Feedback-Schleifen. Dem gegenüber stehen Ausbrüche größter Intensität und Tightness: massiv, opak, scharfkantig. Hinzu kommen Texte in Fragmenten, die den hypnotischen Fokus der Musik weiter präzisieren.

Das Ergebnis ist ein großartiges Release von geradezu sakralen Dimensionen. Der ästhetische Vorschlag von My Disco ist im besten Sinne single-minded. Kein Moment der acht Tracks ist vergeudet, jeder Sound und jede Abwesenheit von Sound trägt zur Realisierng eines Monuments bei. Ein treffend betiteltes Album mit treffendem Artwork. Ein Album für den Winter, für die Wege mit gesenktem Kopf, für die stille Freude an der Dunkelheit der Welt und der eigenen dazu.

November

The most perfect track/this place in space-time

Die Luft ist kühl und trocken, im Erdgeschoss des Sogetsu Kaikan, in Minato-ku, Tokyo. Das mag mit den großen Mengen Granit im Foyer des Gebäudes zu tun haben, oder mit dem Oktober in dieser Stadt. Es ist niemand hier. Vermutlich gibt es eine Art Hausmeister, sein Platz ist verlassen, der Empfangstresen ebenso. Der Granitgarten ist zwei Geschosse hoch geschichtet, ein Stapel verschachtelter Plateaus. Wo es notwendig ist, sind sie durch wenige Treppenstufen verbunden. Fließendes Wasser ist das einzige Geräusch, abgesehen von den kaum hörbaren Schritten meiner Air Rift auf dem grauen Stein. Ich bin in Ruhe, im Arrangement aus Raum und Licht und Nichts: Heaven, gestaltet von Isamu Noguchi, 1978.

Wie so häufig in Japan ist der Kontext, das Zwischen den Dingen, der zu betrachtende Aspekt. Die Granitsituation findet in einem Gebäude statt, das Kenzo Tange Mitte der siebziger Jahre entworfen hat. Das heißt: es geht um Glas und Licht und Stahl, um den Kontrast zwischen Material und Nichtmaterial. Das Foyer ist schwer und leicht zugleich. Ich stehe im Zentrum, im *Ma* des Arrangements, umgeben von Architektur, die sich darauf beschränkt, das Licht des Raumes zu lenken. Quiet, staggering beauty, both grounded and ephemeral. Ich bin auf eine Weise ruhig, zu der ich nur in diesem Land fähig bin.

In einem zwölf meter langen Glaskubus oberhalb des Foyers hat vor kurzem ein Ableger von Switch Coffee eröffnet. Ich steige die Treppe hinauf und betrete den Raum, der das Foyer wie der Oberrang eines Theatersaals die Bühne überblickt. Das Café ist leer, ein langer Tresen für den einzigen Angestellten. Ein langer Tresen auch für die Gäste, die Oberfläche aus spiegelglattem Stein, der die Spots der Deckenbeleuchtung unscharf zurückwirft. Abgesehen vom Barkeeper und mir ist niemand hier. Ein kalter Espresso, ich nehme Platz.

Musik füllt diesen Raum. Unten im Granitgarten war davon nichts zu hören, doch der Raumklang hier im Kubus ist exzellent. Während ich auf den Kaffee warte, schichtet sich Soundfläche auf Soundfläche, drei wechselnde Basslinien, Tamburin, Perkussion. Irgendwo sehr weit hinten verhallen Gitarren. Darunter stoische 4/4-Motorik, 108 BPM. Immer nur vorwärts, immer weiter nach oben. Alles schiebt. Die Welt geht auf, ein goldener Moment.

Ich bin hingerissen von diesem Ort und diesem Klang, von seiner Klarheit und seiner Wärme. Ich vermute ein zeitgenössisches Tape Tokyoter Neo-Krautrock-Otakus – und liege äußerst daneben. Denn wie der Barkeeper und ich gemeinsam herausfinden, hören wir den fünfzehn Minuten langen Outro-Track der Cut-Copy-Platte1 namens Zonoscope. Ich lese den Titel und muss grinsen: Sun God.

Die unwahrscheinliche Passung aus Musik und meiner verkopften Psychogeografie, das Licht im Foyer, dieser geheime Ort, versteckt mitten in der Öffentlichkeit – das alles ist viel zu schön und kohärent. Ich war dort, an diesem Ort zu dieser Zeit. Ich muss aufnehmen, und aufschreiben wie es war, und daran scheitern. No adequate gesture for beauty/beauty remains in the impossibilities of the body.


  1. Genau, Cut Copy. Die Gruppe, die damals zu spät kam, als wir den letzten Kater unserer Elektroclashparties gerade ausgeschlafen hatten. Sie haben einfach weitergemacht. 

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