electricgecko

Dezember

Die lange Form hat es nicht leicht. Wie viele Settings gibt es in meinem Leben eigentlich noch, die eine LP als musikalisches Format aushalten? Die Prozesshaften sind es nicht. Sie verlangen nach mehr Kontinuität und Fluss, ihnen entspricht das Set. Die plötzlich auftretenden Momente (wenn sich die Landschaft draußen vor dem Zugfenster verändert oder die Sonne rauskommt) brauchen ihren Track oder ihr Lied, und zwar auf der Stelle. Das Album ist also im Besten Fall ein Setzkasten. Ein Repertoire von Variationen eines Themas. Wenn es wirklich gut ist, enthält es mehr als eine Handvoll wichtiger Tracks oder Lieder, je nachdem. In dieser Hinsicht waren die Alben des Jahres 2011 anders als diejenigen von 2010 – kein Überangebot großer LPs, sondern eine Reihe Releases, auf die ich beinahe unbemerkt immer wieder zurückgekommen bin.

  • Kangding Ray – OR

    Eine der vielen guten raster-noton-Veröffentlichungen in diesem Jahr – und eine, die ihrem Artwork nicht mehr entsprechen könnte. Präzise separiert in Klicks, Flächen und Beats walzt sich Kangding Ray voran, stets langsam, zuweilen vollständig zum Halt kommend. Musik, die in Museen laufen sollte. Musik, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine der kommenden Rick-Owens-Shows begleiten wird.

  • Lunapark – Gefangene Vögel

    Ich schrieb im August über Lunapark, eine kurzlebige Wave-Formation aus (ausgerechnet) Wuppertal, die sich nach einem Release wieder auflösten. Erstaunlicherweise hat sich Gefangene Vögel länger als einen Monat in meiner Rotation gehalten – dank seiner musikalischen Konsequenz und Funktionalität, seiner guten Texte und seiner Angemessenheit für meine Lebensumstände in diesem Jahr.

  • Conforce – Escapism

    Kein Jahr ohne einen fantastischen Longplayer von Delsin. In diesem Fall das zweite Album von Conforce: Ruhig, untexturiert, deep as fuck. Im Herzen ein Track, der alles auf den Punkt bringt: Shadows of the Invisible. Eine Platte wie eine geräuschlose Shinkansen-Fahrt durch die tiefsten Schluchten von Coruscant.

  • Madvillain – Madvillainy 2 (The Madlib Remix)

    Dass das Original dieser Platte eines der besten Hip-Hop-Releases überhaupt ist, sollte man niemandem erklären müssen. Dass Madlib aus dem Rohmaterial von Madvillainy vier Jahre später durch Cut-Up und Pastiche eine zweite großartige Platte gemacht hat, wäre bei jedem anderem als ihm vollkommen unglaublich. Dass Doom nach wie vor der beste MC der Welt ist, hilft wohl auch. I don’t think we can handle a style so rancid/Flipped it like Madlib did the old jazz standard.

  • Andy Stott – We Stay Together

    Das Unvermögen, die beste Platte des Jahres zu beschreiben. Das einzige Release des Jahres, das mich sprachlos hinterlassen hat; weil es schlicht so unfassbar gut ist. Weil es in seiner brachialen Konsequenz so richtig ist, wie kein anderes – ästhetisch, visuell, intellektuell, persönlich. Und: Das schönste Artwork des Jahres.

Honorable Mention: Roman Flügel – Fatty Folders, Com Truise – Galactic Melt, DJ Phono – Welcome to Whereever you’re not, The Sight Below – Glider, Robag Wruhme – Thora Vukk, VA – Back and 4th, Shigeto – Full Circle, Tyler, the Creator – Goblin

August

Es hat etwas für sich, den eigenen Musikgeschmack pro Jahr zu betrachten. Dabei zuzusehen, wie sich aus den wenigen relevanten neuen Alben, der Flut von 12″-Releases und dispersen Begegnungen mit Tracks und Platten der Vergangenheit nach zwölf Monaten ein konsistentes Ganzes ergibt. Egal, wie verloren ein Jahr im März aussehen mag – spätestens zum Sommer ist die definierende Musik vorhanden. Sich darauf verlassen zu können, ist schön.

Obwohl 2011 bisher nicht arm an guten Veröffentlichungen1 ist, habe ich mich sehr über die unwahrscheinliche Begegnung mit Lunapark gefreut. Es handelt sich dabei um eine Gruppe aus Wuppertal, die 1982 ein Album und eine 12″ veröffentlicht hat. Das ist wenig, doch vollkommen ausreichend – denn die Platte namens Gefangene Vögel ist fantastisch.

Lunapark balancieren zwischen ausgehendem Post-Punk und beginnendem Wave. Die Bassmelodie ist also dort, wo sie hingehört (vorne), ihr Synthie klingt roh und direkt, Gitarren sind für Soli und ansonsten Rhythmusinstrument. Alles hallt. Für den Gesang fällt mir nur der englische Ausdruck deadpan ein – eine angemessene Form für richtige Texte wie „Autos Kinder tausend Bilder / keine Resultate / bunte Tafeln an den Straßen zeigen nicht worauf ich warte“. Das Ergebnis ist konsequente Musik – simpel, funktional und hinreichend roh.

Lunapark hatten das Glück, sich aufzulösen, bevor sie Einflüsse zulassen konnten – schließlich einer der Hauptgründe für schlechter werdende Bands. Darum wird Gefangene Vögel eine meiner Platten des Jahres sein, ich bin mir sicher.

Da das offenbar andere ähnlich sehen, gibt es ein digitales Re-Release auf Tusk bei iTunes und eine Myspace-Seite. Das hatte man wohl so, Anfang der Achtziger.

  • Lunapark – Gefangene Vögel, Digital (Tusk). Original: Vinyl, 1982 (InTakt).

  1. Dirty Gold, Phono, Rau 

Mai

Es gibt Momente, die setzen einen Ort auf die persönliche Landkarte. Oft sind es Augenblicke, in denen auf einmal Dinge zusammenkommen, in denen klar ist: das ist jetzt der Sound, das ist jetzt die Stadt, das sind die Menschen und hier ist mein Getränk. Es gab diesen Moment für mich, als ich gerade nach Hamburg gekommen war, am Ende eines langen Abends. Es war der Moment, in dem ich zum ersten Mal DJ Phonos Welcome to your Life gehört habe und dachte: Ah. Hamburg. Eine Begrüßung.

Seit dem folgenden Tag habe ich das Haus nicht mehr verlassen, ohne diesen Track bei mir zu haben, seine tiefen Flächen und das Läuten der Glocken des Michel am Ende. Im Grunde ist es Soulmusik – die Erkenntnis, alt geworden zu sein. Und das Bewusstsein, dass das nichts ändert.

Nicht nur wegen dieses Tracks (sondern auch wegen nicht eben wenigen Partys und Momente in der Sonne) ist es eine große Freude, dass Henning Besser im Juni sein erstes Album veröffentlichen wird. Und auch diese Platte ist eine Begrüßung, High-Five und Umarmung: Welcome to whereever you’re not. Ich habe bisher nur wenig gehört, doch was ich gehört habe, reicht aus um zu vermuten: Hier kommt eines der Alben des Jahres 2011. Eines, das spezifisch für Hamburg sein wird, weil es einem schwer macht, zwischen Traurigkeit und Schalk zu unterscheiden. Weil wir das hier so machen, in dieser Stadt. Diese Platte könnte den Sommer bedeuten.

  • DJ Phono – Welcome to whereever you’re not, LP/MP3, Diynamic. Release: 13 Juni 2011.

März

Hamburg! Ihr wisst, der Ort, an dem man wenig Aufhebens um die guten Dinge macht. Und die Zeit statt dessen darauf verwendet, sie noch etwas zu polieren, ihnen Eigenarten zu geben. Und weil ehrliche Hingabe glücklicherweise von kulturpolitischen Brandrodungen nicht betroffen ist, finden wir auf unseren Wegen, zwischen Altona, Bahrenfeld und Winterhude allerlei Schönes, Hingebungsvolles. Gründe zum Lächeln und Anlässe zum Tanzen.

Verantwortlich sind dafür immer wieder auch die wunderbaren Menschen bei I saw Music, die nicht nur relevante Popmusik veröffentlichen, sondern auch regelmäßige Soirées veranstalten, die in ihrer Konsequenz und Ausgestaltung zum Schönsten gehören, was die Nächte dieser Stadt zu bieten haben.

Am Freitag findet in dieser Tradition Auf den Trümmern statt, eine Tanzveranstaltung im Turmzimmer des Uebel & Gefährlich. Wäre das Lineup nicht so gut – man müsste die Nacht zum Sonnabend dennoch dort verbringen. Denn die Plakate und Mixtapes (von Lorin Sylvester Strom und Max Motor) zur Veranstaltung sind so liebevoll gestaltet, gedruckt, aufgenommen und in den Vierteln dieser Stadt verteilt worden; die Neugier hätte ausgereicht.

Mit etwas Glück finden sich in guten Cafés und Bars noch einige Exemplare der blauen Kasetten mit intelligenter elektronischer Musik. Alternativ weiß ich eine Abkürzung: Auf den Trümmern-Tape, zum Download. Viel besser als das ist nur eine Party in Hamburg. Und zwar diese.

  • Auf den Trümmern – Tanzveranstaltung
    Sets von Sebastian Kokus und Lorin Sylvester Strohm, Max Motor und on:stop:off (live). 4. März 2011, Turmzimmer Uebel&Gefährlich, Doors: null Uhr.

Dezember

Mal wieder und immer wieder der letzte Tag eines Jahres. Ich erinnere mich an die Nächte vorm Monitor, den Wind im Gesicht und im Rücken, das Gewitter auf der anderen Seite des Sees. An Haut und Sand, Wien, Paris und Dänemark, einer Entscheidung für Hamburg, an die Nächte in Berlin, an all die Drinks, die Performances und das Zusammenklappen, Win und Fail und immer wieder immer wieder. Songs und Tracks für 2010:

Winter

  • Lykke Li – Dance Dance Dance
  • Ja, Panik – Paris
  • Pantha Du Prince – Lay in a Shimmer
  • Four Tet – She only wants to fight
  • Benjamin Brunn & Move D – Love the one you’re with
  • Jose James – Blackmagic (Joy Orbison’s Recreation)
  • Pantha Du Prince – Stick to my Side
  • Shed – Warped Mind
  • Christian Naujoks – Light over the Ranges

Frühling

  • Autos und Mädchen – All the World loves Lovers
  • Flying Lotus – Do the Astral Plane
  • Delta Funktionen – Deflection
  • Big L– Da Graveyard
  • Coma – Crystal
  • New Order – Dreams never End
  • Foals – After Glow
  • Superpunk – Das Feuerwerk ist vorbei
  • Efdemin – Oh my God

Sommer

  • Matthias Reiling – Just in Time
  • Efdemin – There will be Singing
  • Matthias Meyer – Infinity
  • Souls of Mischief – ’93 till Infinity
  • Lawrence – Happy Sometimes
  • Maxine Nightingale – Right Back where we started from
  • Marek Hemmann – Gemini
  • 1000 Robota – Fahr Weg
  • The Human League – Don’t you want me
  • Foster – Quiet before The Storm (Quarion Remix)

Herbst

  • anbb – Ret Marut Handshake
  • Éloi Brunelle – Oberkampf
  • Shed – The Bot
  • Surphase & Rktic – Tidenhub
  • The Aim Of Design Is To Define Space – It’s a bloody Kippenberger
  • MIT – Nanonotes
  • Pantha du Prince – Water Falls
  • Siouxsie & The Banshees – Hong Kong Garden
  • MIT – Univers

Winter

  • Alex Boman – Purple Drank
  • Lawrence – Dwelling on the Dunes
  • anbb – One
  • Gold Panda – Snow & Taxis
  • Christopher Rau – The Needs
  • Phantom/Ghost – My Secret Europe
  • New Order – Temptation
  • The Human League – I love you too Much (Demo Version)
  • The Soft Moon – Dead Love
  • Phantom/Ghost – The Shadow im Schutt (Pantha du Prince Remix)
  • New Order – Perfect Kiss

Sets

Live

  • Pantha du Prince, Melt! Festival, Gräfenhainichen
  • Four Tet, Melt! Festival, Gräfenhainichen
  • anbb, Kampnagel, Hamburg
  • Kollektiv Turmstraße, Ego, Hamburg

Eine Aneinanderreihung von Ereignissen ist nur schwer als Zeitraum oder gar konsistente Geschichte zu schreiben, wenn ihr Kontext fehlt. Ihr Kontext, das ist zumeist die Stimmung und ein Gefühl. Das ist das Sonnenlicht auf deinen Armen und die Alben in der Playlist namens Current Rotation auf deinem iPhone.

Dieses Jahr war ein fantastisches Jahr für Musik. So viele exzellente Releases. Was Popmusik und das erstaunlicherweise nach wie vor existierende Albumformat betrifft, sind es zuallererst diese fünf Veröffentlichungen, die meine Ereignisse zu Geschichten gemacht haben. Die fünf wichtigsten Platten, zweitausendzehn.

  • anbb – Mimikry
    Dass das erste Album in der Kollaboration zwischen Blixa Bargeld und Alva Noto so wichtig war, hat mit einem der eindrucksvollen, eigenartigen Konzerte des Jahres zu tun. Und mit brachialer Zerbrechlichkeit, Statik und formaler Konsequenz. Diese Platte in der Nacht, zum Ende hin, wie gesagt.
  • The Soft Moon – The Soft Moon
    Wie Quad Throw Salchow im vergangenen Jahr hätte The Soft Moon keinen besseren Zeitpunkt für sein Debutalbum wählen können – eine Winterplatte durch und durch: Düster, kalt, treibend. Allem voran Dead Love, einer der besten Wave/Gitarrensongs des Jahres. So hätten The XX klingen können, wenn sie nicht so unbeschreiblich langweilig wären. Mehr Coolness, bitte.
  • Efdemin – Chicago
    Chicago, eine ganz andere Sache. Auf seinem dritten Album entwickelt Efdemin einen organischen Zugang zu House, zu freier elektronischer Musik. Chicago ist eine Jazzplatte, ein Pop-Album und die Musik des beginnenden Sommers – und dazu hätte allein Oh my God ausgereicht. Es ist außerdem das wohl am schönsten gestaltete Album des Jahres.
  • Mit – Nanonotes
    Nun zu den Besten. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass Mit zwei Jahre nach Coda ein Album veröffentlichen, dass alle früheren Releases in Eigenständigkeit, Klugheit und Ästhetik bei weitem übertrifft. Und dabei waren Mit bereits brillant, ungestüm und schlau. Nanonotes ist einen Schritt weiter, textlich wie musikalisch stripped, auf den Punkt, universell. Wohl die meistgehörte Platte 2010 und die beste Popmusik der letzten Jahre. Alles weitere in Extensio hier.
  • Pantha du Prince – Black Noise
    Das erste und das letzte Album. Das kälteste und das wärmste Album des Jahres. Ein Schimmern, ein Glänzen, gefrorene Felder, Schutt und Eis, abstrahierte Natur, Elektroakustik. Die Kapuze, das Wehen, ein schöner Künstler. Es wird nie eine Platte geben, die besser zur zutiefst artifiziellen und zugleich naturnahen Beobachtungssituation passt, die entsteht, wenn man durch ein Flugzeugfenster auf die ewig vereiste Welt blickt. Mein Jahr in Nuce, Black Noise, ein großes Kunstwerk.

Weiterhin erwähnenswert, in keiner besonderen Reihenfolge: Gold Panda – Lucky Shiner, Various – Dial 2010, Shed – The Traveller, Lawrence – This Night Will Last Forever, Tocotronic – Schall und Wahn, Coma – Crystal EP, Flying Lotus – Cosmogramma, The Human League – Dare!, Foals – Total Life Forever, Four Tet – There is Love in You, Superpunk – Die Seele des Menschen unter Superpunk, Christopher Rau – Asper Clouds

Nicht weniges wird erst interessant, wenn man es aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Es ist nicht so, dass dieser Winter das unbedingt nötig hätte, nein, er ist auch für sich genommen hinreichend vielschichtig und angenehm. Ich komme dennoch nicht umhin, ihn gefiltert wahrzunehmen — und zwar durch zwei Platten, die in den letzten Monaten erschienen sind.

Bei der ersten Platte handelt es sich um ein Werk, das sich geradezu aufdrängt: Mimikry, das erste Album der Kollaboration zwischen Blixa Bargeld und Carsten Nicolai, alias Alva Noto. Die Verbindung solch brachialer Stimmqualität mit Alva Notos nicht weniger brachialem Glitchfunk geht exakt so gut auf, wie man sich das vorstellt. Ihr gemeinsames Album variiert zwischen feinsten Kristallstrukturen und elektronischer Dekonstruktion, dem monumentalen Berghain und dem feinen One, einem der Songs des Jahres. anbb sind U und E zugleich. Anders als in seiner Arbeit mit Ryuichi Sakamoto beschränkt sich Alva Noto dabei nicht auf die Rolle des Intervenierenden, Remixenden. Vielmehr erinnert die Arbeitsteilung bei anbb an die eines klassischen HipHop-Outfits: Alva Noto macht die Beats, Blixa Bargeld ist der MC. Eine Platte, harsch wie der Winter, sanft wie frischer Schnee.

Lucky Shiner, das Full-Length-Debut von Gold Panda schlägt eine vollständig andere Perspektive auf den Winter vor. Derwin Panda (er heißt tatsächlich so) sampled, cuttet und looped ebenso kunstvoll wie Flying Lotus das für Warp tut. Doch Gold Panda veröffentlicht bei Ghostly — und interessiert sich folgerichtig für warme Synths und Stimme statt für Beat und Jazzsnare. Tracks wie You oder Snow and Taxis leben von der Wiederholung, doch sie stagnieren nicht. Sie streben nach oben, mit jeder Iteration schimmern ihre Schönheit und Wärme stärker. Darum ist Lucky Shiner treffend betitelt. Darum ist Lucky Shiner ein Album fürs Drinnensein, für die Wärme im Winter.

Ich werde das Haus nicht mehr ohne diese Alben verlassen, bis das Jahr endet.

  • anbb — Mimikry, LP/MP3/CD, Raster-Noton.
    Gold Panda — Lucky Shiner, LP/MP3/CD, Ghostly

September

MIT

Es ist sieben Jahre her, dass ich ein Konzert von MIT gesehen habe. Das war in Münster, in einem Club, in einem Gebäude, das es nicht mehr gibt. Damals hatten die drei jungen Kölner die Idee Elektroclash weiter und präziser entwickelt als alle Gruppen, die in dem Jahr für das Genre bekannt werden sollten. Nach einigen 12″-Hits1 erschien vor zwei Jahren das herausragende Debut-Album Coda. Dieser Platte hörte man ihre Herkunft an; Techno Kölner Machart, Kompakt und all das.

Nanonotes ist etwas anderes. Nanonotes ist ein eigener Entwurf von Popmusik, nicht weniger. MIT klingen aktueller als jede andere Musikgruppe; so zeitgemäß und nach 2010, dass man erschrickt und sehr kurz irritiert ist, wenn in Hydra der Gesang einsetzt. Zeitgemäß, das muss natürlich immer bedeuten: klingen wie viele Dinge, die es bereits gab. Und darum ist es genau richtig, dass sich die Musik seit Coda weiterentwickelt und neue Aspekte gewonnen hat. Und jetzt klingt, wie man sich den Sound von Tokyo in den späten Achtzigern vorstellt, wenn man niemals dort war, in dieser Zeit.

Nannotes ist ein Album über Technik, das verwundert nicht. Bereits die Texte des Vorgängeralbums behandelten die Artefakte moderner Kultur, urbane Räume und das Gefühl, jederzeit Teil dieser Dinge zu sein. Diese Platte verwebt das Leben in den Städten, die ständige Bewegung durch sie hindurch vollends mit der Wärme des Bordsteins, dem Sonnenaufgang an der Oberbaumbrücke und, ja unbedingt, der Natur. Um sie dann wieder mit den Vokabeln der Medien und der Gegenwart zu kontrastieren — blaue nacht und alt global, das gehört zusammen. Da ist eine Autobahn von Buchforst nach Odenwald.

Insofern ist die Orientierung an Krautrock, das Aufgreifen von Motorik nur richtig. Und die Zusammenarbeit der Gruppe mit Emil Schult, einem der Schöpfer der Kraftwerk-Ästhetik, wird offensichtlich. Ebenso wie das herausragende Artwork von Alexander Ernst Voigt. Wie die Gestaltung von Rückseite und Innersleeve von Kirstin Weppner, Elisabeth Moch und Christian Schneider.

du bist die basis
für komplikation
grammatische hilfe
in meiner aktion
IN TER AK TION
reine form
die nie vergisst
eine figur
die geometrisch ist

Nanonotes wird eine der Platten des Jahres sein. Inhaltlich, musikalisch, als geschlossenes ästhetisches Konzept. Ich bin sehr, sehr hingerissen und dankbar für diese Musik. Es wird ein neues Konzert geben müssen. Foto von mitmitmit.net.


  1. Was war es und die B-Seite der Good Book 7″, Park sind nach wie vor legitime Teile eklektizistischer Playlists. 

August

Revolve — Cover

Etwas zum zweiten Mal zu tun ist grundsätzlich viel schwieriger als das erste Mal. Weil erwartungsfreies Handeln nicht mehr möglich ist, weil ein Vergleich möglich ist, weil der Vergleich sein muss. Machbar wird es, wenn man die Möglichkeit akzeptiert, dass nicht alles immer besser werden könnte, sondern mittelmäßig bleibt oder blöder wird. Machbar wird es, wenn man irgendwann grinsend unfertig aufhört, das Denken lässt und sich ein zweites erstes Mal leistet, Dendemann.

Darum nun also: Revolve, ein zweites Tape zeitgenössischer Musik. Rainfall war ein Produkt des Hamburger Herbstes. Das hier ist Sommer. Revolve oszilliert, stolpert, albert herum und wagt schließlich sogar unerhört gute Laune. Alles strebt nach oben. Ich wünsche gute Unterhaltung.

Überhaupt: Auf unterhaltsame Weise zu scheitern, das scheint mir ein gutes Ziel.

Juni

Die Geschichte vom Web und dem gegenseitigen Zusehen, der stetigen Begeisterung über unfassbar richtige Perspektiven anderer, sie wurde zu häufig erzählt, um noch originell zu sein. Eine meiner Geschichten, dieser Sorte ist Ramon Haindl. Über die Tapes1 und die Ästhetik von We are Gosh war es ein kurzer Weg zu dem, was er in erster Linie macht: Fotografie. Seine Bilder verbinden einen harschen, matter-of-fact-Stil mit Nähe und Wärme. Es tut weh, und dann möchte man mehr.

Ramon hat heute sein Portfolio veröffentlicht. portfolio.ramonhaindl.com zeigt Kommerzielles, persönliche Fotografie und Editorial-Arbeiten. Alles davon ist unbedingt sehenswert, ebenso das assoziierte Journal. Aus letzterem stammt das Bild zu diesem Eintrag. Es wurde in Tell Mum Everything Is Okay N°3 veröffentlicht und gehört zu den spannendsten, die ich in diesem Jahr gesehen habe. Bitte beachten.


  1. Ich höre das düstere D’Arc-Tape immer noch. Seit zwei Jahren. Es wird nicht schlechter. 

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