electricgecko

Juni

Es gehört zu den Konstanten der Kulturproduktion, dass die ursprüngliche Formulierung einer Idee zu ihrer Messgröße wird. Sie markiert einen neuen Punkt im System des Gesamtwerks, von dem aus Fortschreibungen, Verbindungen und Revisionen möglich sind – doch es ist diese erste Formulierung, in der die Idee ihre größte Präzision und Wildheit erfährt. A.k.a.: Die erste Platte ist immer besser als alle Folgenden.

Case in Point: The KVB sind inzwischen zu einer Gebrauchsmusikband mit einem großen Repertoire aus Wave- bis Darkwave-beinflusstem Pop geworden. Ihre aktuelle Veröffentlichung (Mirror Being) ist das Joy Division Best-Of einer alternativen Timeline, in der sich Ian Curtis nicht in seiner Küche erhängt, sondern als ausgewaschener Mitfünfziger schließlich mit allem seinen Frieden gemacht hat. Klingt ganz gut, auch von oberflächlich interessierten Zeitgenossen ästhetisch decodierbar, egale Musik.

Allerdings gab es den Punkt, an dem The KVB einen spannenden Vorschlag gemacht haben: Eine Reihe von Releases zwischen 2011 umd 2013, beginnend mit ihrem Debut Into the Night, über die exzellente Always Then bis zu Immaterial Visions. Alle diese Releases gingen zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung an mir vorbei. Die Folge: Ich verbringe den zögerlich beginnenden Sommer des Jahres 2015 mit den atmosphärisch vollkommen unpassenden Tracks Captives und For the Day, die eher in den dunklen Hamburger Oktober gehört hätten. Doch ich kann nicht anders; das ist ganz unwiderstehliche Musik. Präzise in ihrer Verrauschtheit, reduziert in ihrem Material, mit Atmosphäre, mit Nachdruck. Hinzu kommen einige unterhaltsame Überraschungen, wie etwa der Surf-Opener Shadows, der vor einigen Jahren so auch von den Horrors hätte kommen könnnen – hätten sie etwas mehr Humor.

Diese Alben sind kein Revival, sondern eine ziemlich gut verdichtete Idee zum Zeitpunkt ihrer ursprünglichen Formulierung.

März

Happening: appropriation and re-contextualisation in popular culture has eclipsed real-time, notierte ich vor einigen Tagen in der Datei namens 2015.md. Es ist eine Randbemerkung eines größeren Themas, keine besondere Erkenntnis, a fact of the matter. Die Gegenwart zieht sich – und ihre ästhetischen Vorschläge verlieren auch den Rest ihrer verbliebenen Linearität. So gesehen ist Lee Gambles exzellente Koch-LP eine Platte, die nahtlos an die Entwicklungen der letzten drei Monate anfügt – auch wenn sie bereits im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde.

Koch ist ein Album im Wortsinn, also eine zugleich vielfältige und konsistente Arbeit – und damit im Bezug auf elektronisch Musik eine rare Sache. Jeder der 16 Tracks ist notwendig, vom raumgreifenden Techno in Jove Layup bis zur Texturmedition Oneiric Contour. Zusammen wirken sie wie der Blick auf die nächtliche Topographie einer Metropole – kontrastreich, verschachtelt, voller Leerstellen und Strukturen in verschiedenen Zuständen des Auf- und Abbaus. Aus dieser Höhe treten Patterns und ihre Echos in den Vordergrund, das Gefühl für das Verhältnis des Raumes und die Texturen der Sounds. In keinem Track ist dies deutlicher zu spüren als in Nueme – dessen perfekte, wiederholungsfreie Dramaturgie in der kunstvollen Verstaubtheit seiner Oberflächen beinahe gar nicht auffällt.

Es ist die Porosität ihrer Oberflächen, die dieser Platte so anknüpfungsfähig macht: Sie lässt Raum für alles, sie stellt Verbindungen her, sie maximiert Komplexität, sie maximiert Reibung.

  • Lee Gamble – Koch. 2xLP. PAN, 2014.

Dezember

Am Ende des Jahres finde ich mich vor den Fenstern eines hohen Raumes wieder, von dem ich vor zwölf Monaten nicht wusste, dass er existiert, nicht für mich und nicht in der Welt. In Ruhe gelassen in formloser Zeit, git push, die schweren Schuhe und Genmaicha einander abwechselnd. Gute Settings zu erkennen, sie herzustellen und ihnen zu folgen, das ist eine ernstzunehmende Aufgabe. Mit der Zeit scheinen die einfachen Ratschläge sinnvoll zu werden, und die Unterbrechung der Geschwindigkeit notwendig.

Ich habe einen großen Teil des Jahres 2014 damit verbracht, Musashi zu lesen, die große Erklärung des japanischen Weltzustands anhand seines prägenden Jahrhunderts. Es hat viele Stunden gedauert, diesen Text zu verstehen, seine Komplexität und seine Einfachheit anzunehmen und das eigene Verständnis zu finden. Die Lektüre war eines der signifikanten Ereignisse meines Jahres, und in seiner Langsamkeit und Routine maßgebend für vieles andere. Eat your rice, drink your tea, wear your clothes.

Schließlich: Jahreszeiten und ihre Tracks. Signifikant, Teil von Settings und Personen. Protokolliert in Transit, starrend auf die Devices, die alles enthalten sollen.

Winter

  • Mobb Deep – The Start of your Ending (41st Side)
  • Real Lies – North Circular
  • Laurel Halo – Ainnome
  • Patten – Re-Edit13
  • Peter van Hoesen – Seven, Green and Black (SCB Edit)
  • Samuel Kerridge – Death is upon us
  • Rainer Veil – Three Day Jag
  • Kareem – Downfall
  • Darkside – Metatron
  • Claude Young – Hawking Radiation
  • Ø – Syvyydessa Kimallus

Frühling

  • Messer – Staub
  • Polar Inertia – Antimatter
  • Manuel Göttsching – E2E4
  • Thompson Twins – Love on your Side
  • Efdemin – Track 93
  • Cold Cave – Don’t Blow up the Moon
  • Millie & Andrea – Stay Ugly
  • Pantha Du Prince – Lauter
  • Carsten Jost – Love
  • Rick Wade – Naomi
  • Kyoka – Flashback
  • Charizma & Peanut Butter Wolf – Methods
  • Messer – Lügen
  • Byetone – Black Peace

Sommer

  • Darkside – Heart
  • Circuit Diagram – Amanar
  • Inhalt – Black Sun (Timothy J Fairplay Remix)
  • Fennesz – Sav
  • Millie & Andrea – Spectral Source
  • Sleaford Mods – Tied up in Nottz
  • Diamond Version – Feel the Freedom
  • New Order – Turn the Heater On
  • Aoki Takamasa – Rhythm Variation 02
  • Carsten Nicolai – Zone 01
  • Messer – Gassenhauer (All diese Gewalt Remix)
  • Alva Noto – Xerrox Phaser Acat 1

Herbst

  • Atrium Carceri – Crusted Neon
  • Vril – Torus II
  • Lanzo – Hepburn
  • Giorgio Moroder – The Chase
  • The Horrors – Falling Star
  • Quiet Village – Desperate Hours
  • MIT – Elektronix
  • Matatabi & Madrob – Gong
  • Innerspace Halflife – Phazzled
  • Sendai – Triangle Solution
  • Von Spar – V.S.O.P.
  • Vril – Torus XXXII
  • SNTS – N4

Winter

  • Andy Stott – Science and Industry
  • Senking – Shading
  • Pantha du Prince – Satin Drone
  • Von Spar – One Human Minute
  • Objekt – Glanzfeld
  • DAF – Ich und die Wirklichkeit
  • New Order – Mesh
  • Silent Servant – Process
  • Dino Spiluttini – Anxiety
  • Kraftwerk – Musique Nonstop
  • Objekt – Strays
  • The Soft Moon – Black

Es gibt eine Spotify-Playlist, der vieles fehlt, was interessant und komplex ist. Flatrates sind kein Format für ernstzunehmende Musik.

Sets

Meine Auseinandersetzung mit Musik wurde langsamer in diesem Jahr, weniger kontinuierlich. Sie fand in Schüben statt. Es ist für mich zu einem bewussten Akt geworden, Rezensionen zu lesen, die Websites von Modern Love, Drone, PAN und Delsin zu öffnen und eine Stunde damit zu verbringen, neue Releases zu hören. Meine Wege in den Plattenladen sind Unternehmungen, keine Routine mehr auf dem Heimweg oder an Samstagen. Um so mehr habe ich die herausragenden Releases geschätzt und wahrgenommen. Sie wurden dauerhaft Teil der Playlists Commute und Psychospatial auf meinem Mobiltelefon1 – und damit zentrale Beiträge zu meinen ästhetischen Themen des Jahres 2014.

Ich habe mich für Gewicht und Nachdruck interessiert, für die Bedeutung von Masse und die Art von unnachgiebiger Schönheit, wie sie nur auf struktureller Ebene möglich ist.

Das willkürlich verdichtete Ergebnis sind fünf LPs, die mir geholfen haben, meine Umgebung wahrzunehmen, das Empfinden zu schärfen und neue psychologische Räume zu schaffen.

  • Vril – Torus (Forum)

    Die vielverklärte Geschichte vom großen Moment auf dem Floor ist wahr, und ich erlebte einen dieser Momente Anfang des Jahres in den Nebelschluchten des alten Heizkraftwerks am Wriezener Bahnhof. Vril brachte sein Gesamtkunstwerk zur Aufführung: ein Set wie ein Massiv aus schwarzem Quarz, kohärent und direkt. Torus ist der Zwischenbericht seiner langsamen Evolution: Harter, deeper, vollständig unironischer Techno. Es ist die Fortsetzung der 12″s auf Staub, die Konkretisierung eines ebenso simplen wie perfekten ästhetischen Vorschlags. Mit einiger Wahrscheinlichkeit werde ich 2015 an dieser Stelle die nächste LP namens Portal nennen.

  • Millie & Andrea – Drop the Vowels (Modern Love)

    Eigentlich hätte ich Andy Stotts fantastische Faith in Strangers als Teil dieser Liste nennen müssen, für seine Bedeutung zum Ende des Jahres (und allein für Science and Industry), doch seine gemeinsame Arbeit mit Miles Whittaker erschien mir bezogen auf zwölf Monate als die signifikantere Platte. Drop the Vowels ist ein großer Fake. Eine zu hundert Prozent auf den Floor orientierte LP voller Hits, die so tut, als sei sie ein verstelltes, rohes Hardcore/Jungle-Album. Diese Anwendung des Miles/Demdike Stare/HATE-Sounds auf das Prinzip Peaktime hat mir große Freude bereitet – von den kaskadierten Breaks in Corrosive bis zur warmen B3 in Spectral Source. Stay Ugly, Motherfucker.

  • Von Spar – Streetlife (Italic)

    Von Spar sind einer der wenigen Acts, die es schaffen, sich kontinuierlich zu verändern ohne jemals schlechter zu werden. Jede Veröffentlichung ist konsistent, richtig und eine logische Folge ihrer Vorgänger. In diesem Zusammenhang ist Streetlife großer Pop – und die Folge der deutlich krautlastigeren Foreigner und den Electro/Math-Releases Von Spar2 und Die uneingeschränkte Freiheit der privaten Initiative. Streetlife ist eine durch und durch moderne Platte; die schönste und reinste Popmusik, die in diesem Jahr in der Reichweite meiner Wahrnehmung veröffentlich wurde. Dass Von Spar trotz dessen nicht ein Messerbreit and Präzision und Sharpness verlieren, ist Verweis an das Prinzip Krautrock und die Werte seines Düsseldorfer Ursprungs genug. Oh, und das Sax, Alter.

  • Messer – Die Unsichtbaren (This Charming Man)

    Ich schrieb es im November – es gibt immer Raum für rohe, kluge Gitarrenmusik in meinem Leben. Meine Faszination für Worte, ihre Bedeutung und ihre Verdichtung zu Parolen lässt mich an Gruppen wie Messer nicht vorbei: Ich habe kein Album in diesem Jahr häufiger gehört als Die Unsichtbaren, und das hat gleichermaßen mit seiner musikalischen Kohärenz wie der Klugheit seiner Worte zu tun. Die kapieren nicht, Lügen – Illustrationen einer Stimmung, des Regens auf den Straßen, des bösen Lächelns. Intensität, Disziplin, Klugheit.

  • Darkside – Psychic (Other People)

    Schließlich: Die Platte des Jahres, das Jahr des Jahres. Selten habe ich erlebt, dass mich die ästhetische Signifikanz eines Albums so unmittelbar und ohne eine Spur des Zweifels getroffen hat – Psychic hat mich tatsächlich umgehauen. Seine unglaubliche Langsamkeit, der Nachdruck, der monströse Groove (Case in Point: Metatron) sind musikalische Formulierungen einer Empfindung, für die mir bis dato Worte und formale Beispiele gefehlt hatten. In der Rückschau war dieses Album prägend für das Jahr 2014, für meine Interessen und meine Art mich durch die Welt zu bewegen. Ich halte Psychic für eine der singulären Platten der letzten Jahre.

Darüber hinaus wichtig: Andy Stott – Faith in Strangers, Alva Noto – Xerrox Vol. 2, Rainer Veil – New Brutalism, Efdemin – Decay, SNTS – Scene II, New Order – Peel Sessions, Fennesz – Bécs


  1. Wie falsch dieses Wort ist. 

  2. Xacapoya gehört nach wie vor zu meinen liebsten Tracks komplexer Gitarrenmusik – so viel Dichte, so viele Spannungen, so viele Hits in 22 Minuten. 

Das Cover der Flatland-LP zeigt einen Strang glänzenden Tapes, das sich raumlos zu möbiusartigen Schleifen windet. Es ist ein überaus passendes Motiv für eine Platte, deren kinetische Energie sich ohne einen substanziellen Körper entfaltet. Auf seinem Full-Length-Debut baut T.J. Hertz (sic/alias Objekt) ein Mesh aus Drumpatterns, Klicks und Sounds, das ohne jede Fläche bleibt. Es ist ein körperloser Sound, dessen Punch mittelbar, aber um so massiver spürbar ist. Es braucht einige Sekunden, bis sich das Muster von Strays manifestiert – ein komplexer, gewichtsloser Hit, a force without a body. 11 Tracks mit wechselnden Parametern und Positionen im Raum, oder, wie die Selbstauskunft treffend beschreibt: A convoluted mess of elektrology and teknology.

November

Es ist eine andere Stadt, wenn es wieder dunkel ist, wenn der Regen zurückkehrt nach dem langen Sommer. Wenn die Tage ihre Verschalung ablegen und die grimmigen Fundamente aller Dinge wieder hart und schön zu spüren sind. Regen, Füße auf den Asphalt und eines der besten Gefühle: Dringlichkeit, a Sense of Urgency.

Rockmusik ist zurück in der Stadt, und mit ihr die Werte, die sie mich gelehrt hat. Das Zerren an der einen Stelle, der bedingungslose Drang nach vorne. Das Zersplittern. Die Freude am Unmittelbaren, an der Rohheit. Der Ekel vor den Idioten.

Die Jahre sind vergangen, und mein Zugang zu dieser Musik scheint sich inzwischen auf eine herausragende Gruppe zugleich zu beschränken. Messer sind diese Gruppe, in dieser Stadt, in diesem Wetter. Sie wäre es bereits länger, hätte ich Im Schwindel (2012) und Die Unsichtbaren (2013) nicht in den vergangenen beiden Jahren ungehört abgetan – als Veröffentlichungen eines Genres, in dem selbst die Jungen vorauseilend gehorsam konservativ sind. Sie wäre es bereits länger, hätte ich nicht erst das Konzert im Hafenklang im März besucht.

Messer sind nicht genreprägend. Sie sind bemerkenswert aufgrund der Art und Weise1 wie sie das Maneuver Punkrock vollführen. Ein großer Teil der Qualität der Gruppe Messer liegt darin, ihre überbordende Intensität ihrer Disziplin und Exaktheit zu unterwerfen – und im Verlauf von Songs und Alben genau daran zu scheitern. Hooklines und Bridges reißen sich frei, bevor die Gruppe sie scheinbar nur mühsam wieder in das Korsett des Songs zwingt2. Es sind Hits für einige Sekunden, Popmusik und keine Angst. Ein Moment grimmigen Triumphs im Licht der Straßenbeleuchtung, dann weiter in die Dunkelheit, entlang des Asphalts, der Regen.

Intensität, Disziplin, Klugheit. Messer wären eine geringere Band ohne ihre eigene Sprache. Hendrik Otremba schreibt Parolen, es sind Bildfolgen in kohärenten Settings, direkt, repetitiv und reduziert. Verben sind selten in diesen Vignetten. Messer bewegen und handeln nicht, sie beschreiben die Momente und Orte eines Lebens, seine Farben, eine Perspektive: Die Stadt im Sommer, die Stadt im Regen. Wasser auf Asphalt, der Geruch von Nebel/Ein Streuner auf der Straße, durstig, müde, schwach.

Ich habe die beiden Messer-LPs viele Monate dieses Jahres gehört. Doch es bleibt Musik für das Dunkle, für den Regen und für die grimmige Freude and der Unnachgiebigkeit der Welt, it came into its own, im November. Für das Heimkehren ins Helle, für den Ausbruch und das eigensinnige Schöne.

Intensität, Disziplin, Klugheit.


  1. Wiederum: how not what

  2. Cases in Point: Die letzte Minute von Die kapieren nicht, die letzten 30 Sekunden von Staub

Mai

Es gibt einen Grundsatz für die Animation von Special Effects: große Dinge bewegen sich langsam. Je größer ein Raumschiff, desto langsamer sind seine Maneuver. Je massiver die Explosion, desto zeitlupenartiger bersten die Einzelteile des vergehenden Planeten durch das All. Langsamkeit ist in der Lage, Gewicht und Dichte zu suggerieren – das gilt für visuelle CGI wie für Musik (c.f. Andy Stott).

Es ist diese massive Langsamkeit von Psychic, die der Debut-Platte des Duos Jaar/Harrington ihre Gravitas verleiht. Sie findet ihren Ausdruck in der Anwendung des unaufhaltsamen, sequentiellen Vorwärts des Krautrock auf ein technisiertes Hier Und Jetzt. Psychic ist ein Album voller programmierter Grooves, so langsam und nachdrücklich als bewege sich Leviathan in karibischem Wasser um die eigene Achse. Wir betrachten versonnen Spiegelungen der Sonne auf den Wellen, und massive Wärme sinkt vom ultramarinen Himmel.

Psychedelia, Krautrock, kurz vor Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Nach vorn, nach oben.

Psychic trifft seinen ästhetischen Moment: das Ende der Fiktion der Moderne, die Auflösung ihrer schlanken Eleganz in Breite und Nachdruck im Heck des Maserati Merak (1972). Filz und Pelz und die Revers von Joseph Beuys (1974) in der Kollektion für Herbst und Winter 2014 von Siki Im. Die Ablehnung der Ökonomie, die nachlässige Breite dieser Referenzen erscheint im Jahr 2014 wieder sinnvoll und passend. 1974 ist das zu samplende Jahr, und Nicolas Jaar wusste das früher und besser als wir.

Psychic könnte nicht treffender betitelt sein, sein Artwork nicht richtiger, seine Wucht und sein Tempo nicht zeitgemäßer. Es ist eine Platte für den dunklen Sommer: Sleazy, breit, schwer. Und da es sich um Krautrock handelt, findet sie erst mit dem letzten Track zu ihrem Höhepunkt. METATRON ist ein maximal volles und präzises Stück. Musik von derart zeitlupenartiger Wucht, dass ihr Titel nur in Versalien korrekt buchstabiert erscheint.

Psychic ist ästhetischer Zeitgeist, formuliert als Popmusik, Hits, interessant und neu. Ich halte dieses Album für eines der besten der letzten Jahre.

Februar

Die Missverständnisse der groben Bauweise: sie sei lebensfeindlich, unproportioniert und abstoßend. Ihren Oberflächen fehle es an Finish, zu Industriell und funktional, als dass hier jemand Freude empfinden könnte. Brutalismus hat einen schlechten Ruf. Seine Bemühungen um Schönheit, einfache Antworten und die Eleganz der Linie machen seinen Kern aus, sie sind konsequent auf die Struktur des Entwurfs gerichtet, nicht auf dessen nachträgliche Verkleidung.

In diesem Sinne hätten Rainer Veil den Titel für ihr zweites1 Release – New Brutalism – nicht treffender wählen können. Denn ihr ästhetischer Entwurf ist konzentrierte Struktur, im Mikro (in den Tracks) wie im Makro (in der Dramturgie der Platte). Auch hier: Grobe Bauweise. Rainer Veil schichten und konfrontieren Parts auf modulhafte Weise, gleichermaßen in sich geschlossen und auf die folgenden Formen verweisend.

Dabei bleibt die Arbeit von Liam Morley und Dan Valentine in allen fünf Tracks einem atmosphärischen Gebiet verbunden, und damit angeschlossen an das große Thema des vergangenen Jahres. Es ist die überproportionale Tiefe des Raumes, die Monumentalität der Fläche, in der die disparaten Vorschläge dieser EP ihr Fundament finden. Das gilt für den sonnenwarmen Beton in Strangers wie für das straighte Amen Break in Three Day Jag, dem ebenso spartanisch2 wie hyperpräzise konstruierten Hit der Platte. Run Out erlaubt schließlich den Weg zurück durch die zuvor passierten Strukturen und gibt den weiten Blick frei – ein Foyer, gewissermaßen.

Fokus, die Abwesenheit jeglicher Ornamentierung, der nicht nachgebende Wille zu struktureller Schönheit. New Brutalism indeed.


  1. Release eins, die deutlich humanistischer geratene Struck EP, ist ebenfalls unbedingt zu empfehlen. 

  2. Ich wähle dieses Wort als unzulänglichen Ersatz für den sehr viel treffenderen englischen Begriff austere

Dezember

Es scheint, als sei es immer wieder so: Die Sonne am letzten Tag des Jahres, die durch die Fenster eines Appartments in Berlin scheint. Keine Bewegung in der Luft, als setzte sich die große Ruhe der vergangenen Tage von innen nach außen fort. Auch heute. Der Unterschied liegt nicht im hier und jetzt, sondern im vergehenden Jahr. Nicht um dem Schluss des vorigen Jahres zu widersprechen, sondern weil es so ist: Dinge verändern sich nicht nur inkrementell, sondern plötzlich und zum Schlechten. Die große Aufgabe besteht darin, sie nicht an gewonnene Perspektiven heranzulassen, egal wie erfolglos es für lange Zeit scheinen mag.

Das also war der große Versuch im dreißigsten Jahr, in dem ich einige der schrecklichsten und einige der schönsten Dinge meines Lebens gesehen habe. Das Heraustreten in die Sonne am Chichū-Museum, Klang und Bild von Rei Natos Matrix im schönsten Raum der Welt, über der Stadt und durch sie hindurch. Schönheit in Textur und Habitus, Exzess in Raum und Material. If you can’t leave your mark, give up (Holzer). No, not yet.

Aus egozentristischer Chronistenpflicht: Musikprotokoll 2013.

Winter

  • Einstürzende Neubauten – Die Befindlichkeit des Landes
  • The Please – Abodigital Dishwasher
  • Nosaj Thing – Glue
  • Dauwd – Heat Division
  • Jack Dixon – Lose Myself (Dauwd Remix)
  • TM404 – 303/303/303/303/808
  • Koto – Endgame
  • Kangding Ray – North
  • Lawrence – Tangled Track
  • Einstürzende Neubauten – Alles
  • Miles – Flawed
  • Silent Servant – Utopian Disaster

Frühling

  • ΔΔ – Skyway
  • WAX – 10001 (A)
  • Studio – Out There
  • Alva Noto – Uni Dia
  • Alva Noto – T3 (for Dieter Rams)
  • MF Doom – Bookfiend (Clams Casino Version)
  • Efdemin – Farnsworth House
  • Kareem – Porto Ronco
  • Huren – Tendril
  • Nagamatzu – Magic
  • Kareem – Trenches
  • Heathered Pearls – Beach Shelter (Loscil’s Grind Remix)
  • Makeup and Vanity Set – System Override

Sommer

  • Miles – Plutocracy
  • Demdike Stare – Dyslogy
  • Autechre – Basscadet (Basscadubmx)
  • Susumu Yokota – Saku
  • Photek – ni ten ichi ryu
  • Gohan – Dysphoria
  • Emptyset – Epysteme
  • Mokira – Time Track (Silent Servant Remix)
  • The Black Dog – Terminal EMA
  • John Roberts – Braids
  • Shigeto – Miss U
  • Zomby – It’s Time
  • Shed – ITHAW
  • Vril – UV

Herbst

  • Teho Teardo & Blixa Bargeld – Still Smiling
  • Mobb Deep – Give up the Goods
  • Makeup and Vanity Set – A glowing Light, a Promise
  • The Black Dog – Beep
  • Dadub – Circle
  • Die Goldenen Zitronen – Scheinwerfer und Lautsprecher
  • Inhalt – Programming
  • Holy Other – Yr Love
  • Nick Höppner – Red Hook Soil
  • Teho Teardo & Blixa Bargeld – Nocturnalie
  • Dadub – Truth
  • Zomby – Dreams of Heaven
  • Claro Intelecto – Fighting The Blind Man

Winter

  • Scott Walker – Bouncer See Bouncer
  • Black Devil Disco Club – Sun Dance Totem
  • Lootpack – Innersoul
  • Flume & Chet Faker – Drop the Game
  • Prurient – You Show Great Spirit
  • New Order – Thieves like us
  • Vril – Vortekz
  • Kareem – Drama
  • Huss & Hodn – Schlangen sind schweigsam
  • Aphex Twin – Pulsewidth
  • Kangding Ray – Amber Decay
  • David Bowie – Modern Love
  • The Traveller – BER
  • Sten – Part Three

Auch in diesem Jahr fehlen der Spotify-Playlist dieser Tracks die interessantesten Inhalte.

Sets

Veränderung wahrnehmen bedeutet Zeit zusammenpressen. Mehrere Ereignisse als miteinander verbunden interpretieren und sie auf eine Zeitachse abtragen, ein neues Ordnungskriterium einführen, taggen. Bevor das Hirn Ereignisse auf diese Weise verbindet, gibt es einen interessanten Moment, in dem zwar ihre Position in der Raumzeit klar markiert, aber das Tragwerk ihres Zusammenhangs nicht konstruiert ist. Es mag mit diesem Gedanken zu tun haben, dass meine Platten des Jahres zu großen Teilen mit Verortung und der präzisen Gestaltung eines Settings befasst sind. Es sind Alben, deren inhaltlicher Einfachheit ein überbordendes Materiallager an Kontext gegenüber steht: Fiktive Orte, Stimmungen, tastende semantische Anordnungen, provisorische ästhetische Vorschläge.

Auf diese Weise haben mich diese fünf Platten begleitet, auf den Reisen und Transformationen des Jahres. Poetry is how you fight it (Claude Draude), I guess.

  • Blixa Bargeld & Teho Tadao – Still Smiling

    Ein zweites Album, auf dem Blixa Bargeld nicht als Spiritus Rektor, sondern als Verwerter von musikalischen Vorschlägen auftritt. Nach elektronischen Stimmexerzizien mit Carsten Nicolai (als anbb), nimmt er nun die Angebote des Theatermusikers Teho Tadao auf inhaltlicher Ebene an. Das Ergebnis ist eine Suche nach Worten, so vielgestaltig und verweisreich, dass sie ab der Mitte des Jahres eine Vielfalt von Kontexten auskleidete. Es fällt mir schwer, die Wege durch die Nächte dieses Jahres ohne die schwebende Universalität von Nocturnalie vorzustellen. Schließlich war der Auftritt von Blixa Bargeld im Kampnagel einer der versöhnenden Momente im Jahr 2013. Klugheit und Schönheit existieren, und es hat Wert, für sie einzutreten.

  • The Black Dog – Music for Real Airports

    Eigentlich müsste ich an dieser Stelle Radio Scarecrow gleichberechtigt nennen. Denn es ist der grundsätzliche musikalische Entwurf von The Black Dog, der die Erwähnung in dieser Liste notwendig macht. Doch wie beschrieben – in erster Linie war es der Moment der Reise, mit allen Leerstellen und Brüchen, den The Black Dog auf so vollkommene Weise formuliert haben. Case in Point: Das Geräusch des analogen Besetztzeichens, aus dem sich der Beat von Sleep Deprivation 1 schält – oder ist es ein Irrtum, nach der fünften Stunde in der Abflughalle oder einem vergleichbaren nicht-Ort des Reisens?

  • Kangding Ray – The Pentaki Slopes

    Schließlich lautet das Genre des Jahres 2013: Techno. Unverstellt, mit größtmöglicher Aufmerksamkeit für Atmosphäre, Stimmung, Licht und, ja, Ort. Zusammengenommen ergeben diese Dinge im besten Fall einen konsequenten Narrativ, der parallel zum eigenen Erleben verläuft. Auf keine Veröffentlichung dieses Jahres treffen diese Gedanken mehr zu als auf diese EP von Kangding Ray. Geteilt in Aufstieg, Plateau und Abstieg entwickelt sie ein unnachgiebiges Momentum. Wohl auch wegen dieser kinetischen Energie ist diese eine meiner liebsten Platten für lange Zugfahrten und Fußwege durch die windige Stadt im Norden. Ich fand im März bereits bessere Worte.

  • Miles – Unsecured

    Unsecured, das ist zunächst einmal die EP, auf der Miles einen Track namens Plutocracy veröffentlicht hat – und allein dafür muss sie Teil dieser Aufzählung sein. Die Langsamkeit und Tiefe, der ungeheure Nachdruck, die vollkommene Konsequenz dieses Tracks war einer meiner eindrücklichsten Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Kunst in diesem Jahr. Hi-hat, Baseline und der pechschwarze Rauch hintergründiger Atmosphäre erzeugen ein derart dichtes Bild, dass ein tiefes Gerüst verbauter Breakbeats beinahe unbemerkt bleibt. Ich nenne Plutocracy jederzeit als eines der besten Stücke Musik der letzten Jahre, und das jenseits aller Genres. Die Tatsache, dass Blatant Statement, Technocracy und vor allem Infinite Jest jeweils genau zutreffend betitelt und ebenfalls unglaublich gut sind, separiert diese Platte nur noch weiter vom Umfeld ihres Genres.

  • Kareem – Porto Ronco

    Ich habe keine Worte für diese Platte. Seit sie mir im Januar dieses Jahres in die Hände fiel, habe ich damit gerungen, sie einzuordnen, Bezeichnungen für meine eigene Resonanz auf diese Musik zu finden. Ohne Erfolg; Porto Ronco ist ein singuläres Release. Ein Track, 44 Minuten und 44 Sekunden lang. Eine Bewegung durch alles hindurch: Architekturen, entlang von Orten und Ereignissen, durch Geräte, Gewerke, Drones, Flimmern, statische Spannung, rekursive Strukturen. Dabei ist Porto Ronco gleichermaßen bedeutungsoffen und hyperpräzise, voller Verweise, ohne jeden Anschluss. Ich habe seit zwölf Monaten nicht damit aufgehört, diesen Track zu hören. Und ich bin sicher, dass dieser Zustand für eine lange Zeit anhalten wird. Dieses ist meine Platte des Jahres, und sie ist die Platte dieser Zeit und dieser Orte1.

Weiterhin relevant: Dadub – You are Eternity2, The Black Dog – Radio Scarecrow, Makeup and Vanity Set – 88:88, Kareem – Mesmer, Zomby – With Love, Demdike Stare – Test Pressing 003, Shigeto – No better Time than now, TM404 – TM404


  1. Es sollte mehr als eine Fußnote sein, dass Kareems Label Zhark viele der essentiellen Tracks dieses Jahres veröffentlicht hat – und zwar in den meisten Fällen bereits Mitte der neunziger Jahre. Ich sollte die Hip-Hop-Produktionen Kareems erwähnen und noch so viele Dinge aus einem frühen Zustand des Berliner Kosmos mehr. 

  2. Hätte ich etwas weniger Freude an sinnloser Konsequenz – diese Platte hätte die sechste meiner Liste sein müssen. Bei Discogs

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