electricgecko

Dezember

Die Wüste des Jahres 2020 breitet sich hinter mir aus, in allen Dimensionen und Tiefen, omnipräsent in ihrer Leere und Auflösung, ihrer umfassenden metaphorischen Qualität. Die Wüste als Wunder, wenn sie in Stille betrachtet wird (auf dem Rücken liegend, in die Sterne blickend). Die Wüste als unendliche Belastung wenn sie durchquert werden muss. Mir ist die Wüste in Hotelzimmern begegnet und allein in meinem Bewusstsein, eine Wüste, die den Horizont auslöscht, die Himmel, Luft und Terrain in völliger Weite aufgehen lässt. Wüste als tief gesättigtes Gelb, die Farbe des Jahres 2020, Wüste als Myriade geschmolzener Glaspartikel. Wüste als disproportionale Leere, als ein Innehalten allen Momentums, in Zeit und Raum.

Das Jahr begann zwischen Wüste und Meer in Südamerika und Agafay, fulminant und voller Neuheit und Optimismus, eine Welt entfernt vom hier und jetzt. Ich hörte die Messerplatte in einem Zug von Casablanca und wenig später Monira Al-Qadiri, wie sie mit Holy Quarter alles in diesem Jahr beschrieb. Ich las Dune und war eingehüllt im warmen Nebel am Meer bei Espinho, alle Zukunft diffus und soft, aber entschieden hier. Das traf auf die Katharsis in den Straßen von Paris, du musst dein Leben ändern, auf Kiko’s Show und kurze Zeit später Performa mit Anne und der Abend danach mit allen, we’re not lovers, we’re here to serve you. Full stop. Ein schnelles Jahr ein langsames Jahr. Ein Jahr Grundlagenarbeit und subkutane Energie und das Wissen um den Erhaltungssatz. Die Entscheidungen sind gefallen, nun wird gebaut. Musik im Jahr 2020.

Was ich in deinen Träumen suche/Ich suche nichts/Ich räume auf

Winter

  • Fox The Fox – Precious Little Diamond
  • Daddy Yankee – Gasolina
  • Phase Fatale – Reverse Fall
  • Schwefelgelb – Fokus
  • Stan Soul – Illusion
  • Slowthai – Nothing great about Britain
  • Messer – Die Frau in den Dünen
  • Tubeway Army – Down in the Park
  • Young Palace – Fragments V
  • Messer – Tod in Mexiko
  • Andrew Pekler – Sunshower at Sandy Island
  • Beatrice Dillon – Square Fifths
  • Vril – Voices in your Head

Frühling

  • Nazar – Bunker (featuring Shannen SP)
  • Gunnar Haslam – Cacique de Poyais
  • My Disco – Equatorial Rainforests of Sumatra
  • Alva Noto – A Forest
  • Einstürzende Neubauten – Fiat Lux
  • Topdown Dialectic – Untitled (FUR 084 01)
  • Love Songs – Selbstauflöser Teil 2
  • Clouds – Klaw
  • Persoable – Bushi
  • Clouds – Entrance „Perish“
  • The KVB – Always Then
  • Einstürzende Neubauten – Vanadium I-Ching
  • Philipp Sollmann – Rara
  • Delta Funktionen – Silhouette (Marcel Dettmann Remix)
  • WK7 – Do It Yourself

Sommer

  • Shabazz Palaces – Bad Bitch Walking
  • Kalter Ende – Mujō
  • Keine Ahnung – Sentimentale Jugend
  • Cult of the Damned – Cult of the Damned
  • East Flatbush Project – A Madman’s Dream/Can’t Hold It Back
  • My Disco – All I Can Do (Justin K Broadrick’s Warmer Remix)
  • Lambda – Hold on Tight (Nalin & Kane Remix)
  • Fred P – Project 05
  • Ital Tek – Deletion Quarter
  • Boy Harsher – R.O.V. (New Beat Edit)
  • Hoover1 – 2A
  • Laurel Halo – 11
  • Vril – Free World Order
  • Depeche Mode – Enjoy the Silence
  • Evian Christ – Ultra

Herbst

  • Efdemin – Van Laack Vacuum (Cut)
  • My Disco – Act (Rainforest Spiritual Enslavement Remix)
  • Mode – Pillars of the Temple
  • Yves Tumor – Super Stars
  • BFND – Sunglasses at Night
  • Vril – Psionik
  • Einstürzende Neubauten – Alles in Allem
  • Rune Bagge – Light up the Sky
  • Schwefelgelb – Reflex (Instrumental)
  • Lee Gamble – Polis
  • Vril & Rodarte – Apophenia
  • Neue Grafik – Bed Stuy’s Mood
  • The Aim of Design is to Define Space – Routine
  • Luke Slater – Love

Winter

  • exael – Circle (Squishy Mix)
  • Gesaffelstein – Selected Faces
  • Ital Tek – Nocturn
  • XOR Gate – Boolean Logic Gate
  • Efdemin – No Exit
  • Gila – Wholelotta
  • TR/ST – Sulk (Live at The Novo DTLA)
  • Clouds – Geistinh
  • Abdullah Miniawy + Carl Gari – The Cyg
  • Flying Lotus – Black Balloons Reprise
  • Keine Ahnung – Funkbild Dub
  • African Sciences – Circuitous
  • Yohji Yamamoto – ツツジと犬と黄色いジャンパー

Sets

14 years after my first house, I keep drawing iterations of it, over and over, as an obsession. though they’re always different, they’re different so that they’re always the same (to resist being defined by their location). We always draw the same house, for the same person – under various pseudonyms – as if the idea were set in stone, like also Rossi says: without ever letting myself be distracted by useless people or things, in the belief that progress in art and science depends on such continuity and constancy, which are the only means of achieving renewal.

Eduardo Souto de Moura, Memories, Projects, Buildings, 2020.

In the face of increasing complexity, we are more than ever in need of a system of thought that that is capable of simplifying without mutilating. When reality resists simplification, we have to turn to complexity. Complexity is the eruption of the disorder of the random and of uncertainty in the reality […] We all know that the future is unpredictable today, given the perpetual intervention of the new and the unexpected. And it is for that very reason that extreme complexity has a tendency to resemble a permanent crisis.

Edgar Morin, On Complexity. Hampton Press, 2008.

The assembler calculates expressions and resolves symbolic names for memory locations and other entities.

Was wenn du nicht rauskannst? Was wenn alles das du hast hier ist? Dann baust du mit dem, was in Reichweite ist, oder du baust mit Nichts, from nothing to something. Wenig Material ermöglicht tiefere Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen, so war es mit dem Input in diesem Jahr. In den kalten Monaten habe ich keine Kunst jenseits der Bildschirme gesehen, nur im Sommer in Serralves und in den weiten Hallen meiner Städte. Eine einzige Musikaufführung gab es (die wunderbaren Love Songs, aus dreißig Meter Entfernung), alle anderen wurden abgesagt. Um so eingehender habe ich gehört und gelesen, und alles auf Raum und Gemüt bezogen.

Trotz der ganzen Misere war es ein Jahr für Neues und für Tiefes, für die Lust an Veränderung und für das Formen der Welt. Für große, leise Dinge, möglicherweise. Es ist also nicht überraschend, dass die wichtigen Releases des Jahres 2020 überaus raumgreifend sind, sogar für meine Geschmacksverhältnisse. Es sind vier Platten, die Material und Baupläne für ganze Welten zur Verfügung stellen. Platten die ich zerlegt habe, und die mich zerlegt haben, Platten die ich benutzt habe, für alles mögliche, und nicht nur als Ersatz. Und dann ist da noch eine Platte für den Sommer, die Straßen von Bonfim, die Brücken über den Fluss und die Stunde, in der ich doof und glücklich war. Vier zu eins, Kopf zu Herz, ich kann damit arbeiten.

  • Philipp Sollmann – Monophonie (A-Ton)

    Die Linie, die Efdemin’s Veröffentlichungen miteinander verbindet, beschreibt einen angenehmen Bogen: Das ist Musik, die einem klar definierten Spektrum ästhetischer Interessen folgt. Am Ende dieses Jahres lehnen Chicago1 und Monophonie nebeneinander am Plattenspieler, wie Tag oder Nacht, wie Gemütszustände des gleichen Wesens, sanfte Scheitelpunkte der Sollmann-Linie. Wie leicht und elegant ihr Bogen U und E, Floor und Kammer verbindet, sollte nicht überraschen – und doch ist das bemerkenswert. Monophonie ist die Auseinandersetzung mit dem Potenzial des offenen Plans, ein Grundstück, das in gleichmäßigen Bewegungen wieder und wieder beschritten wird. Das ist Musik wie Sauerstoff, sie strebt nach oben, sie strebt ins Freie2, während Sonne durch die Fenster fällt. Und doch entsteht dieses Album durch konzentrisches Definieren und Nachzeichnen einer Struktur, applying the rigor of process to musical performance – es schließt den Kreis aus analoger Performance und der Musik der Maschine.

    Monophonie lief in den leichten und wachen Momenten des Jahres, es ist ausgezeichnetes Material für den angriffslustigen Geist, für Plan und Bau, für ein gemessenes Dasein. Es war in diesem Jahr dank dieser Platte etwas einfacher zu finden.

  • V.A. – Berlin Atonal: More Light (Berlin Atonal Recordings)

    Ich neige dazu, interessante Erlebnisse eher zu protokollieren als Fotos von ihnen zu machen. Viele Dinge sind unfotografierbar, und Text gibt die Umstände seiner Entstehung deutlicher wider. Die Erinnerungen an das Atonal 2017 und 2019 sind präsent, weil ich sie aus diffusen Aufzeichnungen hergestellt habe3. Für dieses Jahr gibt es keine Aufzeichnungen, keine Nächte im Kraftwerk an der Köpenicker Straße, und eine Gelegenheit weniger, die Dinge in der dunklen Reflektion der bestkuratierten Musikveranstaltung der Welt zu sehen.

    Aber es gibt ein Set von fünf Schallplatten aus schwerem Vinyl, das die Protagonistinnen des Festivals zusammenbringt. More Light ist, wie zu erwarten, eine tiefe, ausufernde Compilation, nicht zu fassen in seiner Ausdehnung in jeder Dimension. Es ist das Monument einer monumentalen Reihe von Veranstaltungen: Ein Album das seine eigenen Orte schafft. Zu den 19 Tracks gehören der größte Lee-Gamble-Hit der letzten Jahre (Polis), ein hypnotischer Drift von Carl Craig und Abdullah Miniawy (The Cyg), ein veritabler Floorfiller von Peder Mannerfelt (Let’s get Metaphysical) und das wundervolle A Way you’ll never be des Pablo’s Eye-Projekts, das mir 2019 so gut gefiel. Altar’s Without Bodies erzählt schließlich das Jahr 2020. So vieles ist zu hören, so vieles ist zu sehen in der Welt dieses Releases.

    Ich warte auf die Ankunft des physischen Sets im Januar, ich warte auf das letzte Artefakt des schweren Jahres 2020.

  • Clouds – Arkiv 1 – Dark Leviathan (self-released)

    Ich nenne Arkiv 1 stellvertretend für die Masse von Relases, mit dem Clouds dem Jahr 2020 begegnet sind: hunderte Tracks, Beats und Samples, verteilt auf drei Crews der Neurealm-Lore und darüber hinaus – bis zu The Parallel4, dem Schritt ins Licht des neuen Jahres. Nun bewegen sich Liam und Calum in Genres, in denen wenig Zeit und großer Druck eher förderlich sind. Alles schweres Material, aufs Äußerste verdichtet und auf eine Weise getuned, deren Akribie und Obsessivität keine noch so kunstvoll verrotte Soundoberfläche verbergen kann.

    Jedenfalls, Dark Leviathan Krew, die versifften Junkies der New Gàrradh-Linie in idealer Balance zwischen Gabber und Rave, mit genau so wenig Jungle und Vocals, dass auch Track zwölf nicht langweilig wird (wird er nicht, Inside „Cnoc Boys“ ist einer der Hits der Platte – tribal Drums, und eine Synthfläche, die klingt als hätte jemand ein Fenster im Bunker aufgemacht). Klaw ist auch so gut, pures Momentum; das Auslöschen-Sample aus Tilt Road wird wohl ewig in einer meiner Hirnwindungen feststecken. Schließlich: Entrance (Perish), vermutlich der größte Hit eines Jahres ohne Floors – und selbstverständlich der erste Track des Albums. Wo andere über Spannungsbögen nachdenken und mit zittrigen Fingern noch einmal den Reverb justieren, wissen Clouds natürlich, dass das Fetteste immer nach vorne muss, so groß und dumm wie möglich. Musik, zu der sich exzellent nachdenken oder einfach gar nicht mehr nachdenken lässt, und das ist rar, für mich, in der Begegnung mit jeder Form von Kunst. Eine der am häufigsten und mit der größten Freude gehörte Platten meines Jahres.

  • The KVB – Of Desire (self-released)

    Es war ein schweres Jahr, und es bedurfte schwerer Musik. Aber sogar 2020 hatte einen Sommer, und der Sommer war gut und lang: eine dunkle Sonne, kurz bevor sie hinter den Bäumen des Parque das Águas untergeht – und dann trete ich auf die Rua do Heroísmo und bin frei. Dafür braucht es Musik, und sie muss leicht sein, und sie muss gloomy sein und sich gut anfühlen wie eine alte Jeansjacke auf der Haut.

    Das muss es immer geben, und in diesem Jahr waren es The KVB5, die diesen Sleaze, diese ausgedachte Düsternis bereitwillig abgeliefert haben. Of Desire ist ihr konzentriertestes, ihr eindeutiges Release: Primer gleitet gemessen durch den Untergrund wie eine gepanzerte Magnetschwebebahn, Second Encounter ist ein einziger androgyner Groove. Vermutlich ist Never Enough der nominelle Hit der Platte, aber wer kann das schon sagen, es verwäscht alles zu einem lasziven Rauschen, zu Atmosphäre mit Nachdruck, wie ich 2015 schrieb. Ich werde die ästhetische Perspektive des Jahrzehnts meiner Geburt nicht ablegen können – a clinical and calculated artifice that gazed dispassionately on the banality of a decaying world. Musikalische Eigenständigkeit ist hier nicht leicht zu finden, in verwilderten Genres (Cargo-Goth? Protowave? Sexpunk?). Aber darum geht es auch nicht – es geht darum, wie die Abendluft riecht, um unsere Umrisse in der Nacht und darum, dass wir angeschlagen sind, aber nicht alt. Mistral Goth for life.

  • My Disco – Wrapped Coast (Temporary Residence Limited)

    Und dann gibt es Musik, in der alles kulminiert. Die Platte des Jahres 2020 ist eine 12″ aus dem Jahr 2012, sie enthält diese seltene Art Musik, Variationen von zwei Titeln, Wrapped Coast und All I can do. Es ist Musik von My Disco, Musik vollkommener Anwesenheit und Aufmerksamkeit6. Musik, in der Raum für den Umfang aller Spektren und die Enden der Skalen ist.

    In einem der definierenden Momente dieses Jahres sitze ich mit dieser Musik im Rosengarten von Serralves, eine graue Wärme liegt über der Stadt, nichts ist in Bewegung. Ich empfinde den spezifischen Zustand aller Atome so präzise reflektiert, dass er verständlich wird. Die ganze Unfassbarkeit des Hier und Jetzt, nicht zu beschrieben als in diesem Verhältnis von Sound und Raum und Zeit. Die unfassbare Vorhandenheit der Welt, vollkommene Anwesenheit und vollkommende Auflösung kulminieren unter dem Eindruck dieses Sounds. Für einen Moment, für neun Minuten des Justin K. Broadrick’s Warmer Remix, ist alles null.

    Both aspects are of equal importance: to be part of the world and to be protected from it. The arrangement is best imagined as a canopy within reality. The lake may be observed, the chirping birds and splashing koi remain present, but right here, under the camperdown elm, one is un-discoverable. Here, even stillness and idleness become possibilities.

    Die Bedeutung von Musik überhaupt, in diesem Jahr, für mich und immer, liegt in der Möglichkeit solcher Momente.

Auch gut und richtig: Beatrice Dillon – Workarounds, My Disco – Environment Remixes, Love Songs – Nicht Nicht, Einstürzende Neubauten – Alles in Allem, Messer – No Future Days, iTal Tek – Dream Boundary, Young Palace – Locus, Gila – Energy Demonstration, Helena Hauff – Kern Vol. 5, Nazer – Guerilla, Topdown Dialectic – FUR 084, Schwefelgelb – Dahinter das Gesicht


  1. Wie in meinem Text zur Bruxelles 12″ erwähnt, scheint Chicago einer der zentralen Messpunkte meiner Musiksozialisiation zu sein – das definitive, raum- und strukturbezogene Album. Dass es die schönsten Innensleeves und das schönste Cover hat, trägt dazu bei. 

  2. Es ist bemerkenswert, wie nah Efdemin hier Perpetuum Mobile kommt, der großen Auseinandersetzung der Einstürzenden Neubauten mit strömender Luft und der Leere, die ihre Abwesenheit hinterlässt. Zuweilen meint man, auf Monophonie Blixa Atem holen hören. Equivalenzen Berliner Musik. 

  3. Truth is mysterious and elusive, and can be reached only through fabrication and imagination and stylization, sagt Werner Herzog und hat recht. 

  4. Produziert und pre-released für das RMT01-Projekt von ACRONYM®, zu dem ich mit WAF GMBH ebenfalls beitragen durfte. Good company. 

  5. Es besteht natürlich eine direkte Äquivalenz zu Boy Harsher, die mir im vergangenen Jahr so viel bedeutet haben, auf eine gewissermaßen kalifornische Weise: all der Hall auf allem, das ewige cinematische Autogefahre, der schwarze Sonnenschein – es macht schlicht zu großen Spaß (All your City lies in Dust). 

  6. Während sie gehört wird, ist jeder Gedanke durch ihre Atmosphäre gefiltert. Jede Handlung trägt ihr Gewicht, its measured intensity, its rigour and concentration. Its all-leveling truth. (Still) Dabei bleibe ich. 

The prevalent emotion in context with the death of a loved one is the brutal and finite realisation that we are the lucky ones, who get to continue to witness the world, that get to continue to watch, to listen, to love, to inscribe ourselves. We get to continue to do the things that – to a certain degree – are possible because of those that came before us. With this comes the urgent realisation that we must not waste a minute, an impetus, a connection. We need to ferociously continue to be ourselves, we owe it to those who had to go.

Das endende Jahr ist kein Jahr der Worte. Ich habe mehr gesehen als geschrieben, mehr in die Ferne als im Raum. Darüber wäre Interessantes und Nachdenkliches zu sagen, aber wenig ist deutlicher als der Abdruck von Zeit in Musik. Es gibt also die Playlist namens Autobahn auf meinen Devices. Sie enthält Musik, in der es um Momentum geht, ein einfaches Thema und simple Tracks, konzentriert auf die eigene Kinetik und wenig anderes.

Selected Faces von Gesaffelstein ist einer dieser Tracks, aus dem letzten Ende der Welle maximaler elektronischer Musik: Ein Tool im besten Sinne, kaum Substanz, alles Technik und gutes Finish, zugleich superklar und versaut, wie gute Highs es immer sind. Arrangiert man mehrere Tracks wie diesen zu einer dramaturgisch effektiven Reihe, führen sie in einen positivistischen Zustand reinen Handelns, einen Implementationswahn, der sich wohltuend von Denken und Entwerfen1 unterscheidet.

Ein leichter Eskapismus ist also beteiligt – oder zumindest der Versuch, einer Situation zu entkommen, um woanders wieder handlungsfähig zu werden. Entrance «Perish» (von Clouds, aus dem isolationsbedingt massiv gewachsenen Neurealm-Katalog) passt in dieses Bild: Es ist der gut gelaunte Abstieg in die Gabberunterwelt der Dark Leviathan Krew, wo ohnehin nichts mehr heil ist. Hier kann man atmen und handeln. Der destruktive Charakter ist heiter und freundlich. Er kennt nur ein Ziel: Platz schaffen (Bargeld/Benjamin).

Zum Schluss ist Hold on Tight (in der Version von Nalin & Kane) vielleicht sogar thematisch richtig, auch wenn man für derlei Feinheiten 1997 vermutlich keine Kapazitäten hatte. Wer die Frage, ob und wie man nach neuneinhalb Minuten Break wieder in den dreistesten aller Hooklineriffs zurückkommt, mit einem schlichten Spurwechsel beantwortet, hat entweder keine Zeit, keine Ideen oder Sinn für Effektivität und guten Geschmack. Alles akzeptable Gründe, vielleicht nicht in der Welt, aber hier in dieser Playlist, in der sich das Jahr 2020 bereits als qualmender schwarzer Punkt im Rückspiegel entfernt.


  1. Rastermusik hieß das gemeinhin in den frühen Tagen von WAF GMBH, kaputte Taktarten, um auf die komplizierteste aller denkbaren Weisen zu möglichst einfachen Ergebnissen zu kommen. Wir waren dumm und effizient. 

November

Unfähig irgendetwas als etwas anderes als Arbeit zu betrachten. Arbeit als Gemütszustand, als Weg, sich Dasein zu erlauben. Die Welt in Arbeit auflösen, die Welt als Arbeit einrichten. Arbeit und die Fragen: Ist es zu verantworten, jetzt nicht zu arbeiten? Wie lange kann man dann leben ohne dass das Universum hereinbricht und Tribut fordert? Ist es ein Katholizismus, der die Daseinsschuld aufgewogen wissen will? Protestantismus, der die Verweigerung des Lustprinzips zur Lust erklärt?

Es ist eine List (um sich zu umgehen), etwas großes in den Weg der Arbeit zu räumen, etwas das ihr ähnlich sieht, das stärker an ihre Rezeptoren bindet. Das sie besetzt und auslaugt, bis sich eine mittlere Intensität über alles legt und der Atem zu hören ist.

Und meine Unfähigkeit, Arbeit, wenn sie getan ist, als Triumph zu begreifen, sie auszustellen und davon zu erzählen. Allenfalls kann sie eingetragen werden in die Liste Getaner Dinge, aufgeführt im Resümee. In jedem Fall schnell vergessen und durch neue ersetzt, die Arbeit in Zeiten der Pest. (London)

September

View from Ennis House

Basis: Eine gewisse Sachlichkeit des Ausdrucks. Diese Musik ist konstruiert, sie folgt Regeln, sie nimmt sich zurück. Jeder Track ist ein System, und Spannung entsteht aus dem Durcharbeiten seiner möglichen Konstellationen. Gegenüber anderen Dial-Releases (inklusive seines eigenen Debütalbums) wirkt Efdemin hier kühler, mit größerem Interesse an Raum und Bau als an den Menschen. In dieser Hinsicht könnte das hier auch die dritte Auskopplung aus Chicago sein, dem Meisterwerk.

Herz: Diese ausbalancierte Unruhe, Drive spürbar vorhanden, aber gedämpft, als fände die eigene Wahrnehmung im Nebenraum statt. Jeder der drei Tracks nimmt eine Abfolge verschiedener Formen an, um schließlich auf befriedigende Weise die Dramaturgie zu schließen. Die kinetische Energie bleibt über drei Tracks erhalten.

Kopf: Alles klingt nach europäischer Moderne, vielleicht sogar universell, zumindest soweit man sich 2005 noch einreden konnte, dass es das gibt. Musik für Züge und Nächte, Fineliner-Musik, Musik zum Denken. Kammermusik für hohe Räume. Alles ohne Untermalung zu werden, belanglos oder falsch. Shout out if you listen to this in 2020.

Aufgeschrieben zu Efdemin’s Bruxelles 12″, deren Erscheinen ich erst 15 Jahre später mitbekommen habe. Ich bin mir allerdings sicher, zu Baumgartnerhöhe (Copy) in irgendeiner Nacht Drinks an der mit weißem Kunstleder gepolsterten Bar des Turmzimmers bestellt zu haben.

Ich hege eine gewisse Zuneigung an das Zurückkehren, an den zweiten Blick auf einen Ort. Markiert der erste Blick einen Punkt, das Eintreten des Neuen, beschreibt der zweite Blick eine Strecke: Sie schließt ein psychologisches Dreieck zwischen der ersten Wahnehmung, dem zurückgelegten Weg und dem zweiten Besuch. Erst das Wieder-Erkennen eines Ortes stellt eine Relation her, die über bloßes Betrachten hinausgeht1. Einmal irgendwo gewesen sein bedeutet nichts. Zurückkehren bedeutet alles.

Ich habe Oporto häufig besucht, einige Male der Liebe und der Arbeit wegen. Ich kehrte zurück wegen Álvaro Siza, Serralves, der Topographie und der Bruchteile verwitternden Grandeurs. Schließlich wegen des seltenen Verständnisses: Diese Stadt ist mir zu eigen. Da ist eine Version dieser Stadt für mich, und eine Version von mir für diese Stadt.

Oporto hat in den letzten zehn Jahren eine beständig wiederkehrende Rolle in meinem Leben gespielt, leise und absichtslos2. Ich werde nun also eine Zeit dieses an Zeiten nicht eben armen Jahres dort verbringen. Ich bereue, das Neubauten-Konzert in der Casa da Música um ein Jahr zu verpassen. Ich freue mich auf all die Aussicht, und die Nacht in der Straße. Ich erinnere mich an den Text über Xmal Deutschland, den ich in der Nacht an der Kammer am Fluss schrieb, und an den Tag danach, die Hallen von Campanhã. Mehr, eine entschiedenere Linie beschreiben.


  1. Ich neige dazu, signifikante Wege in Städten immer wieder zurückzulegen. Vermutlich ist es der Versuch, durch das Überlagern ganz verschiedener psychologischer Zustände und sich verändernder Orte eine Linie zu erzeugen, die aus großer Ferne sichtbar bleibt: Markierung und Verbindung von Raum und Zeit und Selbst. 

  2. Überrascht stelle ich fest, dass ich das vor sieben Jahren bereits ähnlich sah. Es ist irritierend und kostbar wenn sich Dinge meiner Entscheidungswut widersetzen. 

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