electricgecko

August

Ich erinnere mich, einmal in einem De:Bug-Interview mit Shed/René Pawlowitz gelesen zu haben, dass er Musik auf zwei verschiedene Weisen produziert. Die 12″, die Hits, sind reduziert auf und zentriert um eine einzige brillante Idee. Bei denen lasse er sich regelrecht gehen. Das Ergebnis sind Veröffentlichungen, die so stark sind, dass selbst ihren Remixern – Mittel- und Materiallos – es nicht gelingt, sie auch nur einen Deut schlechter zu machen. Höchstens besser.

Die anderen Releases1 gehören zur seltenen Gruppe der Techno-LPs, die das Wort tatsächlich verdienen. Nicht aufgrund von Spieldauer oder inhaltlicher Fülle. Sondern weil ihre Tracks nicht ohne einander funktionieren. Weil sie voneinander abhängen, in ihrer gerüsthaften Löchrigkeit, sich gegenseitig stützen. Sie umgehen bewusst, was Shed in seinen Club-Releases so perfekt zu leisten in der Lage ist: die unbedingte Verdichtung, das don’t watch that, watch this des Floors.

Das neue Release dieser Art ist richtigerweise mit The Killer betitelt und verwebt elf Tracks zu einer Geschichte über den Führungsanspruch in Sachen Style und Skills. Trash Talk also, und unverhohlener noch dazu. Kann man machen/sollte man häufiger machen. Vor allem, wenn die Ware so gut ist, wie beschrieben.

Denn die Verhältnisse sind nach Silent Witness und I come by Night klar, Track zwei und drei. Sie sind straighter Techno, gefolgt von verwobenen Ambient/Dub-Fragmenten, die den Druck ihrer Vorgänger nur kurzzeitig zurücknehmen, ihn eher unterstreichen als mindern. Der größte Hit kommt an zehnter Stelle und ist – selbstverständlich – mit The Filler betitelt. Grinsen und aufgeben, weil das so absurd gut ist. Das Selbstzitat im letzten Track (#11) in seiner ganzen Schönheit hinnehmen, sein Titel zuletzt im Display: Follow the Leader.


  1. Shedding the Past, The Traveller und nun: The Killer 

Juli

Alles was es braucht, um ein Setting auszufüllen, ist eine Parole. Mehrere Worte, die sich mit wachsender Intensität erst sagen dann rufen und schreien lassen. Nicht einmal phonetisch gut oder rhythmisch. Sondern in erste Linie spannend und referenzreich, ohne eindeutige Aussage. Außerhalb ihres Kontextes verliert die Parole ihre Wirkung. Sie hat keinen Moment, sie ist der Prozess. A phoneline, a laptop and a box of tangerines.

Juni

The Hundreds in the Hands – Keep it Low, single Artwork

Ich hatte etwas übrig für die 2010er Releases von The Hundreds in the Hands, das interessante Gegenteil zu den unerträglichen The XX. Neben der Tatsache, dass inzwischen Till für das (abgebildete) Artwork der Gruppe verantwortlich ist, ein hinreichender Grund, der Promotion für das neue Album – Red Night – Aufmerksamkeit zu schenken. Turns out: Zu recht. Denn an Keep it Low, der ersten 12″, ist Andy Stott mit einem fantastischen Remix beteiligt. Schwerfällig und mit gesenktem Kopf stapft seine Version durch die verstaubte Dystopie, dass es nur so eine Art hat. Es ist die angemessenere Kulisse für Eleanore Everdells Stimme, wesentlich besser als die gestrippte Originalversion. Ich will das Haus nach Anbruch der Dunkelheit nicht mehr ohne diesen Track verlassen. Small things cast big Shadows.

  • The Hundreds in the Hands – Keep it Low 12″. Warp, 28. Mai 2012. Andy Stott Remix bei Vimeo.

April

Eine der schönen Eigenschaften der Postmoderne ist ihre Unübersichtlichkeit. Egal wie hart die Filter und wie groß die Konsequenz des Blickes – was es wert ist, gesehen zu werden, wird gesehen. Vor zwei Jahren hörte ich in einem Stapel Releases das Staub-12″ auf Giegling durch. Offenbar in der falschen Stimmung oder auf der Suche nach etwas anderem. Heute fiel mir die Platte wieder in die Hände – und mit ihm ein einstündiger Mix aus Vril-Tracks.

Eine massive Angelegenheit, zugegeben – aber zu staubig, zu affirmativ und zu deep, als dass sie zu ignorieren wäre. Ein ruhender Kern, ein Geflecht aus rasiermesserscharfen Sounds, ein Set für hohe, leere Räume bei Nacht. 43:24. Go. Vril ssg special (59:22), courtesy of mnml ssgs.

Entweder braucht es inzwischen gehörigen Schub, um mich aus der Lethargie zu bewegen – oder um den Qualitätsdurchschnitt der Releases des frühen Jahres 2012 ist nicht zum Besten bestellt. Gut, die neue Scuba war erfreulich, die Tracks July und The Hope waren prägend für zwei Wochen, immerhin.

Enter Claro Intelecto. Mark Steward produziert seit den frühen zweitausender Jahren langsame, dubbasierte Clubmusik – zuweilen leicht und nah am House, zuweilen mit brachialem Druck nach vorne schleppend. Letzteres zuletzt auf der Warehouse Sessions1, ersteres zum Beispiel auf Patience einer sehr guten 12″ von 2005.

In diesem Monat erscheint Reform Club, das dritte Album, und zwar bei Delsin. Nirgendwo wäre es besser aufgehoben, denn die neun Tracks reichen weit über den Club hinaus. Sie sind die Nacht und sie sind der Sommer. Second Blood: Dunkel, warm und texturiert, wie der Weg entlang des Paul-Linke-Ufers. It’s getting Late: leicht, körperlos, ohne Ende. Control: Peaktime auf dem Weg nach Hause, auf dem Fahrrad in der Ideallinie.

Reform Club ist die Platte, die den Frühling prägt, bevor er wirklich begonnen hat. Sie gehört in die Rotation, für den Fall, nachts allein auf dem Weg zu sein.

  • Claro Intelecto – Reform Club. Delsin, 23. April 2012.
    Snippets bei Soundcloud.

  1. Compilation. Erschienen auf Modern Love: LOVE052 

Februar

Die Idee, Musikdateien auf Devices abzuspeichern, ist zunehmend albern geworden. Die wenigen Veröffentlichungen, die Permanenz verdienen, verdienen auch das ultimative Archivformat: Sie sollten als Schallplatte im Regal stehen. Für den großen Rest ist das Web der einzige sinnvolle Ort: Backkataloge, Sets und der eine Track, der es genau jetzt sein muss, lassen sich jederzeit streamen. Mit neuer Musik verhält es sich ebenso – es mangelt nicht an Kanälen (Soundcloud, Hype Machine) und Mechaniken (Following-Prinzip, Bandcamp), um über Releases und Künstler auf dem Laufenden zu bleiben.

Was fehlt, ist ein sinnvolles Interface, um diese Kanäle und Mechaniken zu aggregieren und sie nutzbar zu machen – to foster serendipity, sozusagen. ex.fm ist so ein Interface, allerdings mit dem großen Nachteil, dass es gleichzeitig overengineered und buggy ist.

Glücklicherweise habe ich Freunde, die viel bessere Dinge bauen können. Alex launchte gestern eine kleine App namens Whiskie – ein Musik-Frontend für Tumblr, das an Snappiness und Praktikabilität nicht zu überbieten ist: Es filtert Audiotracks aus den Massen von Neunzigercollagen, Katzengifs und Betonfotos, stellt sie zu Playlisten zusammen und macht sie teilbar. Wie zum Beispiel die großartige Sammlung kalter Wavetracks von Betonbabe. On Repeat.

Ich benutze Whiskie seit einigen Wochen – und es hat für mich Tumblr zu einem Ort für Musik gemacht. Es wird das auch für euch tun. Sprecht mit Alex – er freut sich über überbordendes Lob, Feedback und Feature-Requests.

Januar

Das erste Sonnenlicht des neuen Jahres scheint durch vergitterte Studiofenster auf den Schreibtisch, Bogen um Bogen Zeichenpapier, Ingwerlimonade. Es ist der erste signifikante Musikmoment des neuen Jahres, die Fortsetzung der 36 Kammern mit ganz anderen Mitteln, One for the Wu, gewissermaßen. Es ist der zweite Teil von Onras Chinoseries, so brachial wie zerbrechlich.

Dezember

No Tears (For The Creatures of the Night), das erste Stück Musik in diesem Jahr, habe ich zu laut mitgesungen, in einer sehr gut eingerichteten Wohnung gegenüber den Neukölln-Arkaden.

Ich war in London und Leipzig und dann wird irgendwo stehen, dass ich 2011 ein Designstudio eröffnet habe. Und nicht: Wie lange ich davon träumte und wie gut das Gefühl ist, wenn man in die Sommernacht tritt und hinter sich abschließt. Nicht, wie viel es bedeutet, einen Partner zu haben und auch nicht wie viel Offensichtliches ich noch über Kausalität lernen musste.

Ich habe erlebt, wie DJ Phono im Ego sein erstes Album live gespielt hat und finde, dass Espy recht hat.

Ich war in Zürich und Barcelona, besuchte Damir Domas Atelier in Paris, hatte die beste Playlist in New York und war im Publikum, als Andy Stott und Demdike Stare das Jahr 2011 auf dem Berghain-Floor formuliert haben. No Tears For the Creatures of the Night; it might as well be our battle cry. Die Tracks und Songs und Sets des Jahres.

Winter

  • Tuxedomoon – No Tears (For the Creatures of the Night)
  • Actress – Always Human
  • Ghostface Killah – Ghetto
  • Pawel – Crillon (Sistrum Remix)
  • Spandau Ballet – Gold
  • Madvillain – 3.214
  • The Field – Istegarde
  • Daisuke Tanabe – Coil
  • Tyler, the Creator – Yonkers
  • Ghost of Tom Joad – Snow in the Summertime

Frühling

  • Von Spar – Scotch & Chablis
  • Taras Van De Voorde – 1998 (Deetron Remix)
  • Vince Watson – Long Way from Home
  • Gang Starr – The ? Remains
  • Nas – Represent
  • Dirty Gold – Sea Hare
  • RVDS – Pain
  • Robag Wruhme – Tulpa Ovi
  • Dam Mantle – Rebong
  • Daniel Bortz – No Griggity
  • Pet Shop Boys – I want to wake up

Sommer

  • Battles – Rolls Bayce
  • Quarion – Pepper Candy
  • DJ Phono – Your Name
  • Heiko Laux & Teo Schulte – Sound Hug (Daniel Bortz Remix)
  • Trickski – Wilderness
  • Subb-An – What I Do
  • Andreas Dorau – Stimmen in der Nacht
  • Lunapark – Dieser Tag
  • IAM – L’Aimant
  • Chopstick & Johnjon – Obviously She’s a Whore
  • Aeromaschine – Must Be
  • Felix – You can’t hold me down
  • Tigerskin – Shea’s gone
  • Pional – Where Eagles Dare

Herbst

  • Andy Stott – Posers
  • Shigeto – Children at Midnight
  • Viadrina – Better (Arto Mwambe Remix)
  • Com Truise – Colorvision
  • Meridiens – Animals
  • Ribn – Save Me
  • Efdemin – Nighttrain (Fred P Reshape)
  • Andy Stott – Tell me Anything
  • M83 – Midnight City
  • Conforce – Shadows of the Invisible
  • OCP – Blue Spring

Winter

  • Todd Terje – Ragysh
  • Yør – Golden Boy
  • Moomin – You
  • ItalTek & MF Doom – S/T Bootleg
  • Einstürzende Neubauten – Nagorny Karabach
  • Double X – Sunshine
  • Manuel Tur – Misery
  • OCP – Convoy
  • Pillowtalk – Soft (Life and Death Remix)
  • Madvillain – Cold One

Sets

Schließlich: Was Max John Buschfeld in Bad Bunny Bummer von Minute 44 bis 1:02 macht, ist mit Abstand die beste Viertelstunde, die ich 2011 in einem Set gehört habe. Human League wins everything.

Die lange Form hat es nicht leicht. Wie viele Settings gibt es in meinem Leben eigentlich noch, die eine LP als musikalisches Format aushalten? Die Prozesshaften sind es nicht. Sie verlangen nach mehr Kontinuität und Fluss, ihnen entspricht das Set. Die plötzlich auftretenden Momente (wenn sich die Landschaft draußen vor dem Zugfenster verändert oder die Sonne rauskommt) brauchen ihren Track oder ihr Lied, und zwar auf der Stelle. Das Album ist also im Besten Fall ein Setzkasten. Ein Repertoire von Variationen eines Themas. Wenn es wirklich gut ist, enthält es mehr als eine Handvoll wichtiger Tracks oder Lieder, je nachdem. In dieser Hinsicht waren die Alben des Jahres 2011 anders als diejenigen von 2010 – kein Überangebot großer LPs, sondern eine Reihe Releases, auf die ich beinahe unbemerkt immer wieder zurückgekommen bin.

  • Kangding Ray – OR

    Eine der vielen guten raster-noton-Veröffentlichungen in diesem Jahr – und eine, die ihrem Artwork nicht mehr entsprechen könnte. Präzise separiert in Klicks, Flächen und Beats walzt sich Kangding Ray voran, stets langsam, zuweilen vollständig zum Halt kommend. Musik, die in Museen laufen sollte. Musik, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine der kommenden Rick-Owens-Shows begleiten wird.

  • Lunapark – Gefangene Vögel

    Ich schrieb im August über Lunapark, eine kurzlebige Wave-Formation aus (ausgerechnet) Wuppertal, die sich nach einem Release wieder auflösten. Erstaunlicherweise hat sich Gefangene Vögel länger als einen Monat in meiner Rotation gehalten – dank seiner musikalischen Konsequenz und Funktionalität, seiner guten Texte und seiner Angemessenheit für meine Lebensumstände in diesem Jahr.

  • Conforce – Escapism

    Kein Jahr ohne einen fantastischen Longplayer von Delsin. In diesem Fall das zweite Album von Conforce: Ruhig, untexturiert, deep as fuck. Im Herzen ein Track, der alles auf den Punkt bringt: Shadows of the Invisible. Eine Platte wie eine geräuschlose Shinkansen-Fahrt durch die tiefsten Schluchten von Coruscant.

  • Madvillain – Madvillainy 2 (The Madlib Remix)

    Dass das Original dieser Platte eines der besten Hip-Hop-Releases überhaupt ist, sollte man niemandem erklären müssen. Dass Madlib aus dem Rohmaterial von Madvillainy vier Jahre später durch Cut-Up und Pastiche eine zweite großartige Platte gemacht hat, wäre bei jedem anderem als ihm vollkommen unglaublich. Dass Doom nach wie vor der beste MC der Welt ist, hilft wohl auch. I don’t think we can handle a style so rancid/Flipped it like Madlib did the old jazz standard.

  • Andy Stott – We Stay Together

    Das Unvermögen, die beste Platte des Jahres zu beschreiben. Das einzige Release des Jahres, das mich sprachlos hinterlassen hat; weil es schlicht so unfassbar gut ist. Weil es in seiner brachialen Konsequenz so richtig ist, wie kein anderes – ästhetisch, visuell, intellektuell, persönlich. Und: Das schönste Artwork des Jahres.

Honorable Mention: Roman Flügel – Fatty Folders, Com Truise – Galactic Melt, DJ Phono – Welcome to Whereever you’re not, The Sight Below – Glider, Robag Wruhme – Thora Vukk, VA – Back and 4th, Shigeto – Full Circle, Tyler, the Creator – Goblin

August

Es hat etwas für sich, den eigenen Musikgeschmack pro Jahr zu betrachten. Dabei zuzusehen, wie sich aus den wenigen relevanten neuen Alben, der Flut von 12″-Releases und dispersen Begegnungen mit Tracks und Platten der Vergangenheit nach zwölf Monaten ein konsistentes Ganzes ergibt. Egal, wie verloren ein Jahr im März aussehen mag – spätestens zum Sommer ist die definierende Musik vorhanden. Sich darauf verlassen zu können, ist schön.

Obwohl 2011 bisher nicht arm an guten Veröffentlichungen1 ist, habe ich mich sehr über die unwahrscheinliche Begegnung mit Lunapark gefreut. Es handelt sich dabei um eine Gruppe aus Wuppertal, die 1982 ein Album und eine 12″ veröffentlicht hat. Das ist wenig, doch vollkommen ausreichend – denn die Platte namens Gefangene Vögel ist fantastisch.

Lunapark balancieren zwischen ausgehendem Post-Punk und beginnendem Wave. Die Bassmelodie ist also dort, wo sie hingehört (vorne), ihr Synthie klingt roh und direkt, Gitarren sind für Soli und ansonsten Rhythmusinstrument. Alles hallt. Für den Gesang fällt mir nur der englische Ausdruck deadpan ein – eine angemessene Form für richtige Texte wie „Autos Kinder tausend Bilder / keine Resultate / bunte Tafeln an den Straßen zeigen nicht worauf ich warte“. Das Ergebnis ist konsequente Musik – simpel, funktional und hinreichend roh.

Lunapark hatten das Glück, sich aufzulösen, bevor sie Einflüsse zulassen konnten – schließlich einer der Hauptgründe für schlechter werdende Bands. Darum wird Gefangene Vögel eine meiner Platten des Jahres sein, ich bin mir sicher.

Da das offenbar andere ähnlich sehen, gibt es ein digitales Re-Release auf Tusk bei iTunes und eine Myspace-Seite. Das hatte man wohl so, Anfang der Achtziger.

  • Lunapark – Gefangene Vögel, Digital (Tusk). Original: Vinyl, 1982 (InTakt).

  1. Dirty Gold, Phono, Rau 

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