Was wenn du nicht rauskannst? Was wenn alles das du hast hier ist? Dann baust du mit dem, was in Reichweite ist, oder du baust mit Nichts, from nothing to something. Wenig Material ermöglicht tiefere Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen, so war es mit dem Input in diesem Jahr. In den kalten Monaten habe ich keine Kunst jenseits der Bildschirme gesehen, nur im Sommer in Serralves und in den weiten Hallen meiner Städte. Eine einzige Musikaufführung gab es (die wunderbaren Love Songs, aus dreißig Meter Entfernung), alle anderen wurden abgesagt. Um so eingehender habe ich gehört und gelesen, und alles auf Raum und Gemüt bezogen.
Trotz der ganzen Misere war es ein Jahr für Neues und für Tiefes, für die Lust an Veränderung und für das Formen der Welt. Für große, leise Dinge, möglicherweise. Es ist also nicht überraschend, dass die wichtigen Releases des Jahres 2020 überaus raumgreifend sind, sogar für meine Geschmacksverhältnisse. Es sind vier Platten, die Material und Baupläne für ganze Welten zur Verfügung stellen. Platten die ich zerlegt habe, und die mich zerlegt haben, Platten die ich benutzt habe, für alles mögliche, und nicht nur als Ersatz. Und dann ist da noch eine Platte für den Sommer, die Straßen von Bonfim, die Brücken über den Fluss und die Stunde, in der ich doof und glücklich war. Vier zu eins, Kopf zu Herz, ich kann damit arbeiten.
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Philipp Sollmann – Monophonie (A-Ton)
Die Linie, die Efdemin’s Veröffentlichungen miteinander verbindet, beschreibt einen angenehmen Bogen: Das ist Musik, die einem klar definierten Spektrum ästhetischer Interessen folgt. Am Ende dieses Jahres lehnen Chicago1 und Monophonie nebeneinander am Plattenspieler, wie Tag oder Nacht, wie Gemütszustände des gleichen Wesens, sanfte Scheitelpunkte der Sollmann-Linie. Wie leicht und elegant ihr Bogen U und E, Floor und Kammer verbindet, sollte nicht überraschen – und doch ist das bemerkenswert. Monophonie ist die Auseinandersetzung mit dem Potenzial des offenen Plans, ein Grundstück, das in gleichmäßigen Bewegungen wieder und wieder beschritten wird. Das ist Musik wie Sauerstoff, sie strebt nach oben, sie strebt ins Freie2, während Sonne durch die Fenster fällt. Und doch entsteht dieses Album durch konzentrisches Definieren und Nachzeichnen einer Struktur, applying the rigor of process to musical performance – es schließt den Kreis aus analoger Performance und der Musik der Maschine.
Monophonie lief in den leichten und wachen Momenten des Jahres, es ist ausgezeichnetes Material für den angriffslustigen Geist, für Plan und Bau, für ein gemessenes Dasein. Es war in diesem Jahr dank dieser Platte etwas einfacher zu finden.
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Ich neige dazu, interessante Erlebnisse eher zu protokollieren als Fotos von ihnen zu machen. Viele Dinge sind unfotografierbar, und Text gibt die Umstände seiner Entstehung deutlicher wider. Die Erinnerungen an das Atonal 2017 und 2019 sind präsent, weil ich sie aus diffusen Aufzeichnungen hergestellt habe3. Für dieses Jahr gibt es keine Aufzeichnungen, keine Nächte im Kraftwerk an der Köpenicker Straße, und eine Gelegenheit weniger, die Dinge in der dunklen Reflektion der bestkuratierten Musikveranstaltung der Welt zu sehen.
Aber es gibt ein Set von fünf Schallplatten aus schwerem Vinyl, das die Protagonistinnen des Festivals zusammenbringt. More Light ist, wie zu erwarten, eine tiefe, ausufernde Compilation, nicht zu fassen in seiner Ausdehnung in jeder Dimension. Es ist das Monument einer monumentalen Reihe von Veranstaltungen: Ein Album das seine eigenen Orte schafft. Zu den 19 Tracks gehören der größte Lee-Gamble-Hit der letzten Jahre (Polis), ein hypnotischer Drift von Carl Craig und Abdullah Miniawy (The Cyg), ein veritabler Floorfiller von Peder Mannerfelt (Let’s get Metaphysical) und das wundervolle A Way you’ll never be des Pablo’s Eye-Projekts, das mir 2019 so gut gefiel. Altar’s Without Bodies erzählt schließlich das Jahr 2020. So vieles ist zu hören, so vieles ist zu sehen in der Welt dieses Releases.
Ich warte auf die Ankunft des physischen Sets im Januar, ich warte auf das letzte Artefakt des schweren Jahres 2020.
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Ich nenne Arkiv 1 stellvertretend für die Masse von Relases, mit dem Clouds dem Jahr 2020 begegnet sind: hunderte Tracks, Beats und Samples, verteilt auf drei Crews der Neurealm-Lore und darüber hinaus – bis zu The Parallel4, dem Schritt ins Licht des neuen Jahres. Nun bewegen sich Liam und Calum in Genres, in denen wenig Zeit und großer Druck eher förderlich sind. Alles schweres Material, aufs Äußerste verdichtet und auf eine Weise getuned, deren Akribie und Obsessivität keine noch so kunstvoll verrotte Soundoberfläche verbergen kann.
Jedenfalls, Dark Leviathan Krew, die versifften Junkies der New Gàrradh-Linie in idealer Balance zwischen Gabber und Rave, mit genau so wenig Jungle und Vocals, dass auch Track zwölf nicht langweilig wird (wird er nicht, Inside „Cnoc Boys“ ist einer der Hits der Platte – tribal Drums, und eine Synthfläche, die klingt als hätte jemand ein Fenster im Bunker aufgemacht). Klaw ist auch so gut, pures Momentum; das Auslöschen-Sample aus Tilt Road wird wohl ewig in einer meiner Hirnwindungen feststecken. Schließlich: Entrance (Perish), vermutlich der größte Hit eines Jahres ohne Floors – und selbstverständlich der erste Track des Albums. Wo andere über Spannungsbögen nachdenken und mit zittrigen Fingern noch einmal den Reverb justieren, wissen Clouds natürlich, dass das Fetteste immer nach vorne muss, so groß und dumm wie möglich. Musik, zu der sich exzellent nachdenken oder einfach gar nicht mehr nachdenken lässt, und das ist rar, für mich, in der Begegnung mit jeder Form von Kunst. Eine der am häufigsten und mit der größten Freude gehörte Platten meines Jahres.
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The KVB – Of Desire (self-released)
Es war ein schweres Jahr, und es bedurfte schwerer Musik. Aber sogar 2020 hatte einen Sommer, und der Sommer war gut und lang: eine dunkle Sonne, kurz bevor sie hinter den Bäumen des Parque das Águas untergeht – und dann trete ich auf die Rua do Heroísmo und bin frei. Dafür braucht es Musik, und sie muss leicht sein, und sie muss gloomy sein und sich gut anfühlen wie eine alte Jeansjacke auf der Haut.
Das muss es immer geben, und in diesem Jahr waren es The KVB5, die diesen Sleaze, diese ausgedachte Düsternis bereitwillig abgeliefert haben. Of Desire ist ihr konzentriertestes, ihr eindeutiges Release: Primer gleitet gemessen durch den Untergrund wie eine gepanzerte Magnetschwebebahn, Second Encounter ist ein einziger androgyner Groove. Vermutlich ist Never Enough der nominelle Hit der Platte, aber wer kann das schon sagen, es verwäscht alles zu einem lasziven Rauschen, zu Atmosphäre mit Nachdruck, wie ich 2015 schrieb. Ich werde die ästhetische Perspektive des Jahrzehnts meiner Geburt nicht ablegen können – a clinical and calculated artifice that gazed dispassionately on the banality of a decaying world. Musikalische Eigenständigkeit ist hier nicht leicht zu finden, in verwilderten Genres (Cargo-Goth? Protowave? Sexpunk?). Aber darum geht es auch nicht – es geht darum, wie die Abendluft riecht, um unsere Umrisse in der Nacht und darum, dass wir angeschlagen sind, aber nicht alt. Mistral Goth for life.
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My Disco – Wrapped Coast (Temporary Residence Limited)
Und dann gibt es Musik, in der alles kulminiert. Die Platte des Jahres 2020 ist eine 12″ aus dem Jahr 2012, sie enthält diese seltene Art Musik, Variationen von zwei Titeln, Wrapped Coast und All I can do. Es ist Musik von My Disco, Musik vollkommener Anwesenheit und Aufmerksamkeit6. Musik, in der Raum für den Umfang aller Spektren und die Enden der Skalen ist.
In einem der definierenden Momente dieses Jahres sitze ich mit dieser Musik im Rosengarten von Serralves, eine graue Wärme liegt über der Stadt, nichts ist in Bewegung. Ich empfinde den spezifischen Zustand aller Atome so präzise reflektiert, dass er verständlich wird. Die ganze Unfassbarkeit des Hier und Jetzt, nicht zu beschrieben als in diesem Verhältnis von Sound und Raum und Zeit. Die unfassbare Vorhandenheit der Welt, vollkommene Anwesenheit und vollkommende Auflösung kulminieren unter dem Eindruck dieses Sounds. Für einen Moment, für neun Minuten des Justin K. Broadrick’s Warmer Remix, ist alles null.
Both aspects are of equal importance: to be part of the world and to be protected from it. The arrangement is best imagined as a canopy within reality. The lake may be observed, the chirping birds and splashing koi remain present, but right here, under the camperdown elm, one is un-discoverable. Here, even stillness and idleness become possibilities.
Die Bedeutung von Musik überhaupt, in diesem Jahr, für mich und immer, liegt in der Möglichkeit solcher Momente.
Auch gut und richtig: Beatrice Dillon – Workarounds, My Disco – Environment Remixes, Love Songs – Nicht Nicht, Einstürzende Neubauten – Alles in Allem, Messer – No Future Days, iTal Tek – Dream Boundary, Young Palace – Locus, Gila – Energy Demonstration, Helena Hauff – Kern Vol. 5, Nazer – Guerilla, Topdown Dialectic – FUR 084, Schwefelgelb – Dahinter das Gesicht