electricgecko

August

(Dieses Jahr verschiebt die Dinge, mit großer Ruhe, mit Nachdruck. Es ist keine Zeit der Krisen, es ist eine Zeit des Verstehens und des Handelns, des Freisetzens. 2019, Raum und Zeit.)

Vanity, das neue Release von Rainer Veil bei Modern Love ist eine stille Rückkehr. Sie folgt auf New Brutalism aus dem Jahr 2014. Nun zum ersten Mal auf Albumlänge ausgedehnt, wirkt der Ansatz des Duos aus Manchester in keiner Weise wie ein Debut – zu klar gebaut, zu fertig ausgeformt erschienen die bisherigen Veröffentlichungen. Das setzt sich in diesem Jahr fort: so vielschichtig der Sound auf Vanity ist, so kohärent und freigelegt sind die Bedingungen seiner Konstruktion: orthogonale Flächen leiten den Blick zu immer neuen Ansichten des Sounds. Jeder Track ist ein Perspektivwechsel, ein neuer Aufriss des gleichen Gebäudes.

Der architektonische Sound von Rainer Veil gewinnt an Tiefe und Abwechslung, zusammengehalten durch eine einheitliche Stimmung und ein ruhigen, beständigen Drive. Es ist die Schönheit des Vakuums in Gauze, das die geräuschvolle Stille beim Wenden der Platte zum Teil des Übergangs zu Third Sync macht. Den Leerstellen gegenüber steht die fortwährende Meditation über den fernen Geist von Jungle und UK Hardcore schwebt über dieser Platte.

Vanity legt sich über den Raum, in dem mein Schreibtisch steht. Sie füllt die Nacht mit einem schweren Grau. Es ist nicht das Grau des Covers1, sondern ein dunkles, warmes, komfortables Grau. Eine Art Audio-Eigengrau, not intricate but textural.

  • Rainer Veil – Vanity, 2×LP. Modern Love, 2019.

  1. Das übrigens in einer seltenen Verbindung aus Illustration und Argrarwirtschaft recht erfolgreich die Ruhe des Albums vermittelt. 

Juli

The mezzanine level of Sightglass is bustling at this time of the day, making the fact that the lower floor is designed to hold a maximum of ten patrons at full capacity all the more commendable.

Along the bar, a free as in coffee startup consultation is taking place, the vocal fry soothing over whatever deep domain experience, human ressources and management background is relayed to two young trucker-jackeded entrepreneurs. The phrase fermented time is uttered and followed by a pause for added effect.

Despite the amount of business conducted in the former warehouse, the overall mood remains calm and Californian. It’s friday after all. Down below, the barista adjusts the small red comb in his sizeable afro after pulling what is presumeably the four hundred twenty second espresso shot of the day. He wipes a hand on his Queen shirt, skull motif. It has been a long day. Outside, the clouds lay heavy and low on the sightlines to downtown and Telegraph Hill. A single slim figure disappears into the haze. The dogs keep barking and a week proceeds to wind down.

Sightglass Coffee, SoMa, San Francisco.

Rockmusik hat gemeinhin wenige Antworten auf meine Fragen dieser Jahre, unsinnig ist die Aufrichtigkeit und die unbeholfene Suche nach Ausdruck und Wahrheit hier und jetzt. Aber einmal in zwei Jahren scheint Raum für das Widersetzen, für den schönen Trotz und die Anmaßung zu sein, der Welt auf Augenhöhe entgegen zu treten. 2017 haben Belgrad ihr selbstbetiteltes erstes Album veröffentlicht, und es hat diese Zeit gebraucht, um zu mir zu finden1.

Belgrad ist eine schwarze Platte und eine schwarze Gruppe. Ein großes Gewicht zieht diese Musik nach unten, der Sog ist in jeder Minute spürbar. Nichts hier ist ironisch – acht Songs Schichtarbeit: Es ist das düstere Momentum schwerer Popmusik, das Wühlen im Selbst (ich muss an den Klappentext eines der blauen Bücher von Rainald Goetz denken, Wütend schritt ich voran). Musik für einen grimmigen, klaren Gemütszustand nicht ohne Schmerzen, aber ohne Kälte. Ich habe das schon einmal besser über ganz ähnliche Musik gesagt: Regen und Füße auf Asphalt, die Fundamente aller Dinge.

So wenig innovativ Belgrad ist, so klar seine Referenzen sind – so sorgsam ist alles zusammengesetzt, so taktil und freigelegt und ohne Affekt ist jedes Gefühl. Es ist zu spüren im Rauschen zu Beginn von Niemand, im öligen Groove von Eisengesicht und im Sustain und Release des monumentalen Ravetracks namens Westen: Nichts Aufrichtiges ist peinlich, nichts Furchtloses ist vergebens.

Beyond the train station, I look up. The grey sky refuses to let me feel anything.

  • Belgrad – s/t, LP. Zeitstrafe, 2017.

  1. Belgrad werden gerade Sarah’s Nachbarn, es ließ sich nicht vermeiden. 

The Heathrow Hilton is my favorite building in London. It’s part space-age hangar and part high-tech medical centre. It’s clearly a machine, and the spirit of Le Corbusier lives on in its minimal functionalism. […] Inside, it’s a highly theatrical space, dominated by its immense atrium. […] Most hotels are residential structures, but rightly the Heathrow Hilton plays down this role, accepting the total transcience that is its essence, and instead turns itself into a huge departure lounge, as befits an airpot annexe. Sitting in its atrium one becomes, briefly, a more advanced kind of human being. Within this remarkable building one feels no emotions and could never fall in love, or need to. — J.G.B, Notes on Love, Death, Architecture and Modernity. Kompiliert von Studio Muoto.

Juni

Das Langformat hat ausgedient, unter aktuellen Weltbedingungen des Beobachtens ist es nicht adäquat. Der permanente Wechsel zwischen Perspektiven und Kontexten ist die richtige Strategie; jedes Medienformat ist notwendigerweise ein Metaformat, das ein Bewusstsein aller gleichzeitig stattfindenden Formate einschließt. In Floor-bezogener Musik ist das nicht neu, das Einsteigen und Aussteigen aus der Dramaturgie der Nacht gehört dazu. Die kalte Luft atmen, jemanden küssen, Wasser trinken und zurückkehren in eine veränderte Stimmung ist essentiell. Kontextswitch, good entertainment.

Einem langen Format zu folgen, erfordert etwas anderes: Erscheinen, wenn die Tür aufgeht. Sich an den Schreibtisch setzen in der Nacht ohne Vorhaben. Fünf Stunden Zeit.

Das fünf-Stunden-Set ist bereits zu Beginn anders, sein Narrativ ist nicht zu überblicken, nach acht Minuten, aber dass er verschieden ist, ist klar. Ein fünf-Stunden-Set bewegt sich tastend durch Zeit und Raum, statt sich auf die Körper zu werfen (meist sind wenige vorhanden). Es verwebt die Leere zu etwas Fühlbarem, es definiert und kontrolliert den körperlichen und den emotionalen Vibe. Das fünf-Stunden-Set hat Zeit, den Raum zu durchmessen, sich zu entfernen und zurückzukehren – ohne die Spannung zu durchbrechen, wie es auf dem Floor gewöhnlich wäre.

Es ist eine meiner liebsten und seltenen Freuden, eine Nacht im Club mit ihrem Anfang zu beginnen. Dort sein, wenn die Türen aufgehen, so lange bleiben wie es mir gefällt. Ich habe das Warm-up oft mehr gemocht als die Party – die Antizipation, das Aufschichten, das Anstauen von Energie. Völlig klar einem langsamen Narrativ zu folgen, Zeit verwenden ohne Ablenkung, Alles fühlen, Freiheit im Gebundensein. Going through the motions, but doing so with increased mindfulness.

(Während ich das 5:34:14 lange Set von Pom Pom höre, das sich tastend durch große Hallen bewegt, ins Freie tritt, den aufwirbelnden Staub betrachtet, Linien auf dem Boden folgt, um schließlich nach zweieinhalb Stunden zu einem höllischen Basic-Channel-Groove zu finden, zur brutalen Gelöstheit der zweiten Pom-Pom-LP, in den Schluchten der Nacht. Buy the ticket, take the slow ride).

Mai

The thing is, everybody wears very good sneakers: With tight fitting sweatpants, peaking below striped djellabas and dashikis, combined with dresses, tracksuits and leggings are the chunky, the limited and the collaborative, gleaming white or radiating volt, pink and, sometimes, a multitude of iridescent. Intermediate-level Vapormaxes (Utility, Flyknit, Plus) seem to be stakes to play dans la rue, one-upped by 720s, Kiko Kostadinov’s Gel-Delvas and the bulbous sculptural offerings Han Kjøbenhavn and Puma have been putting out lately. The general selection slants soccer and running, mediterranean street kid and La Haine. Athletic footwear choices speak of discernment and respect for the urban space: look good when stepping outside, you owe the streets of Marseille.

Marseille is an impressive, varied assembly of architecture. Both the elevated and the mundane are housed in thoughtful (or at least, deceisive) structures that weave into a gritty, dense fabric that presents its scars as proudly as its triumphs.

A young man passes, his architecturally sculpted upper body squaring Rue d’Aubagne. Grey technical fabric spans voluminius chest muscles, disproportionally slim legs stick out from boxer’s shorts in shiny leggings, their panelling suggesting a martial future for everybody. His hair is cropped into a precise fade. Above the left ear, a succession of shaven vertical lines combine with a longer horizontal one: a thick barbell, the straightest possible, most elegant commitment to his sport, to be renewed daily, during morning routine.

6750 Regen Projects

April

Marseille: a landscape overrun by infrastructure, flowing, abruptly ending on geologic barriers. Inhabited caves and machines, steep cliffs of built limestone, a sea of lives lived extending into the horizon, up and under bridges, weaving foot traffic through houses and below kitchens and gardens. A drawn city, a pastiche on paper, all colorful dust and complex views. A decidedly non-urban urban space, a grown stone organism, a Moebian landscape, a Cité Obscure.

Everything at Winsome, Los Angeles, radiates comfort. Woods and leathers are light, the space is airy and, at this time of day, mostly empty. Everything about layout, menu and personnel suggests American diner, albeit re-colored, re-tooled and re-cast to fit the Silver Lake set. A backdrop against which meaningful glances may be exchanged, plans made, and, most importantly, intents are declared as loudly and clearly as possible.

Two tables over, masculine drawls discuss cast and casting for an upcoming project. It is repeatedly referred to as a „feel good movie“, a group of words that seem purposefully assembled to enable maximum vocal fry. The granola is served with strawberrys, and it is excellent, as every granola in California tends to be. Ice teas are ordered before, after and with everything.

„Martinis are better in daylight“, another declaration, made over the faint clinks of clear ice cubes in thin-walled glasses, as another day, and another power brunch passes on the patio, in bright sunlight and stark shadow.

Winsome, Silver Lake, Los Angeles.

März

Es gab einen Moment in den nicht mehr ganz frühen Zweitausendern, in denen die Auflösung der populären Kultur eine geradezu schmerzhafte Schärfe angenommen hatte. Alles schien auf zwei Dimensionen reduziert: Musik, Fotografie und Kleidung wie Onyx, körpernah, monochrom und ohne jede wahrnehmbare Tiefe. Kein Sub und kein Rauschen, und wenn, dann nicht das vielfarbige All1, sondern Chord picking, dünne Hosen, dünne Jungs und weißes Filmkorn bei 1000 ASA.

Ich war für eine Sekunde befremdet und dann hin- und mitgerissen, als das kürzlich zurück in 2019 stürzte. Schuld ist, ach was, Hedi Slimane. Für Celine hat er einen Weg gefunden, die Schärfe, die er in Fotografie und Kleidung vor 15 Jahren definiert hat, wieder anschlussfähig zu machen. Dabei geht es natürlich zuerst um Musik und dann um alles andere. Es geht um das Mixed-Media-Kollektiv Crack Cloud.

Diese Band führt einen Take auf die hochverdichtete Präzision der Zweitausender auf. Sie spielen nicht als hätte es die Strokes nie gegeben, im Gegenteil: Crack Cloud sind die comichafte Riesenübertreibung der Strokes. Diese maximale Angespanntheit, diese gezuckten Riffs und die antrainierte Oxford-Performance sind allesamt so drüber, dass man das 2019 ausschließlich gut finden kann.

Und bei allem Gepose ist es letztlich die große Klasse, dieser krasse Skill, den man kaum sehen soll, hinter all dem Affekt. Es ist also alles, wie es sein muss, in einem Glaskasten an der Seine, und auch auf den Straßen in deiner Stadt. Man muss sie hinuntergehen, zu Drab Measure, dem Hit der Stunde, und sich jung und neu fühlen, als sei man niemals niedergeworfen worden.

  • Crack Cloud – s/t, Cassette. Self-published, 2016.

  1. Also die Hintegrundstrahlung in der Welt von Basic Channel, in der Weite und der Raumbezogenen Musik, im Dub. 

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