electricgecko

Dezember

Es scheint, als sei es immer wieder so: Die Sonne am letzten Tag des Jahres, die durch die Fenster eines Appartments in Berlin scheint. Keine Bewegung in der Luft, als setzte sich die große Ruhe der vergangenen Tage von innen nach außen fort. Auch heute. Der Unterschied liegt nicht im hier und jetzt, sondern im vergehenden Jahr. Nicht um dem Schluss des vorigen Jahres zu widersprechen, sondern weil es so ist: Dinge verändern sich nicht nur inkrementell, sondern plötzlich und zum Schlechten. Die große Aufgabe besteht darin, sie nicht an gewonnene Perspektiven heranzulassen, egal wie erfolglos es für lange Zeit scheinen mag.

Das also war der große Versuch im dreißigsten Jahr, in dem ich einige der schrecklichsten und einige der schönsten Dinge meines Lebens gesehen habe. Das Heraustreten in die Sonne am Chichū-Museum, Klang und Bild von Rei Natos Matrix im schönsten Raum der Welt, über der Stadt und durch sie hindurch. Schönheit in Textur und Habitus, Exzess in Raum und Material. If you can’t leave your mark, give up (Holzer). No, not yet.

Aus egozentristischer Chronistenpflicht: Musikprotokoll 2013.

Winter

  • Einstürzende Neubauten – Die Befindlichkeit des Landes
  • The Please – Abodigital Dishwasher
  • Nosaj Thing – Glue
  • Dauwd – Heat Division
  • Jack Dixon – Lose Myself (Dauwd Remix)
  • TM404 – 303/303/303/303/808
  • Koto – Endgame
  • Kangding Ray – North
  • Lawrence – Tangled Track
  • Einstürzende Neubauten – Alles
  • Miles – Flawed
  • Silent Servant – Utopian Disaster

Frühling

  • ΔΔ – Skyway
  • WAX – 10001 (A)
  • Studio – Out There
  • Alva Noto – Uni Dia
  • Alva Noto – T3 (for Dieter Rams)
  • MF Doom – Bookfiend (Clams Casino Version)
  • Efdemin – Farnsworth House
  • Kareem – Porto Ronco
  • Huren – Tendril
  • Nagamatzu – Magic
  • Kareem – Trenches
  • Heathered Pearls – Beach Shelter (Loscil’s Grind Remix)
  • Makeup and Vanity Set – System Override

Sommer

  • Miles – Plutocracy
  • Demdike Stare – Dyslogy
  • Autechre – Basscadet (Basscadubmx)
  • Susumu Yokota – Saku
  • Photek – ni ten ichi ryu
  • Gohan – Dysphoria
  • Emptyset – Epysteme
  • Mokira – Time Track (Silent Servant Remix)
  • The Black Dog – Terminal EMA
  • John Roberts – Braids
  • Shigeto – Miss U
  • Zomby – It’s Time
  • Shed – ITHAW
  • Vril – UV

Herbst

  • Teho Teardo & Blixa Bargeld – Still Smiling
  • Mobb Deep – Give up the Goods
  • Makeup and Vanity Set – A glowing Light, a Promise
  • The Black Dog – Beep
  • Dadub – Circle
  • Die Goldenen Zitronen – Scheinwerfer und Lautsprecher
  • Inhalt – Programming
  • Holy Other – Yr Love
  • Nick Höppner – Red Hook Soil
  • Teho Teardo & Blixa Bargeld – Nocturnalie
  • Dadub – Truth
  • Zomby – Dreams of Heaven
  • Claro Intelecto – Fighting The Blind Man

Winter

  • Scott Walker – Bouncer See Bouncer
  • Black Devil Disco Club – Sun Dance Totem
  • Lootpack – Innersoul
  • Flume & Chet Faker – Drop the Game
  • Prurient – You Show Great Spirit
  • New Order – Thieves like us
  • Vril – Vortekz
  • Kareem – Drama
  • Huss & Hodn – Schlangen sind schweigsam
  • Aphex Twin – Pulsewidth
  • Kangding Ray – Amber Decay
  • David Bowie – Modern Love
  • The Traveller – BER
  • Sten – Part Three

Auch in diesem Jahr fehlen der Spotify-Playlist dieser Tracks die interessantesten Inhalte.

Sets

Veränderung wahrnehmen bedeutet Zeit zusammenpressen. Mehrere Ereignisse als miteinander verbunden interpretieren und sie auf eine Zeitachse abtragen, ein neues Ordnungskriterium einführen, taggen. Bevor das Hirn Ereignisse auf diese Weise verbindet, gibt es einen interessanten Moment, in dem zwar ihre Position in der Raumzeit klar markiert, aber das Tragwerk ihres Zusammenhangs nicht konstruiert ist. Es mag mit diesem Gedanken zu tun haben, dass meine Platten des Jahres zu großen Teilen mit Verortung und der präzisen Gestaltung eines Settings befasst sind. Es sind Alben, deren inhaltlicher Einfachheit ein überbordendes Materiallager an Kontext gegenüber steht: Fiktive Orte, Stimmungen, tastende semantische Anordnungen, provisorische ästhetische Vorschläge.

Auf diese Weise haben mich diese fünf Platten begleitet, auf den Reisen und Transformationen des Jahres. Poetry is how you fight it (Claude Draude), I guess.

  • Blixa Bargeld & Teho Tadao – Still Smiling

    Ein zweites Album, auf dem Blixa Bargeld nicht als Spiritus Rektor, sondern als Verwerter von musikalischen Vorschlägen auftritt. Nach elektronischen Stimmexerzizien mit Carsten Nicolai (als anbb), nimmt er nun die Angebote des Theatermusikers Teho Tadao auf inhaltlicher Ebene an. Das Ergebnis ist eine Suche nach Worten, so vielgestaltig und verweisreich, dass sie ab der Mitte des Jahres eine Vielfalt von Kontexten auskleidete. Es fällt mir schwer, die Wege durch die Nächte dieses Jahres ohne die schwebende Universalität von Nocturnalie vorzustellen. Schließlich war der Auftritt von Blixa Bargeld im Kampnagel einer der versöhnenden Momente im Jahr 2013. Klugheit und Schönheit existieren, und es hat Wert, für sie einzutreten.

  • The Black Dog – Music for Real Airports

    Eigentlich müsste ich an dieser Stelle Radio Scarecrow gleichberechtigt nennen. Denn es ist der grundsätzliche musikalische Entwurf von The Black Dog, der die Erwähnung in dieser Liste notwendig macht. Doch wie beschrieben – in erster Linie war es der Moment der Reise, mit allen Leerstellen und Brüchen, den The Black Dog auf so vollkommene Weise formuliert haben. Case in Point: Das Geräusch des analogen Besetztzeichens, aus dem sich der Beat von Sleep Deprivation 1 schält – oder ist es ein Irrtum, nach der fünften Stunde in der Abflughalle oder einem vergleichbaren nicht-Ort des Reisens?

  • Kangding Ray – The Pentaki Slopes

    Schließlich lautet das Genre des Jahres 2013: Techno. Unverstellt, mit größtmöglicher Aufmerksamkeit für Atmosphäre, Stimmung, Licht und, ja, Ort. Zusammengenommen ergeben diese Dinge im besten Fall einen konsequenten Narrativ, der parallel zum eigenen Erleben verläuft. Auf keine Veröffentlichung dieses Jahres treffen diese Gedanken mehr zu als auf diese EP von Kangding Ray. Geteilt in Aufstieg, Plateau und Abstieg entwickelt sie ein unnachgiebiges Momentum. Wohl auch wegen dieser kinetischen Energie ist diese eine meiner liebsten Platten für lange Zugfahrten und Fußwege durch die windige Stadt im Norden. Ich fand im März bereits bessere Worte.

  • Miles – Unsecured

    Unsecured, das ist zunächst einmal die EP, auf der Miles einen Track namens Plutocracy veröffentlicht hat – und allein dafür muss sie Teil dieser Aufzählung sein. Die Langsamkeit und Tiefe, der ungeheure Nachdruck, die vollkommene Konsequenz dieses Tracks war einer meiner eindrücklichsten Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Kunst in diesem Jahr. Hi-hat, Baseline und der pechschwarze Rauch hintergründiger Atmosphäre erzeugen ein derart dichtes Bild, dass ein tiefes Gerüst verbauter Breakbeats beinahe unbemerkt bleibt. Ich nenne Plutocracy jederzeit als eines der besten Stücke Musik der letzten Jahre, und das jenseits aller Genres. Die Tatsache, dass Blatant Statement, Technocracy und vor allem Infinite Jest jeweils genau zutreffend betitelt und ebenfalls unglaublich gut sind, separiert diese Platte nur noch weiter vom Umfeld ihres Genres.

  • Kareem – Porto Ronco

    Ich habe keine Worte für diese Platte. Seit sie mir im Januar dieses Jahres in die Hände fiel, habe ich damit gerungen, sie einzuordnen, Bezeichnungen für meine eigene Resonanz auf diese Musik zu finden. Ohne Erfolg; Porto Ronco ist ein singuläres Release. Ein Track, 44 Minuten und 44 Sekunden lang. Eine Bewegung durch alles hindurch: Architekturen, entlang von Orten und Ereignissen, durch Geräte, Gewerke, Drones, Flimmern, statische Spannung, rekursive Strukturen. Dabei ist Porto Ronco gleichermaßen bedeutungsoffen und hyperpräzise, voller Verweise, ohne jeden Anschluss. Ich habe seit zwölf Monaten nicht damit aufgehört, diesen Track zu hören. Und ich bin sicher, dass dieser Zustand für eine lange Zeit anhalten wird. Dieses ist meine Platte des Jahres, und sie ist die Platte dieser Zeit und dieser Orte1.

Weiterhin relevant: Dadub – You are Eternity2, The Black Dog – Radio Scarecrow, Makeup and Vanity Set – 88:88, Kareem – Mesmer, Zomby – With Love, Demdike Stare – Test Pressing 003, Shigeto – No better Time than now, TM404 – TM404


  1. Es sollte mehr als eine Fußnote sein, dass Kareems Label Zhark viele der essentiellen Tracks dieses Jahres veröffentlicht hat – und zwar in den meisten Fällen bereits Mitte der neunziger Jahre. Ich sollte die Hip-Hop-Produktionen Kareems erwähnen und noch so viele Dinge aus einem frühen Zustand des Berliner Kosmos mehr. 

  2. Hätte ich etwas weniger Freude an sinnloser Konsequenz – diese Platte hätte die sechste meiner Liste sein müssen. Bei Discogs

Kunstfertigkeit, gutes Material, Nuancen: langweilig. Interessant ist der ästhetische Vorschlag. Bring ihn, und bring ihn so roh und groß und konsequent wie du kannst. Repeat, repeat, release.

Musik als Zustandsbeschreibung, wieder und wieder, auch zum Ende des Jahres 2013. Weil zum Lesen keine Ruhe bleibt, weil zum Aufschreiben keine Zeit bleibt. Um so schöner, sich inzwischen seit Jahren darauf verlassen zu können, das jeweils aktuelle Jahr (wer zählt noch einzelne Jahre?) ab Mitte Dezember als vorzügliches Musikjahr zu empfinden. Es bedeutet formale Passung, oder die Sensibilität, diese nach wie vor herstellen zu können.

Case in Point: Prurients EP Through The Window, deren Titeltrack und die B-Seite You Show Great Spirit zwei Beispiele für diesen langen und langsamen Narrativtechno sind, den dieses Jahr erfordert. In je über zehn Minuten verfaltet Dominick Fernow Lage über Lage dichter Atmosphäre. Themen, Vocals und Sounds erscheinen und verschwinden im Dub, verhallen im lichtlosen Grundrauschen. Phasenweise befreit sich die vier aus den Flächen und Filtern, sie vertreibt den Nebel, ihre Kraft und das schiere Momentum unwiderstehlich. So zu erleben nach dem Drittel von You Show Great Spirit.

Es ist keine monumentale Veröffentlichung, nicht die Begründung einer Stilrichtung, noch keine Wende. Aber Through The Window ist ein Release, das nicht besser in den verhalten beginnenden Winter 2013 passen könnte. In seine Zugfahrten, die Fußwege in der Dunkelheit und die Durchhalteparolen an Hamburgs Wänden.

Oktober

Ich habe häufig von meiner Reise nach Japan erzählt, in den letzten Wochen. Mal kurz zwischen zwei Getränken und auch in rekursiver long form, die Selektivität und Gemachtheit der eigenen Erfahrungen ins Licht rückt. Aufgefordert, meinen Eindruck des japanischen Zustandes auf eine Pointe hin zu besprechen, sage ich: Alles sei considered. Also Plan- und absichtsvoll erdacht und anschließend ebenso umgesetzt – Bars, Dienstleistungen, Sitzgelegenheiten, Clubs, Kleidung, Rückzugsorte, Nahrungsmittel. Diese und viele andere Dinge sehen fantastisch aus und funktionieren exakt wie sie sollen.

Gemeinhin trinken die Zuhörer dann von ihrer Limonade. Ob das nicht furchtbar rigide sei, also nicht auf natürliche Weise gut, aus der freien, kreativen Natur der Menschen heraus? Sondern das Produkt reißbrettartiger Kreativität, also unlocker und damit klaustrophobisch ihre eigene Schönheit verneinend? Absichtsvolle Schönheit hat einen schlechten Ruf.1

Nein, absichtvolle Gestaltung und präzise Exekution sind keine Makel. Das gilt für die Schönheit tokyoter Stadtplanung, es gilt für grafische Gestaltung, für die Einrichtung von Bars und es gilt – wie immer alles – auch für Musik. Ich habe den Punkt überschritten, an dem ich gutes Sounddesign gutem Songwriting vorziehe. Relevante Musik muss Raum und Licht und Zeit definieren, und zwar ultrapräzise unterscheidbar. Situationen sind interessanter als Geschichten.

Folgerichtig bestimmen zwei ältere Alben von The Black Dog mein Reisen, Leben und Arbeiten in der zweiten Hälfte des Jahres 2013. Music for Real Airports auf meiner Reise gen Osten und durch die Wartehallen von Dubai und Narita. Und Radio Scarecrow, das Magnum Opus der Produzenten-Boyband. Beide Platten markieren Wegpunkte zwischen Musik und vertonten Situationen, Präzise Syntax/diffuse Semantik.

Radio Scarecrow ist ein Musik-Album, auf dem die Hits orthogonal zu den Tracks verlaufen. Beim Skippen sind sie plötzlich unauffindbar; sie offenbaren sie sich nur als Teil der gesamten Arbeit. Einer der besten Parts der Platte verläuft irgendwo zwischen Short Wave Lies und Siiiipher (und von dort weiter zu Digital Poacher), ohne dass es beim Anspielen der einzelnen Tracks nachvollziehbar wäre. Nichts funktioniert ohne seine Umgebung.

Auf Music for Real Airports widmen sich The Black Dog schließlich vollends der Muzak, wie vom Titel impliziert. Es ist die Vertonung der Reisesituation, das Sound-Äquivalent zu Alain de Bottons The Art of Travel. Die LP wird bestimmt durch eine strukturierte Indexierung und Bearbeitung von Situationen. Es sind die Augenblicke und Nicht-Orte des Reisens, und zwar jeweils samt der ihnen eigenen Paranoia. Die fiesen Vibes des Unterwegs-seins werden nicht ausgeblendet, sondern effektvoll eingesetzt. Es handelt sich um zudringliches, ganz und gar diesseitiges Sounddesign – ein freundschaftlicher Stoß in die Rippen von Brian Enos fabelhaftem Nullkontaktutopia.

Radio Scarecrow und Music for Real Airports verweigern die Ausformulierung, das endgültige Aussprechen im Einzelnen zugunsten der Atmosphäre, der Verortung, der präzisen Gestaltung eines Settings. Sie sind Alben der Post-Album-Ära. Sie sind Orte, sie sind Zeiten, sie sind Erlebnisse.


  1. Nein, ich kann keinen Makel daran erkennen. Qualität ist wichtiger als Spontaneität. In der Kritik an wahrnehmbarer Gestaltetheit schwingt allzu häufig die bürgerliche Furcht vor Schönheit und Klasse mit; die Angst, ein zu schönes Café oder ein zu anspruchsvolles Geschäft zu betreten. Wird darauf hingewiesen, liegt eine Diskussion des leidigen Begriffs der Authentizität nicht fern. Und die ist ein probater Weg, sich gegenseitig den Abend zu ruinieren. 

Juni

Ein Text über die letzten beiden Releases auf Modern Love. Es mag das Alter sein, nachlassende Rezeptionsfähigkeit oder beginnende Ignoranz. Ich bin nicht mehr länger nur unwillens, sondern nicht in der Lage, mich mit der Musik auseinanderzusetzen, die größte Aufmerksamkeit und wirtschaftlichen Erfolg genießt. Sie ist mir zu hart, ihre Agressivität und Produziertheit überfordern mich. Sie verlangen strukturell wie inhaltlich nach spezifischen Reaktionen. Klanggestaltung und Performance dienen als Cues für den Abruf dieser – in spezifischer Abfolge und Wiederholung. Diese inhaltliche Rigidität und Härte macht mich fertig, innerhalb weniger Sekunden.

Dagegen: Musik, die sich auf den Raum bezieht. Nicht im im Sinne einer Zuordnung, sondern im Sinne eines Entwurfs. Plutocracy, die zweite B-Seite des neuesten Miles-Releases, ist ein solcher Track. Er markiert seine eigene Ausdehnung in der Welt auf klare, eindrückliche Art, er beschreibt den Rahmen seiner eigenen Performance. Plutocracy ist vermutlich das, was gemeinhin als harte Musik aufgefasst wird, doch alle Rigidität und Härte liegen im Sound, sie sind notwendig zur präzisen Vermessung der Oberfläche. Im Inneren ist Raum für Ambiquität, Deutungsoffenheit. Von Musik wie dieser geht große Ruhe aus, ihre Brachialität und Langsamkeit lässt Luftholen zu, und Ablehnung und Überlegtheit.

Dagegen: Musik, die sich auf Momentum bezieht. Dyslogy, ein Track, der Demdike Stare eindeutiger auf den Floor orientiert als sämtliche Releases zuvor. Dyslogy ist ein immersives Erlebnis – gebaut aus perkussiven Spuren, verwoben und geschichtet auf einem Jungle-Gerüst, allein das Wort schon. Wäre der Sound der Toms nicht so haargenau richtig und würden sie nicht erst bei 4:01 einsetzen – es wäre alles vergebens. Auch dieser Track wäre ohne seine Konzentriertheit und Rigidität weniger bedeutsam. Er schafft ein Momentum, physischen Vortrieb für jede Assoziation und jede Frage. Auch dieser Track fordert keine Reaktion zu keinem Zeitpunkt.

März

Der Winter hat sich festgebissen, in diesem Jahr. Einige Lagen dicht gesponnene Wolle bleiben zwischen mir und der äußeren Welt. Der Wärme wegen, sicherlich, aber auch, um innen Raum für ein anständiges Whiteout und bessere Kälte zu schaffen, die der Halbjahreszeit gerecht wird. Einen Ort, der nicht treffender zu benennen ist als mit The Pentaki Slopes. Die asymmetrischen Steilhänge des Pentaki. Aufstieg/Abstieg.

Ich bin Kangding Ray – der 2011 bei raster-noton eines der besten Alben des Jahres veröffentlichte – dankbar, für diesen Titel und die Platte (ebenfalls: raster-noton), die ihn trägt. Weil sie in drei Tracks das Gefühl auf den Punkt bringt, auf Reisen zu sein, in lebensfeindlicher Umgebung. Sie beschreiben den Aufstieg, die gespannte Stille des Plateaus, den Abstieg.

Considered as the ultimate goal by both psychedelic gurus and database optimization corporations, and as an ideal retirement destination for a couple of lost souls in search for coherence and objectivity, the source diffuses endless loops of haunted voices, apparently sampled from a discarded call center, running low on power, encouraging listeners to shorten cycles, deliver requests and improve user experience.

Die drei Zustände sind hypnotisch und atmosphärisch hochverdichtet. Sie strahlen Kälte, Anspannung und immanente Wärme aus, ununterscheidbar und zeitgleich, wie die ersten Momente einer Verbrennung oder Erfrierung. Tracks gemacht für Zugfahrten durch gefrorene Felder, straighter und unverstellter als der große Teil der Kangding-Ray-Releases. Grimmig, wärmend, wütend schritt ich voran.

  • Kangding Ray – The Pentaki Slopes. raster-noton. 10. Dezember 2012.

Allen Quantifizierungsbestrebungen zum Trotz erscheint mir nach wie vor Musik als das geeignete Medium, um Koordinaten des eigenen Lebens abzustecken. Eine Playlist, ein immer noch so genanntes Tape, ein Set – es sind Markierungen des Hier und Jetzt, im Wortsinn. Sie beschreiben einen Ort und eine Zeit, じくう, Raumzeit. Aus diesem Grund hole ich Rainfall, Revolve gern hervor. Darum notiere ich Tracks, die das Jahr gefüllt haben; zuletzt für 2012 und 2011, natürlich.

Auf Einladung von Freunde von Freunden habe ich einige Musik für die ersten beiden Monate des Jahres 2013 in einem Set verbaut. Es ist die Nummer 51, und sie ist – dank mangelnder Kunstfertigkeit und hinreichend Attitüde – angemessen roh geraten. Es ist eine Folge von Tracks, die dafür gemacht sind, in weiten Räumen gehört zu werden, raumgreifende Musik, sozusagen, auf die eine oder andere Weise. Um ihr meinen eigenen Titel zu geben: Das hier ist Rooms, hier ist der Soundcloud-Link. Enjoy.

Um besonders rohe Formate (YouTube-Videos, Bandcamp-Seiten) niederfrequenter Musik noch ein wenig schneller (sofort) als erinnerungswert zu markieren, habe ich in der vergangenen Woche SCHLUCHT gestartet. Mehr vom gleichen, mehr vom guten.

Dezember

Es bedeutet keinen Unterschied, ein bestimmtes Alter erreicht zu haben. Keine gestiegene Reflektionsfähigkeit oder größere Klugheit. Der Unterschied ist vielleicht, sicherer zu wissen, was man gelernt hat. Es bedeutet: Ruhig auf subjektive Wahrheit bauen. Niederschreiben. Dem Momentum folgen, in der Arbeit und in allem.

Es ist richtig, grobe Werkzeuge zu verwenden. Ideen nicht auszuarbeiten, sondern sie in einem rohen, unverzierten Zustand zu belassen. Schönheit nicht in der Ausarbeitung finden, sondern in Energie und Krassheit. Wach bleiben. An allem zerren.

Im Mission District (wo ich meinen Pullover fast verlor), in Porto, im Winter, auf dem Dach des Standard in Downtown LA, den Platz der Santa Maria Novella in Florenz betretend, verschwitzt im Sonnenaufgang, in Hamburgs obersten Stockwerk, über Zürich.

Intensität ist für mich immernoch [sic] der einzige akzeptable Wert. Eben weil alle anderen Werte Betrug sind. […] Stahl auf die Finger hauen, heiser zusammenbrechend schreien. Oder, pathosfrei und noch richtiger: Strip it, boost it. Musik aus dem Jahr 2012.

Winter

  • Adam Marshall – Chord Tracking (Remix MS)
  • Onra – One for the Wu (alternate Version with ODB)
  • Andy Stott – Night Jewel
  • Claro Intelecto – New Dawn
  • G.H. – Earth
  • Nosaj Thing – Light #1 (Take Remix)
  • Hyetal – Beach Scene
  • Hate – Darkcore
  • Scuba – July
  • Smallpeople – Kind of Green

Frühling

  • CFCF – Arctic
  • Das EFX – Mic Checka
  • John Roberts – Crushing Shells
  • Claro Intelecto – Reformed
  • Pachanga Boys – Time
  • Army of God – Salvation (Spaventi d’Azzurro Remake)
  • Einstürzende Neubauten – Meyou & Youme
  • Oskar Offermann – Drive me Home please
  • The Rolling Stones – Jumping Jack Flash
  • DMX Krew – East Side Boogie
  • Palisade – 18:30
  • Einstürzende Neubauten – Selbstportrait mit Kater

Sommer

  • The Hundreds in the Hands – Keep it Low (Andy Stott Remix)
  • The Sight Below – Life’s Fading Light (Pantha du Prince Remix)
  • Chet Faker – No Diggity
  • Scuba – Never
  • NZCA/Lines – Nazca
  • Quasimoto – Broad Factor
  • T. Keeler & Capablanca – Acido (Name in Lights RMX)
  • Ital Tek – East District
  • The Dharma – Plastic Doll (Instrumental Version)
  • JJ Doom – Guv’nor
  • Todd Terje – Inspector Norse

Herbst

  • Einstürzende Neubauten – Ich gehe jetzt
  • Studio – Life’s A Beach! (Todd Terje Beach House Mix)
  • Yør – Rushed
  • Steffi – Schraper
  • Jan Jelinek – They, Them
  • Fort Romeau – Kingdoms
  • Andy Stott – Luxury Problems
  • Reverso 68 – Piece Together (Todd Terje Spinning Star Remix)
  • Hate – Pretty Boys Don’t Survive Up North
  • Beacon – Feeling’s Gone (Fort Romeau’s Shibuya Edit)
  • Joy Division – Transmission (1980 Martin Hannett Session)
  • Andy Stott – Sleepless

Winter

  • Covenant – Void
  • Kreidler – Deadwringer
  • Einstürzende Neubauten – Redukt
  • Andy Stott – Edyocat
  • alva noto – uni rec
  • The Soft Moon – Zeros
  • Redshape – Kung Fu
  • K.Flay & Michna – LA Again
  • Jane – Slipping Away
  • The Soft Moon – Lost Years
  • Bauhaus – Dancing
  • Method Man & Raekwon — Meth vs. Chef

Es gibt eine Spotify-Playlist, der einige der besten Tracks fehlen.

Sets

Die Platten des Jahres zu bestimmen, sie aufzuzählen und zu veröffentlichen, als seien sie ein Höhepunkt, ein Abschluss – es ist wohl eine entlarvende Eigenheit meiner Generation. Zwölf Monate Gewohnheiten protokollieren und Situationen notieren – das ist sinnvoll, wenn es am Ende beschränkte Plätze zu besetzen gilt: Die besten fünf, 640 Kilobyte, zwei 5¼ Floppys. Sich zu beschränken, diese und diese nicht, ist eine Reaktion auf beschränkten Raum und beschränkte Zeit.

Wenn es um Musik geht, sind wir nicht zum oder gezwungen, sondern zum und. iTunes-, Spotify-, Rdio-Playlists sind von Natur aus inklusiv, nicht exklusiv. Das ist schade, weil es Streit vermeidet. Urteilsfreiheit macht schlechte Partys und kleinste gemeinsame Nenner. Das kann und soll nicht unser Ziel sein. Sondern Spezifik, Subjektivität und Verschiedenheit.

Darum nenne ich auch für das dreißigste Jahr meines Lebens fünf Platten, die wichtig und gut waren. Weil sie etwas neues gesagt haben, oder etwas altes auf neue Weise. Weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren (wie The Soft Moon) oder einfach immer und überall (wie Claro Intelecto). Sie sind die fünf besten Platten des Jahres 2012.

  • NZCA/Lines – S/T

    Ende dieses Jahres stellte ich fest, dass Apple das sehr schöne Artwork von Non-Format für eine iPod-Kampagne verwendet. Ich musste lächeln und an den Frühling denken, als die beste Popmusik-Platte mal wieder bei Lo Recordings erschien. Ihr Groove ist ebenso löchrig wie blitzsauber produziert, so eingängig und subversiv – in einer geschmackvolleren Welt müsste Michael Lovett große Sporthallen ausverkaufen.

  • Shed – The Killer

    Im August schrieb ich über die dritte LP von Shed und stellte fest, dass hier eine Verdichtung stattgefunden haben muss. Die Intensität dieser Platte ist hoch. Es ist Musik für die Nacht, wenn noch nicht alles getan ist, wenn noch etwas gebaut und gedacht werden muss. Ich hatte gute Ideen, während Day After im Studio lief. Laut und klar, entschlossen, geschlossen. Mit einem Outro-Track der wie gemacht dafür ist, zu Hause anzukommen.

  • Claro Intelecto – Reform Club

    Kein Ort, den ich in diesem Jahr besuchte, begegnete mir ohne diese Platte. Und würde ich nur ein Album für 2012 nennen, es müsste es wohl dieses sein. Claro Intelecto haben den Flow meines Jahres beschrieben – dubby, staubig, in mittlerem Tempo, mit Nachdruck. Blind Side, Second Blood und insbesondere It’s getting Late gehören in die warme Luft und die dunklen Straßen des Mission District, zum Taxi auf der Sonnenallee, zum Fußweg aus dem Studio nach Hause. Ohne dieses Album ging ich nirgendwohin, in diesem Jahr.

  • The Soft Moon – Zeros

    Dieses Album müsste die Platte des Jahres sein, nach allen Kriterien. Sie ist entschlossen, intensiv, simpel in ihren Mitteln, aus einem Guss, unantastbar, ein Monolith. Doch ignorieren wir ihre Geschlossenheit, ihre perfekte Dramaturgie – denn sie enthält das beste Stück gitarrenbasierter Musik, das ich seit Jahren gehört habe: Zeros, der Titeltrack. Ich bin versucht, ihn in jede Playlist zu integrieren, in jedem Set zu spielen. Jede und jeder sollte diese Demonstration von Konsequenz und Groove gehört haben, seine unnachgiebige Schönheit und die Schmerzen, die er verursacht. Dieses Album entspricht präzise meinem ästhetischen Empfinden, es macht wachsam, es schärft den Blick. Es hätte die beste Platte dieses Jahres sein sollen.

  • Andy Stott – Luxury Problems

    Doch ich musste kapitulieren vor diesem Album. Andy Stott gehört seit zwei Jahren zu meinen meistgehörten Musikern, seine EP Let’s stay together war für mich die Platte des Jahres 2011. Doch als dieses Album im November erschien, hatte mich nichts auf diesen stilprägenden Entwurf von elektronischer Musik vorbereitet. Ihr dekonstruierter, industrieller, poppiger, jawaseigentlich-Sound klang wie nichts, das ich zuvor gehört hätte – trotz der vielen Zitate, der Samples und Verweise auf vorige Releases, die ihn ausmachen. Dieses Album ist ein wichtiger, interessanter, Perspektiven definierender Beitrag zum ästhetischen Diskurs. Es wird dieses Jahr und sein Jahrzehnt überdauern.

Weiterhin erwähnenswert: Fort Romeau – Kingdoms, Oskar Offermann – Do Pilots still Dream of Flying?, Jane – Berserker, Scuba – Personality, JJ Doom – Keys to the Kuff, Hyetal – Broadcast, Einstürzende Neubauten – Perpetuum Mobile, G.H. – Ground

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