electricgecko

Dezember

The assembler calculates expressions and resolves symbolic names for memory locations and other entities.

Was wenn du nicht rauskannst? Was wenn alles das du hast hier ist? Dann baust du mit dem, was in Reichweite ist, oder du baust mit Nichts, from nothing to something. Wenig Material ermöglicht tiefere Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen, so war es mit dem Input in diesem Jahr. In den kalten Monaten habe ich keine Kunst jenseits der Bildschirme gesehen, nur im Sommer in Serralves und in den weiten Hallen meiner Städte. Eine einzige Musikaufführung gab es (die wunderbaren Love Songs, aus dreißig Meter Entfernung), alle anderen wurden abgesagt. Um so eingehender habe ich gehört und gelesen, und alles auf Raum und Gemüt bezogen.

Trotz der ganzen Misere war es ein Jahr für Neues und für Tiefes, für die Lust an Veränderung und für das Formen der Welt. Für große, leise Dinge, möglicherweise. Es ist also nicht überraschend, dass die wichtigen Releases des Jahres 2020 überaus raumgreifend sind, sogar für meine Geschmacksverhältnisse. Es sind vier Platten, die Material und Baupläne für ganze Welten zur Verfügung stellen. Platten die ich zerlegt habe, und die mich zerlegt haben, Platten die ich benutzt habe, für alles mögliche, und nicht nur als Ersatz. Und dann ist da noch eine Platte für den Sommer, die Straßen von Bonfim, die Brücken über den Fluss und die Stunde, in der ich doof und glücklich war. Vier zu eins, Kopf zu Herz, ich kann damit arbeiten.

  • Philipp Sollmann – Monophonie (A-Ton)

    Die Linie, die Efdemin’s Veröffentlichungen miteinander verbindet, beschreibt einen angenehmen Bogen: Das ist Musik, die einem klar definierten Spektrum ästhetischer Interessen folgt. Am Ende dieses Jahres lehnen Chicago1 und Monophonie nebeneinander am Plattenspieler, wie Tag oder Nacht, wie Gemütszustände des gleichen Wesens, sanfte Scheitelpunkte der Sollmann-Linie. Wie leicht und elegant ihr Bogen U und E, Floor und Kammer verbindet, sollte nicht überraschen – und doch ist das bemerkenswert. Monophonie ist die Auseinandersetzung mit dem Potenzial des offenen Plans, ein Grundstück, das in gleichmäßigen Bewegungen wieder und wieder beschritten wird. Das ist Musik wie Sauerstoff, sie strebt nach oben, sie strebt ins Freie2, während Sonne durch die Fenster fällt. Und doch entsteht dieses Album durch konzentrisches Definieren und Nachzeichnen einer Struktur, applying the rigor of process to musical performance – es schließt den Kreis aus analoger Performance und der Musik der Maschine.

    Monophonie lief in den leichten und wachen Momenten des Jahres, es ist ausgezeichnetes Material für den angriffslustigen Geist, für Plan und Bau, für ein gemessenes Dasein. Es war in diesem Jahr dank dieser Platte etwas einfacher zu finden.

  • V.A. – Berlin Atonal: More Light (Berlin Atonal Recordings)

    Ich neige dazu, interessante Erlebnisse eher zu protokollieren als Fotos von ihnen zu machen. Viele Dinge sind unfotografierbar, und Text gibt die Umstände seiner Entstehung deutlicher wider. Die Erinnerungen an das Atonal 2017 und 2019 sind präsent, weil ich sie aus diffusen Aufzeichnungen hergestellt habe3. Für dieses Jahr gibt es keine Aufzeichnungen, keine Nächte im Kraftwerk an der Köpenicker Straße, und eine Gelegenheit weniger, die Dinge in der dunklen Reflektion der bestkuratierten Musikveranstaltung der Welt zu sehen.

    Aber es gibt ein Set von fünf Schallplatten aus schwerem Vinyl, das die Protagonistinnen des Festivals zusammenbringt. More Light ist, wie zu erwarten, eine tiefe, ausufernde Compilation, nicht zu fassen in seiner Ausdehnung in jeder Dimension. Es ist das Monument einer monumentalen Reihe von Veranstaltungen: Ein Album das seine eigenen Orte schafft. Zu den 19 Tracks gehören der größte Lee-Gamble-Hit der letzten Jahre (Polis), ein hypnotischer Drift von Carl Craig und Abdullah Miniawy (The Cyg), ein veritabler Floorfiller von Peder Mannerfelt (Let’s get Metaphysical) und das wundervolle A Way you’ll never be des Pablo’s Eye-Projekts, das mir 2019 so gut gefiel. Altar’s Without Bodies erzählt schließlich das Jahr 2020. So vieles ist zu hören, so vieles ist zu sehen in der Welt dieses Releases.

    Ich warte auf die Ankunft des physischen Sets im Januar, ich warte auf das letzte Artefakt des schweren Jahres 2020.

  • Clouds – Arkiv 1 – Dark Leviathan (self-released)

    Ich nenne Arkiv 1 stellvertretend für die Masse von Relases, mit dem Clouds dem Jahr 2020 begegnet sind: hunderte Tracks, Beats und Samples, verteilt auf drei Crews der Neurealm-Lore und darüber hinaus – bis zu The Parallel4, dem Schritt ins Licht des neuen Jahres. Nun bewegen sich Liam und Calum in Genres, in denen wenig Zeit und großer Druck eher förderlich sind. Alles schweres Material, aufs Äußerste verdichtet und auf eine Weise getuned, deren Akribie und Obsessivität keine noch so kunstvoll verrotte Soundoberfläche verbergen kann.

    Jedenfalls, Dark Leviathan Krew, die versifften Junkies der New Gàrradh-Linie in idealer Balance zwischen Gabber und Rave, mit genau so wenig Jungle und Vocals, dass auch Track zwölf nicht langweilig wird (wird er nicht, Inside „Cnoc Boys“ ist einer der Hits der Platte – tribal Drums, und eine Synthfläche, die klingt als hätte jemand ein Fenster im Bunker aufgemacht). Klaw ist auch so gut, pures Momentum; das Auslöschen-Sample aus Tilt Road wird wohl ewig in einer meiner Hirnwindungen feststecken. Schließlich: Entrance (Perish), vermutlich der größte Hit eines Jahres ohne Floors – und selbstverständlich der erste Track des Albums. Wo andere über Spannungsbögen nachdenken und mit zittrigen Fingern noch einmal den Reverb justieren, wissen Clouds natürlich, dass das Fetteste immer nach vorne muss, so groß und dumm wie möglich. Musik, zu der sich exzellent nachdenken oder einfach gar nicht mehr nachdenken lässt, und das ist rar, für mich, in der Begegnung mit jeder Form von Kunst. Eine der am häufigsten und mit der größten Freude gehörte Platten meines Jahres.

  • The KVB – Of Desire (self-released)

    Es war ein schweres Jahr, und es bedurfte schwerer Musik. Aber sogar 2020 hatte einen Sommer, und der Sommer war gut und lang: eine dunkle Sonne, kurz bevor sie hinter den Bäumen des Parque das Águas untergeht – und dann trete ich auf die Rua do Heroísmo und bin frei. Dafür braucht es Musik, und sie muss leicht sein, und sie muss gloomy sein und sich gut anfühlen wie eine alte Jeansjacke auf der Haut.

    Das muss es immer geben, und in diesem Jahr waren es The KVB5, die diesen Sleaze, diese ausgedachte Düsternis bereitwillig abgeliefert haben. Of Desire ist ihr konzentriertestes, ihr eindeutiges Release: Primer gleitet gemessen durch den Untergrund wie eine gepanzerte Magnetschwebebahn, Second Encounter ist ein einziger androgyner Groove. Vermutlich ist Never Enough der nominelle Hit der Platte, aber wer kann das schon sagen, es verwäscht alles zu einem lasziven Rauschen, zu Atmosphäre mit Nachdruck, wie ich 2015 schrieb. Ich werde die ästhetische Perspektive des Jahrzehnts meiner Geburt nicht ablegen können – a clinical and calculated artifice that gazed dispassionately on the banality of a decaying world. Musikalische Eigenständigkeit ist hier nicht leicht zu finden, in verwilderten Genres (Cargo-Goth? Protowave? Sexpunk?). Aber darum geht es auch nicht – es geht darum, wie die Abendluft riecht, um unsere Umrisse in der Nacht und darum, dass wir angeschlagen sind, aber nicht alt. Mistral Goth for life.

  • My Disco – Wrapped Coast (Temporary Residence Limited)

    Und dann gibt es Musik, in der alles kulminiert. Die Platte des Jahres 2020 ist eine 12″ aus dem Jahr 2012, sie enthält diese seltene Art Musik, Variationen von zwei Titeln, Wrapped Coast und All I can do. Es ist Musik von My Disco, Musik vollkommener Anwesenheit und Aufmerksamkeit6. Musik, in der Raum für den Umfang aller Spektren und die Enden der Skalen ist.

    In einem der definierenden Momente dieses Jahres sitze ich mit dieser Musik im Rosengarten von Serralves, eine graue Wärme liegt über der Stadt, nichts ist in Bewegung. Ich empfinde den spezifischen Zustand aller Atome so präzise reflektiert, dass er verständlich wird. Die ganze Unfassbarkeit des Hier und Jetzt, nicht zu beschrieben als in diesem Verhältnis von Sound und Raum und Zeit. Die unfassbare Vorhandenheit der Welt, vollkommene Anwesenheit und vollkommende Auflösung kulminieren unter dem Eindruck dieses Sounds. Für einen Moment, für neun Minuten des Justin K. Broadrick’s Warmer Remix, ist alles null.

    Both aspects are of equal importance: to be part of the world and to be protected from it. The arrangement is best imagined as a canopy within reality. The lake may be observed, the chirping birds and splashing koi remain present, but right here, under the camperdown elm, one is un-discoverable. Here, even stillness and idleness become possibilities.

    Die Bedeutung von Musik überhaupt, in diesem Jahr, für mich und immer, liegt in der Möglichkeit solcher Momente.

Auch gut und richtig: Beatrice Dillon – Workarounds, My Disco – Environment Remixes, Love Songs – Nicht Nicht, Einstürzende Neubauten – Alles in Allem, Messer – No Future Days, iTal Tek – Dream Boundary, Young Palace – Locus, Gila – Energy Demonstration, Helena Hauff – Kern Vol. 5, Nazer – Guerilla, Topdown Dialectic – FUR 084, Schwefelgelb – Dahinter das Gesicht


  1. Wie in meinem Text zur Bruxelles 12″ erwähnt, scheint Chicago einer der zentralen Messpunkte meiner Musiksozialisiation zu sein – das definitive, raum- und strukturbezogene Album. Dass es die schönsten Innensleeves und das schönste Cover hat, trägt dazu bei. 

  2. Es ist bemerkenswert, wie nah Efdemin hier Perpetuum Mobile kommt, der großen Auseinandersetzung der Einstürzenden Neubauten mit strömender Luft und der Leere, die ihre Abwesenheit hinterlässt. Zuweilen meint man, auf Monophonie Blixa Atem holen hören. Equivalenzen Berliner Musik. 

  3. Truth is mysterious and elusive, and can be reached only through fabrication and imagination and stylization, sagt Werner Herzog und hat recht. 

  4. Produziert und pre-released für das RMT01-Projekt von ACRONYM®, zu dem ich mit WAF GMBH ebenfalls beitragen durfte. Good company. 

  5. Es besteht natürlich eine direkte Äquivalenz zu Boy Harsher, die mir im vergangenen Jahr so viel bedeutet haben, auf eine gewissermaßen kalifornische Weise: all der Hall auf allem, das ewige cinematische Autogefahre, der schwarze Sonnenschein – es macht schlicht zu großen Spaß (All your City lies in Dust). 

  6. Während sie gehört wird, ist jeder Gedanke durch ihre Atmosphäre gefiltert. Jede Handlung trägt ihr Gewicht, its measured intensity, its rigour and concentration. Its all-leveling truth. (Still) Dabei bleibe ich. 

Das endende Jahr ist kein Jahr der Worte. Ich habe mehr gesehen als geschrieben, mehr in die Ferne als im Raum. Darüber wäre Interessantes und Nachdenkliches zu sagen, aber wenig ist deutlicher als der Abdruck von Zeit in Musik. Es gibt also die Playlist namens Autobahn auf meinen Devices. Sie enthält Musik, in der es um Momentum geht, ein einfaches Thema und simple Tracks, konzentriert auf die eigene Kinetik und wenig anderes.

Selected Faces von Gesaffelstein ist einer dieser Tracks, aus dem letzten Ende der Welle maximaler elektronischer Musik: Ein Tool im besten Sinne, kaum Substanz, alles Technik und gutes Finish, zugleich superklar und versaut, wie gute Highs es immer sind. Arrangiert man mehrere Tracks wie diesen zu einer dramaturgisch effektiven Reihe, führen sie in einen positivistischen Zustand reinen Handelns, einen Implementationswahn, der sich wohltuend von Denken und Entwerfen1 unterscheidet.

Ein leichter Eskapismus ist also beteiligt – oder zumindest der Versuch, einer Situation zu entkommen, um woanders wieder handlungsfähig zu werden. Entrance «Perish» (von Clouds, aus dem isolationsbedingt massiv gewachsenen Neurealm-Katalog) passt in dieses Bild: Es ist der gut gelaunte Abstieg in die Gabberunterwelt der Dark Leviathan Krew, wo ohnehin nichts mehr heil ist. Hier kann man atmen und handeln. Der destruktive Charakter ist heiter und freundlich. Er kennt nur ein Ziel: Platz schaffen (Bargeld/Benjamin).

Zum Schluss ist Hold on Tight (in der Version von Nalin & Kane) vielleicht sogar thematisch richtig, auch wenn man für derlei Feinheiten 1997 vermutlich keine Kapazitäten hatte. Wer die Frage, ob und wie man nach neuneinhalb Minuten Break wieder in den dreistesten aller Hooklineriffs zurückkommt, mit einem schlichten Spurwechsel beantwortet, hat entweder keine Zeit, keine Ideen oder Sinn für Effektivität und guten Geschmack. Alles akzeptable Gründe, vielleicht nicht in der Welt, aber hier in dieser Playlist, in der sich das Jahr 2020 bereits als qualmender schwarzer Punkt im Rückspiegel entfernt.


  1. Rastermusik hieß das gemeinhin in den frühen Tagen von WAF GMBH, kaputte Taktarten, um auf die komplizierteste aller denkbaren Weisen zu möglichst einfachen Ergebnissen zu kommen. Wir waren dumm und effizient. 

September

Basis: Eine gewisse Sachlichkeit des Ausdrucks. Diese Musik ist konstruiert, sie folgt Regeln, sie nimmt sich zurück. Jeder Track ist ein System, und Spannung entsteht aus dem Durcharbeiten seiner möglichen Konstellationen. Gegenüber anderen Dial-Releases (inklusive seines eigenen Debütalbums) wirkt Efdemin hier kühler, mit größerem Interesse an Raum und Bau als an den Menschen. In dieser Hinsicht könnte das hier auch die dritte Auskopplung aus Chicago sein, dem Meisterwerk.

Herz: Diese ausbalancierte Unruhe, Drive spürbar vorhanden, aber gedämpft, als fände die eigene Wahrnehmung im Nebenraum statt. Jeder der drei Tracks nimmt eine Abfolge verschiedener Formen an, um schließlich auf befriedigende Weise die Dramaturgie zu schließen. Die kinetische Energie bleibt über drei Tracks erhalten.

Kopf: Alles klingt nach europäischer Moderne, vielleicht sogar universell, zumindest soweit man sich 2005 noch einreden konnte, dass es das gibt. Musik für Züge und Nächte, Fineliner-Musik, Musik zum Denken. Kammermusik für hohe Räume. Alles ohne Untermalung zu werden, belanglos oder falsch. Shout out if you listen to this in 2020.

Aufgeschrieben zu Efdemin’s Bruxelles 12″, deren Erscheinen ich erst 15 Jahre später mitbekommen habe. Ich bin mir allerdings sicher, zu Baumgartnerhöhe (Copy) in irgendeiner Nacht Drinks an der mit weißem Kunstleder gepolsterten Bar des Turmzimmers bestellt zu haben.

Juni

Es ist natürlich so eine Sommersache, alle WAX-Releases in Reihenfolge zu hören, und dann noch mal shuffle, an einem Tag, an dem der Wind durch die Wohnung geht und alle Räume offen sind. Das bemerkenswerte an Shed-Musik ist, wie singulär, unmittelbar lesbar, komplex und vielfältig sie ist. Sie ist der bemerkenswerte Fall des ein-Personen-Genres. Shed macht Shed-Musik: Floor-Shed, Dub Shed, Mood-Shed, Break-Shed, Shed-Shed.

Fortwährende Arbeit am Material, Forschung und Entwicklung, Freilegen immer neuer Facetten einer Musik, die unbregrenzte Freiheit innerhalb eines festgelegten Regelwerks findet. Wie ein Bildhauer, der ablässt und wiederkehrt. René Pawlowitz leistet serielle Arbeit, die in ihrer Gesamtheit ihren vollen Ausdruck erlangt.

Im Dezember schrieb ich über die kristalline Form von Shed-Musik – in diesen Tagen höre ich das andere Ende ihres Spektrums: WK7-Releases, Distance Dancer, Hoover, WAX6006(A). Gleiches Material, verschiedenes Resultat. Diese Tracks sind hart, klar, smooth und direkt, die Fortsetzung von Basic Channel mit anderen Mitteln, und nicht selten mit Gewalt. Der Sommer ist schön.

  • WAX – WAX60006, 12″, WAX, 2018
  • WK7 – Do it yourself, 12″, Power House Records, 2017
  • Distance Dancer – s/t, 12″, The Final Experiment, 2020

Mai

Versuch, über Environment zu schreiben, die 2019 erschienene LP von My Disco. Es ist ein Album, das die Prinzipien und den Sound der Gruppe weiter zu komprimieren versucht – und sie dabei splittern lässt, wie es extrem harte Dinge naturgemäß tun.

Ruhe, nicht zu verwechseln mit der Abwesenheit von Masse und Momentum: Die stete Flugbahn eines schweren Objekts am Himmel, der lautlose Beginn einer Lawine. Energie, die mit keinem Sinn wahrzunehmen und dennoch spürbar ist.

Reduktion, Entfernen um das Verbleibende zu betonen: Die entscheidende Bedeutung der Abwesenheit von Architektur in Tadao Ando’s Sayamaike Museum in der Nähe von Osaka. Die unerträgliche Dichte der Leere in dieser Musik1.

Handlung, sich zu entschließen, in den Lauf der Welt einzugreifen: Environment befasst sich mit der Konzentration vor der Handlung. Keineswegs mit dem Zögern oder Überlegen, sondern mit dem Abwarten des richtigen Zeitpunkts. Schließlich: Die gemessene Handlung, den Raum abschreiten, einen Satz abschreiten, in Musik. Do I do enough?

Environment, die umgebende Welt: Ein treffender Titel für eine organische Industrial-Platte. So nah am Körper, zugleich auf sein Verhältnis zum Draußen bezogen (Forever, Equatorial Rainforests of Sumatra).

_This is temple music_, notierte ich vor zwei Monaten, unter dem Eindruck von Rival Colour, dem entscheidenen Track auf Environment. Es ist eine Musik, die Wahrnehmung und Körperhaltung verändert, wie das Betreten eines monumentalen Bauwerks oder eines alten Gartens. Während sie gehört wird, ist jeder Gedanke durch ihre Atmosphäre gefiltert. Jede Handlung trägt ihr Gewicht, its measured intensity, its rigour and concentration. Its all-leveling truth.


  1. Der dringende Wunsch dieser Gruppe, hier und jetzt nicht zu existieren, aufzugehen in konzentrierter Musik., schrieb ich auf während des My Disco-Gigs beim Atonal 2019. 

März

Es ist Februar 2020, ich sitze in einem Fernzug durch die Steppe. Es sind dreißig Grad, die Sonne scheint durch stahlgefasste Fenster. Bevor sie aufging habe ich die neue Messerplatte bei iTunes gekauft, mit meinem Telefon. Ich höre sie zum ersten Mal, während nordafrikanische Landschaft vorbeizieht. Drei der sieben Stunden von Fes nach Marrakesch mit diesem Album über das Entkommen.

Die Misere des Jahres 2020 war zu diesem Zeitpunkt, obschon zu ahnen, nicht vorstellbar. Dennoch scheint der dieses Album bestimmende Eskapismus, vom März aus betrachtet, vollkommen adäquat. Eine Reaktion auf das Gefühl, eingeschlossen zu sein: nach drei Alben, in dieser Zeit, generell hier drin. Wir müssen raus. Das schlägt sich in einer gewissen Eeriness nieder, die ohne kontinentaleuropäische musikalische Entsprechung ist, und wohl auch ohne adäquate deutsche Vokabel1. Dieses Fernweh ohne Ziel, es ist wohl eher ein britisches Ding. Folgerichtig klingen Messer auf No Future Days, ihrem vierten Album, wie The Police, und wie die Specials in Ghost Town. Gefangen unter Thatcher, raus wollen und nicht raus können, eine Gruppe in ungewissen Zeiten.

Was bleibt, sind Texte als Türen und Orte, die blauen Augen in die ganz bestimmt sonnige, aber ebenso vage Ferne gerichtet. Das bedeutet eine Veränderung im Schreiben wie im Gesang von Hendrik Otremba – wurden auf Jalousie noch Geschichten erzählt, bewegen sich die Songs auf dieser Platte durch eine Welt aus wabernden Allegorien. Sie speist sich aus dem gleichen Universum wie Kachelbads Erbe, Protagonisten und Schauplätze finden hier ein unstetes Zuhause. Lena sagt, der Gesang sei noch mal ein Stück schnarrender geworden. Das ist nicht falsch, und es tut diesem Album gut. Text findet seine Entsprechung. Die Qualitäten der Gruppe Messer – Geschmack und Kohärenz – bestehen auch in dieser veränderten Form weiter.

Notizen aus dem Wüstenzug, vom ersten Hören der Platte.

  1. Das verrückte Haus: Braune Schilder, Sand in der Luft, Wolken ziehen herauf und bleiben fern, Casablanca Voyageurs. Unzweifelhaft ein Messersong, allein diese insistierende Bridge, und doch geht hier vieles auf, für die nun folgende Platte. Es ist dunkel in der Sonne, in einer khakifarbenen Welt. Das verrückte Haus und das Haus der Lüge, sie mögen über ihre Keller verbunden sein. Es ist eine andere Zeit.
  2. Der Mieter: Der eckige Funk der Strophen verebbt im Refrain, und mit ihm jede Orientierung. Mir gefällt die Orgel, und die Wortwahl. Wem gehört dieser Kopf? Am Strand angekommen, vergisst man sofort alles. Am Ende ist klar, dass es auf dieser Platte kein zweites Die kapieren nicht geben wird.
  3. Tapetentür: Das blecherne Piano klingt nach Sehnsucht. Hier ist ein Stück dieser energiegeladenen Idleness, die die Specials zu ihren düsteren More Specials-Zeiten ausgemacht hat: Resignation und Energie, zusammenreißen und losbrechen. Ein Auflehnen gegen den Verlust des Selbst im dunklen Ende der achtziger Jahre. Ich hätte nicht gedacht, dass sich die Worte „ein Telefon schellt“ mit derartigem Effekt singen lassen.
  4. Anorak: Das ist wohl nun das Commitment zum Rhythmus, zu blue-eyed Rocksteady, zu diesem etwas zu kopflastigen Police-Groove. Pures Momentum. Ich liebe es natürlich, den ganzen Referenzrahmen und auch den Text. Uhren verstellen, und dann ist das Ding gelaufen. Klar.
  5. Tiefenrausch II: Sehnsucht, Fernsucht und ein kurzes Innehalten, bevor man ihr nachgibt. Ich muss unvermittelt an die Buchhandlungen meines Lebens denken, und die Flucht, die es dort zu kaufen gab. Dann daran, wie die Bücher auf der Kofferraumablage aus dichtem, schwarzen Textil im Passat meiner Eltern auf der Autobahn in der gleißenden Sonne liegen. Der Track ist voller Details. Dieser total gute VST-Drumsound!
  6. Tod in Mexiko: Ziemlich sicher der Song der Platte, der von dieser Zeit zu Beginn des Jahres 2020 im Gedächtnis bleiben wird. Zugleich ein Verweis auf eine der signifikanten Passagen aus Kachelbad’s Erbe. Diese Stimmung ist schön, und schwer zu ertragen, die wistfulness (noch so ein Wort ohne deutsche Entsprechung) in Musik und Text trifft einen schwer zu bestimmenden Punkt nah am Herz. Die Zeit ist eine Wunde, das Alter ist ein Ort. Merkenswert.
  7. Die Frau in den Dünen: Ein Drängen, ein Losbrechen, ein Reißen in Sprache und Sound, Messermusik. Bezeichnend ist das Wiederholen eines Kernbegriffs – immer sind es Universalismen, eher Universen als Worte, die sich gut proklamieren und schreien lassen. Bausteine von Parolen, die den Hörenden die Entscheidung überlassen, was denn nun genau gewollt werden soll: Alles, Lust, Sand. Arbeit am Wort. Das ist wohl der Hit der Platte, denke ich, jedenfalls die höchste Intensität bisher. Von hier kann ich das Ende des Zuges in der Kurve sehen.
  8. Stern in der Ferne: „Die Fauna vergibt nicht, sie passt sich nur an“. Ich realisiere jetzt noch nicht, wie zutreffend das in einem Monat sein wird. Es muss großen Spaß machen, diesen Song live zu spielen.
  9. Versiegelte Zeit: Schließlich ins Freie. Im großen Kreis gehen, den knirschenden Sand unter den Chelsea-Boots, ein bisschen Freakout, die letzte rauchend innehalten, in die Sonne schauen. Ein Aquarium aus Licht. Das Ende eines sanftes Albums, das schließlich auch vom Ende der Menschen handelt.

  1. Die Spex schreibt vom Rumgeistern, das ist zwar kein Adjektiv, aber schön und treffend gesagt. 

Dezember

Am letzten Tag der Dekade steht die Sonne tief, waagerecht zu den letzten schwarzen Oberflächen des Jahres 2019. So muss das sein, Echo einer Erinnerung an den Blick aus Kriesse’s Fenster in den Nuller Jahren. 2019 war ein Jahr mit hoher Dichte, das war klar, als es sich vor einer Ewigkeit über den Dächern der Stadt ausbreitete.

Die Konstanten in diesem Jahr waren Bewegung und Arbeit. Das war erwartet und geplant, und in der Kombination schöner und härter als vorgestellt. Ich habe in einem Hotelzimmer über Wilshire gearbeitet, in Garagen an den Westküsten der USA und Portugals, in einem Haus aus Holz am Tegernsee, auf einer Dachterasse über dem Beton Marseilles. Am Schreibtisch einer kolonialen Stube in Ho Chi Minh City, in einem sonnigen Innenhof in Paris. Neben dem Ofen in einer Scheune in Brandenburg. In Betten, Zügen, Nächten. An welchen Ort ich gelangte, Arbeit war bereits dort.

Vieles später: Los Angeles und seine Schatten, Sport1, Staples, Alkohol, schwarz weiß. Rave, Nebel Nebel, Love in a Basement. Eupalinos und die Wahrheit und Demut, die mich Web Design as Architecture gelehrt hat. Gebäude in Marseille, Rue Marengo. SEGMENT oder die Freude, Willen in Präsenz zu verwandeln. Wahre Partnerschaft. My life as perpetual experimental proof that a life can be lived this particular way.

Selbstdisziplin und Intensität sind berauschend, und berauschende Dinge darf man nicht übertreiben, sonst spürt man sie nicht. In den 2020er Jahren muss das Verschwinden gelernt werden. Langsamkeit, Intervall, den Kick der Disziplin rationalisieren. Mit den Jahren wird klar, dass diese Worte nicht das Gegenteil der Agenda sind, sondern ihr Endgame. Totale Intensität und völlige Ruhe als Einheit der Differenz, しんずい, following the material and guiding it at the same time, until coherence emerges organically. Musik kurz davor, am Ende der Zehner Jahre.

Winter

  • Boy Harsher – Run
  • VC-118A – Inside
  • Demdike Stare – At it again
  • Shed – Guile
  • Crack Cloud – Drab Measure
  • Schwefelgelb – Durch die Haare die Stirn
  • Lee Gamble – Moscow
  • STL – Silent State
  • Neustadt – Neustadt
  • Sei A – Mode Static
  • Forschung & Entwicklung – Premis II
  • Boy Harsher – LA
  • Flxk1 Ft. Wan.2 ‎- Antitheorie A1

Frühling

  • Die Goldenen Zitronen – Die Alte Kaufmannsstadt, Juli 2017
  • Rick Wade – The D
  • Vril – Incendium
  • Lord Apex – GTSA
  • Show & AG – Bounce to This
  • Zebra Katz – Blk & Wht
  • Zomby – Zexor
  • Major Dollar Bills – Midnight Fusion
  • Supreme The Rude Boy – Friday Nite Live
  • Rainer Veil – Gauze
  • Kareem – Inhale
  • Constantine – Cosmos
  • Acronym – Nemo

Sommer

  • Dasha Rush – Antares
  • Shinichi Atobe – Heat A1
  • TR/ST – Colossal
  • Belgrad – Westen
  • Franz Ferdinand – Take me out
  • Martyn – Rhythm Ritual
  • Pessimist – Through the Fog
  • Kareem – Rattle Disco
  • Topdown Dialectic – A1
  • Osaka – Love hurts
  • New Order – Hurt
  • Ministry – Everyday is Halloween
  • DJ Bogdan – Love Inna Basement (Midnite XTC)

Herbst

  • Messer – Anorak
  • The Police – Bring on the Night
  • Boy Harsher – Morphine
  • Topdown Dialectic – B4
  • Grauzone – Wütendes Glas
  • The Aim of Design is to Define Space – AIM #@%!$
  • The Aim of Design is to Define Space – Fanta Fear
  • Hoover1 – 1B
  • Shed – B1 (Anfang und Ende)
  • Wax – 70007B
  • Rainer Veil – Repatterning
  • Newworldaquarium – Trespassers
  • TR/ST – Iris
  • Shed – Menschen und Mauern

Winter

  • Lord Raja & Jeremia Jae – Van Go
  • Messer – Der Mieter
  • Siouxsie and the Banshees – Cities in Dust
  • Notorious Big & Method Man – The What
  • Iori – Spaciotemporal (Vril Remix)
  • Galcher Lustwerk – I see a Dime
  • Drab Majesty – Foreign Eyes
  • Shed – B2 (Anfang und Ende)
  • Alva Noto + Anne-James Chaton – CR-FO
  • Speedy J. – Krikc (Umek Remix)
  • Hiro Kone – Fabrication of Silence
  • STL – Good Wine (33.3rpm)
  • Schwefelgelb – In dem Laken
  • Blitz – Flowers & Fire

Sets


  1. I never lost my adoration for the lessons the sport taught me, about resilience and grace, about humbleness, the american myth of hard work, about getting up and not blaming anyone but your own body and mind. 

2019 war das erste Jahr ohne die gedruckte Spex, also die Publikation, die (neben De:Bug und The Wire) meinen Zugang zu Musik wesentlich geprägt hat. Eigentlich nicht den Zugang, eher die Art, über Musik nachzudenken, darüber zu sprechen und zu schreiben. Über Musik schreiben, nicht um sie zu kritisieren oder öffentlich gut zu finden. Über Musik schreiben als Auseinandersetzung mit der Art, wie sie in die Welt und die eigene Psychologie passt. Darüber, was Musik empfindbar macht, also darüber, was Musik in der inneren Welt hervorbringt. Auf diese Weise über Musik zu schreiben, hat eine gewisse therapeutische Qualität. Über Musik schreiben ist auch immer: Die eigene Mythologie schreiben, eine Welt erfinden und dann darin leben.

Das Format der Fünf Alben des Jahres ist beliebig, inadäquat und überholt. Auf diese Weise vermeintliche Struktur schaffen zu wollen, ist müßig. Ich tue es weiterhin, weil es mir die Möglichkeit gibt, ein Jahr zu erinnern, anhand der Dinge, die wirklich zählen, eben weil sie keine Dinge, Momente, Tage oder sonstige Gegenstände sind. Sondern Prozesse, Loops, Echos, Perspektiven und Atmosphären, die nicht stattfinden, wenn Musik nicht stattfindet. Das Jahr ist nicht passiert ohne Musik, und es wird nicht erinnert ohne Musik.

Dies sind die fünf Alben, an denen sich kristallisiert, was ich in Zukunft 2019 nennen werde. Wie kann man das erklären, wer soll das lesen, wo soll das vorkommen? Danke, Spex.

  • Alva Noto + Anne-James Chaton – Alphabet (Noton)

    Meine kognitive und psychologische Fixierung auf die Wahrnehmung von Räumen im Allgemeinen und ihrer Atmosphäre im Speziellen sind wiederkehrende Motive dieser Texte. Es ist also wenig überraschend, dass ich in Musik raumhafte Qualitäten zu erkennen glaube und versuche, sie mit entsprechenden Begriffen und Perspektiven zu beschreiben. Es mögen False Positives sein, oder eine leichte Form pathologischer Synesthäsie. Im Fall dieser ersten gemeinsamen LP von Alva Noto und Anne-James Chaton erscheinen sie mir durchaus geeignet.

    Wie wenige andere Musikerinnen und Musiker ist Alva Noto in der Lage, Qualitäten von Raum-Atmosphären1 in seinen Tracks zu sammeln. Alphabet definiert eine psychologische Architektur mit der klaren Regelmäßigkeit eines Echolots – dass dabei die emotional empfundene Atmosphäre eine zentrale Rolle spielt, ist selbstverständlich (wenn auch für begrenzt empfindsame Hörer nicht immer evident). Alphabet ist eine angenehm temperierte Halle im grauen Vakuum einer imaginären CAD-Software. Anne-James Chaton schreitet diesen gezeichneten Raum beharrlich ab, auf geradezu konzentrische Weise. Eine Platte wie ein forschendes Gedicht, gleichermaßen geschlossen wie offen, white stasis, ein Refugium des späten Jahres 2019.

  • Shed – Oderbruch (Ostgut)

    Am Ende des Jahres bin ich, wo es begonnen hat: In Ruhe im Momentum. Der Thalys jagt über flandrische Felder, Wolken, Horizont. Ich spüre die Last des Jahres hinter mir, den Raum zwischen jedem Gedanken. Shed hat Anteil an Empfindungen wie diesen. Seit Shedding the Past setzen sich seine LPs mit einer spezifisch hochfrequenten Form der Stasis auseinander, in Ruhe, voller Energie. Waren es in den vorigen Alben in erster Linie die emotionalen und architektonischen Konstellationen der Städte, verlegt Oderbruch dieses Arrangement in die in Auflösung begriffene Natur, weist nach draußen, auf die Möglichkeit, inne zu halten. Die Motive sind vertraut: Lere als tragende Form, Rave-Introspektion, die Wiederholung, alles Sein ist eine bewegte, sich ununterbrochen verändernde Realität, Hineinziehen und Entfalten2.

    Ich bin nicht gut darin, Freiräume zu finden und sie zu schützen, in diesem Jahr weniger als in denen zuvor. Oderbruch ist ein Wegweiser, eine Art wie es gelingen kann, von der manischen Kognition, dem Hyperbewusstsein zurückzutreten. Vor einigen Wochen schrieb ich über das Innere, das in der Welt verdampft, ein ruhiger Gedanke, der unmittelbar aus B1 (Anfang und Ende) folgt, einem der Tracks des Jahres 2019. Leere, Ruhe, Momentum.

  • Rainer Veil – Vanity (Modern Love)

    Vanity erschien im Mai dieses Jahres. Mit dem Moment, in die LP auf dem Speicher meines Telefons ankam, schien sie dort bereits lange zuvor vorhanden gewesen zu sein. Es ist faszinierende Universalmusik, die sich trotz ihrer atmosphärischen Varianz in jeden Ort und jede Zeit dieses Jahres einfügte. Auf seiner ersten LP hat das Duo zu einer ruhigen, introspektiven Eigensinnigkeit gefunden. Die architektonischen Referenzen sind nun nuancierter als es noch auf New Brutalism (q.e.d.) der Fall war – das Zerlegen, Evaluieren, Re-Mixen und Re-Konstruieren des eigenen Materials (Third Sync, In Gold Mills) spielt auf Vanity eine große Rolle.

    Es führt Rainer Veil zu neuen Formen der Einheit von Leere und Raum im Sound. Es sind Intervalle, in denen sich empfinden und denken lässt: Etwa in der evokativen Texture von Gauze, einem der größten Hits und am häufigsten gehörten Tracks des Jahres. Oder in Elements – Musik, die Konzentration und Würde an jedem Platz in jedem Raum möglich macht. Konzentrierte, nach Innen gerichtete Musik, eine Art Audio-Eigengrau, not intricate but textural, schrieb ich im Sommer. Ein Album für dieses und die nächsten Jahre.

  • The Aim Of Design is to Define Space – Clean Bible, Dirty Christ EP (Monkeytown)

    Ich/Okay machine/Berlin burnout queen. The Aim of Design is to Define Space verschwinden im Nebel der Volksbühne und sind fortan nicht präsent in den 2010er Jahren, also nicht präsent in der Stadt, die Berlin heißt, es aber nicht mehr ist. Doch die 2010er enden nicht, ohne dass diese Gruppe, die Chronisten der richtigen Dinge, auftritt und das Wichtige sagt, wie gesagt. Letzlich sind es auch auf Clean Bible, Dirty Christ die Schönheit des Vokabulars3 und die Präzision der zusammensortierten Referenzen4, also wesentliche Aim-Sachen, die meine Erinnerung an das Jahr 2019 mit diesem Platte gewordenen Monolog verbinden werden.

    Das ist die richtige Message auf die richtige Weise. Es ist klug und es ist schön und es gibt aufs Maul. Das ist es, glaube ich: da ist zu wenig Auf-die-Fresse-Klugheit. Die Klugen zweifeln, statt auszuteilen, und die hören Nils Frahm und nerven fast so sehr wie die Idioten. Warum kann nicht alles so cool sein, schrieb ich Hannes über diese EP irgendwann kurz vor dem Konzert im SO36, und das ist meine Meinung. Musik über den Schmerz des Verlierers der Jugend, der Stadt, der Welt. Ende des Jahrs, Ende der Dekade, immer noch hier, raus raus.

  • Boy Harsher – Country Girl EP (Ascetic House)

    Schließlich: bei aller Tiefe und Bedeutsamkeit der Musik dieses Jahres, bei aller Komplexität und Raumwahrnehmung, Technohalluzination, Welterfindung, die ganze angriffslustige Freude an Auseinandersetzung – gegen die exzeptionell gut gemachten Wave-Repliken von Boy Harsher war ich machtlos. Meiner Lust an brachial doofer Affirmation habe ich weiterhin wenig entgegen zu setzen.

    Ich habe die Diskographie dieser Gruppe 2019 häufiger gehört als jede andere Musik. Die ausgedachte Düsternis (Yr Body is nothing), die viel zu gut programmierten Quincy-Jones-Basslines (Morphine, vermutlich der beste Popsong, den ich in diesem Jahr gehört habe), die arg übersexte Stimme von Jae Matthews (Westerners), all der Hall auf allem, das ewige cinematische Autogefahre (Run), der schwarze Sonnenschein – es macht schlicht zu großen Spaß. In dieser Hinsicht verhalten sich Boy Harsher zu den tatsächlichen Protagonistinnen und Protagonisten der eurozentrierten Synthwaveszene der frühen 1980er Jahre wie die inzwischen sprichwörtlichen Buzz-Rickson-Repliken zu den echten Fliegerjacken, die in 1950er Jahren in Japan verblieben: Das ist alles viel besser und auch darum kein bisschen so bedeutsam wie die Originale.

    Aber: Ich weiß nicht, wie viele Male ich in diesem Jahr zu dieser Musik Code schrieb, durch die Nacht nach Hause ging, gute Ideen hatte, aufgeben musste. The life needs to be lived, notierte ich im September in München. Das ist nicht leicht zu sehen, zumindest nicht für mich. Boy Harsher versetzen mich in eine Stimmung, in der ich dazu in der Lage bin. Beach Goth for life.

Weiterhin bedeutungsvoll, häufig gehört und hängen geblieben: TR/ST – The Destroyer 1&25, Messer – Anorak 7″, Pessimist – s/t, Wax – 70007, Demdike Stare – Passion, Topdown Dialectic – Vol. 2, Galcher Lustwerk – Information, Belgrad – s/t, Martyn – Odds against us, Hiro Kone – A Fossil begins to Bray, Pom Pom – Untitled (2019)


  1. Halbwegs nach Zumthor: Dimensionen und Materialien, Licht, Luft und Klang. 

  2. Aus einem Gespräch mit Yagasaki Zentarō, aus der exzellenten Interviewsammlung Die Lehre des Gartens

  3. Meine Überzeugung, dass es wichtiger ist, wie die Dinge gesagt werden als was gesagt wird, führt nicht selten zu Missverständnissen. Mit Einerseits völlig normal/andererseits a fucking tragedy ist wirklich restlos alles erklärt bevor die Worte überhaupt im Gehirn angekommen sind. Ich verdanke dieser Sprache viel, emotional und für’s große, ganze Weltverstehen. 

  4. Und – echt – die Melancholie der Standorte

  5. Music to dance and cry to. Wichtig und schön, aber leider auf Albumlänge nicht auf dem Niveau des ersten Albums

Der Winter ist zurück, und mit ihm die eisige Luft. In ihr scheint mehr Raum zu sein, neben Molekülen und Edelgasen, Raum für das körperlose Material der Gedanken und Empfindungen, für die innere Welt und das Licht, das durch sie fällt. Scharf und klar scheint sie Auflösung jeder Wahrnehmung zu erhöhen, jede Empfindung schneidender und jeden Gedanken kristalliner zu machen. Luft, die zu diesen Dingen fähig ist, eine der großen Freuden der dunklen Jahreshälfte.

Möglicherweise ist diese Empfindung im Dezember 2019 so präsent, weil sie zusammenfällt mit dem neuen LP-Release von Shed1, Oderbruch, eine Art Heimatalbum. Sein Thema verhandelt es nach Shed-Kriterien: wie immer geht um das Verhältnis von Atmosphäre und Raum, um die strukturelle und formale Untersuchung eines alten Genres2. Folgerichtig ist der Opener B1 (Anfang und Ende) der große Hit der Platte, ein auf das Innere konzentrierter Banger, konstruiert aus der vollständig eigenen Materie des Shed-Universums. Durchaus spürbar fällt der Blick dabei aus der Stadt auf das umgebende Land (Sterbende Alleen).

Das Album steigt wie weißer Dampf in kalte Winterluft – die Form ständig verändernd, warm, gewichtlos und voller Momentum, pure Shedism. Der Aggregatszustand dieser Musik könnte nicht besser zur klaren Winterluftmaterie passen, sie erzeugt ein Gleichgewicht der Konzentration im Dies- und Jenseits der Wahrnehmung. Es ist Musik, die Schönheit im Dualismus des Daseins findet, abgeschlossen und aufgehoben zugleich. Das Innere, das beständig, klar und ruhig in der Welt verdampft. Musik für den Rest des Jahres, und alles was kommt.

(Und weil Shed nur ein Protagonist im Privatuniversum von René Pawlowitz ist, gibt es parallel das siebte WAX-Release. Für die schwere Luft der Nacht. Muss.)


  1. Überhaupt lassen sich die Jahre in solche mit und solche ohne Shed-Alben unterteilen. Die Jahre mit Shed sind die, die mich an den Rand von etwas gebracht haben, in denen etwas wortlos erklärt werden konnte, in denen zusätzlicher Platz zur Verfügung stand. 

  2. Mir fällt ein, dass die Kraftwerk-Platten meines Vaters, die ich als Kind hörte, jünger waren als es Techno heute ist. Zeit ist anekdotisch. 

November

Dieses Jahr hat in Los Angeles begonnen, nachdem die ersten beiden Monate in einer Art Druckwelle an mir vorbeigezogen waren, nachdem WAF GMBH ihre Existenz rechtsgültig begonnen hatte. Es war eine Rückkehr an einen Ort, den ich während meiner vorigen Besuche nicht verstand, aber mich stets fasziniert zurückließ. Das fundamentale Versagen dieser Stadt, eine Stadt zu sein1, ihre psychotische Dunkelheit, die Geometrie ihrer Schatten im immerzu perfekten Licht – mein Versuch, eine Perspektive auf Los Angeles zu finden hält an und findet inzwischen in einem Are.na-Channel statt: Parsing L.A..

Seit meiner Rückkehr habe habe ich nicht aufgehört, über diese projizierte Stadt und ihre Orte nachzudenken. Ebenso habe ich nicht aufgehört, Boy Harsher zu hören. Die dunkle Campyness des Projekts aus (enttäuschenderweise) Massachusetts fließt gleichermaßen in den schwarzen Sonnenschein, der so spezifisch für Los Angeles ist. Diese Musik füllt Industriebrachen und flutet die mit 20 Meilen pro Stunde vorbeiziehenden leeren weißen Kuben, die Gebäude sein sollen. Wie so vieles in den Vereinigten Staaten ist sie eine Rekonstruktion europäischer Affekte mit amerikanischen Mitteln. Wie so vieles in Los Angeles speist sich ihre Anziehungskraft aus eben dieser monumentalen Fakeness.

Ich habe die Alben und LPs von Boy Harsher mehr gehört als viele andere Musik in diesem Jahr. Los Angeles blieb und die Stimmung blieb und die Erinnerung an das Licht und die Menschen blieb. Es ist schwer, sich der Sleaziness zu erwehren, dem Eingeständnis einiger Kaputtheit und der Weite und Freiheit, die von dieser Musik ausgeht. Das hat viel mit Jae Matthews‘ Gesang zu tun, geschult an der Attitüde und Anziehungskraft der europäischen Goths (Siouxsie Sioux, Anja Huwe, man muss die richtigen YouTube-Videos kennen).

Motion, Westerners und Morphine (ey, diese Titel) haben mich durch einige Härten halluziniert, als Narrative einer Welt, die es nur ausgedacht gibt, und halt in Los Angeles, wo alles erfunden ist. Es ist großartige Musik, wie L.A. eine großartige Stadt ist, wie es nichts sharperes gibt als eine Truckerjacke aus gewachstem Twill im richtigen Licht.

Boy Harsher wurden zum Kristallisationspunkt meiner Beach Goth-Playlist, vermutlich der reinste Ausdruck meiner Lust an brachial doofer Affirmation, zu der ich in diesem Jahr gefunden habe. Diese Playlist bedeutet mir viel – ebenso wie Los Angeles und meine Perspektiven in der Stadt, denen Boy Harsher Raum und Permanenz in 2019 gegeben haben, auch auf dem kalten Boden der Tatsachen zum Ende der Dekade.

There was a moment among the abstract government buildings. I was very tired, the mournful groove of Boy Harsher oozing from my wireless earpiece, an electric scooter zooming past. I realized where I was, which world, how far I had walked. Let’s save this particular now. (Berlin, September 2019)


  1. Traversing the airspace above L.A. and the valley beyond makes the vastness of this country apparent. It is, fundamentally, still the far west, unclaimed nature, emptied of its original inhabitants, painted with a thin layer of civilisation and semi-permanent architecture. Were the people settling here to leave, it would turn full western-trope ghost town of monumental dimensions. 

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