electricgecko

Juni

(Noch ein Text über Shed, zum Re-release von Well Done My Son, veröffentlicht eigentlich irgendjemand sonst noch Musik?)

Shed ist zwei Personen – ein Produzent von Techno-Alben, die von ihrer Spationierung leben, deren große Momente in der Leere und im Rauschen des Delay-Filters arrangiert sind. So sorgsam und kontrolliert produziert, dass sie bereits zum Zeitpunkt ihres Erscheinens zeitlos sind.

Die andere Person ist WAX-Shed, Dub-Shed, Banger-Shed, Funktions-Shed – der Typ, der nach zwanzig Jahren immer noch Whities für die Floors raushaut. Komprimierter Techno, der stets und spürbar im Raum stattfindet (auch hier ist Dub die Basis1). Es sind die einfachsten Progressions aus zwei Akkorden, die kompakteste Snare und kurz vor 130 BPM.

In beiden Varienten des Shed-Outputs geht es um Zeit: ihre Manipulation, Verdichtung, Auflösung und Wiederverwertung: Ein Spektrum zwischen dem ganz und gar Dasein im hochverdichteten Moment und dem endlosen Leben mit seinen auseinanderliegenden Momenten, Verbunden durch Musik. 12 Jahre nach seinem ursprünglichen Release ist Well Done My Son auch in diesem Sommer wieder ein Punkt auf dieser Achse.

Ich wollte nur sagen: Well Done ist ein Banger für den Sommer, ein komprimiertes Brett, komprimierte Zeit, jetzt und hier keine weiteren Gedanken, der Track ist so gut.


  1. Wie zuletzt zu hören auf No Repress But Warehouse Find

Auseinandersetzung mit Kunst ist Unterscheidungsfindung, die Suche nach einer Perspektive, das Begutachten von neuem Material auf Brauchbarkeit für kognitive, emotionale, ästhetische Baustellen. Es ist schön und befriedigend, wenn die Kognition einrastet, wenn sich Verständnis einstellt, die Entcheidung fällt, wie da von nun an etwas zu betrachten ist: Suddenly hooked on that new Shed EP.

Im Fall der einigermaßen sperrig betitelten Not a Repress but Warehouse Find hat es eine Weile gedauert, um zu verstehen, wo das alles hingehört. Vermutlich brauchte es überhitzten Berliner Asphalt und ein leicht dehydriertes Gehirn, um dieser kunstvollen Anordnung von Ravebrutalismen folgen zu können. Lumber Fix TT ist ein Stück Architektur, so präzise, dass man die schamlose Peaktimehook erstmal überhört – und von den ersten zwei Minuten Acid Drift bleiben wenige Erinnerungen übrig, nachdem eine brachiale 808 endlich Bodenhaftung erzeugt. Dann zwei Shedding-The-Past-mäßige Interludes, zu denen man über den Kanal oder in den Himmel blickt. Die beiden letzten Tracks (Entschuldigung, ich muss, die Namen sind so schön: Sp ToolVltk3 und 130 Go Sweep) könnten um ein Haar das neue Wax-Release sein, wären sie nicht so kompakt und kontrolliert und nicht so mittelbar fantastisch.

Such a nice piece of sonic brutalism, so verfasert kohärent und so intens, dass es sehr gut zu diesem Sommer passt.

Mai

Alva Noto war schon immer das Alter Ego für die Hits, für den affirmationsorientierten Output des Projekts Carsten Nicolai. Dieser Musik geht es um die Beschreibung physikalischer Räume – dem Herausarbeiten der arkanen Konfigurationen, die in ihrer Metaphysik etwas fühlbares hinterlassen. Insofern ist die Uni-Trilogie (UnitxtUnivrsUnieqav) natürlich Popmusik, so berechnend wie effektiv.

Diese Präzision bleibt dabei unverschleiert, das Gefühl in einem antiauthentisch herauspräpariert und hochgradig empfindbar gemacht. Dies gilt für den dritten und letzten Teil der Serie in besonderem Maße: Unieqav reißt noch einmal alles ab, was die Stätten des Kunst- und Lebensbetriebs in den Städten hergeben. Printworks London, Margiela GATs, Karl-Marx-Stadt, Doppelhelix auf eins und vier. Heimweg zu Uni Blue, dem aufgerauten Hit der LP, ein Track wie gewaschener Kaschmir.

Ich erinnere eine der frühen Aufführungen dieser Platte in einem dunklen Theater in Barcelona, der Welt fern und nah dem kollektiven Inneren. Pop: Das Gefühl eindringlich vorhanden und aufgelöst zu sein. Gemeinschaft, oder zumindest Gefährtenschaft, erzählt auf eine Weise, die ich verstehen kann.

  • Alva Noto – Unieqav, LP. Noton, 2018.

April

Manche Gedankenformen habe ich so häufig vorfolgt, dass sie zu Bedingungen meiner Wahrnehmung der Welt geworden sind. Ich arbeite mich an Themen ab, und so wenig sie mit der elusiven Natur von Realität1 zu tun haben, so instrumentell sind sie für die Herstellung von Wahrheit als subjektive, kontingente Folgerichtigkeit. Inhaltlich letztlich bedeutungslos, aber Pfeiler eines funktionierenden Frameworks um klarzukommen.

Eines dieser Themen ist die Hochverdichtung eines Gedankens bis zu dem Punkt, an dem nicht mehr unterscheidbar ist, ob er sehr klug oder sehr dumm ist. Werden diese Pole äquivalent, sind andere Kriterien interessant und notwendig: Intensität. Effizienz. Case in Point: Das unbetitelte Release einer ebenfalls unbenannten Produzentin des nuller-Jahre-Labels Pom Pom bei Ostgut. Diese EP ist pure Form, ein Bekenntnis zum Geradeaus und zur Intensität. Musik wie diese scheint mir nach wie vor die einzige Chance, meinen Drang zur permanenten Unterscheidung für eine kurze Weile auszusetzen. Vielleicht geht es auch in erster Linie um Commitment: Commitment zu genau einer Idee, so einfach, richtig und begrenzt sie auch sein mag.

Dieser Text erscheint mir weniger zielführend als der Waschzettel des Labels zu diesem Release: Black strikes back. Pom Pom. Bumm Bumm. Ja Ja. Vollkommen richtig.

  • Pom Pom – Untitled, EP. Ostgut Ton, 2018.

  1. Dieser Begriff verlangt stets nach Anführungszeichen oder – zumindest – Kursiven: I always perceived radical constructivism as a survival tactic. 

März

Im Falle von Topdown Dialectic von Releases zu sprechen ist einigermaßen missverständlich. Was bei Bandcamp (via Aught) als Tapes und Dateien verfügbar ist, gleicht eher arbiträren Mittschnitten einer kontinuierlich laufenden Modulation: Aufnahme und Wiedergabe eines endlos verspulten, stets neuen Grooves. Loop-basierte Musik, transparente Elektronik. Sie legt sich wie ein Film über jeden Ort, wird unmittelbar Teil der Ambience.

Trotz des so stark empfundenden Raumbezugs ist den Topdown Dialectic-Tracks ein Element der Ferne gemein. Ihre hellgraue Körperlosigkeit erreicht nie das hier, den Vordergrund, sie bleiben im dort, eine architektonisch zu spürende Abstraktion, Musik als Infrastruktur.

In letzterer Hinsicht sind sie konkret und spürbar: Cleane Wärme, ein freier Schreibtisch an einem Frühlingstag. Clicks und Impulse für alles, aber keine Dichte, kein Gewicht, kalifornische Sonne, Samstag, 10:21.

… rolling from Actress or Lee Gamble-style skank-house in 05 to the frayed swing of 06 and luscious cyber-boogie-dub in 07, whilst 08 does blown-out dub with trippy flair, and the final couplet of 09 and 10 feel like the mutant antecedent of Pole’s best, early work and the unquantised ecologies of FiS.

  • Topdown Dialectic – 20170804. LP. /\\Aught, 2017.
  • Topdown Dialectic – /\\09. LP. /\\Aught, 2015.
  • Topdown Dialectic – /\\02. LP. /\\Aught, 2014.

Februar

1983 hatten die 80er Jahre des vergangenen Jahrtausends vollends begonnen, und damit das große Jahrzehnt der Selbstunterscheidung und eines der besten Jahrzehnte popkulturellen Outputs überhaupt. Zusammengebissene Zähne und technische Schärfe: Voller Selbstvertrauen, Amphetaminen und neuem Equipment machen sich die Protagonistinnen an den Rändern1 der Vermarktungsmaschinen durch experimentelle Selbstanwendung auf die sich professionalisierenden Welt selber zum Output, das Individuum wird künstlerische Arbeit.

Dieser Zusammenhang hat mit meiner aktuellen Verknalltheit in Xmal Deutschland und die 1983-Version von Anja Huwe zu tun. Trotz meiner großen Zuneigung zum rauen Vulgärminimalismus des Wave hatte ich die Gruppe recht lange erfolgreich ignoriert, vermutlich aufgrund ihres einigermaßen doofen Namens und einiger arger Fehlgriffe im Spätwerk. Das war ein Fehler, denn Fetisch, das Debut von 1983 ist eine ziemlich umfassende Welterfindung im eingangs beschriebenen Sinne. Ein ästhetisches Framework für gestrippten Grandeur und High-Goth-Theatralik, ein schwarzer Blick hinaus in die Welt (Kämpfen), die Versammlung der guten Bösen (Hand in Hand). Der tighten Intensität von Qual2, diesem löchrigen Groove, steht Anja Huwes Gesang gegenüber – und es ist wirklich Gesang, kein Wegducken in Affekte oder Shouting. Diese Frau hatte keine Angst, das ist die geschulte, geprobte und aufgenommene Wahrheit. Hier ist gemeint was gesagt wird, die Semantik von Xmal Deutschland spiegelt die Direktheit der Musik.

Wie gesagt, ich bin ganz verliebt, ich kann mich nicht wehren gegen diese große Konzentration und die weltgreifende Anmaßung der Attitüde dieser Gruppe. Fetisch ist ein Powermove, ein Manifest dafür, innere Fragilität nicht als Hinderung, sondern als etwas zu schützendes zu begreifen. Ein perfekter Zeitmoment, gelöst in einer umfassenden Ästhetik.

  • Xmal Deutschland – Fetisch. LP. 4AD, 1983.

  1. Inzwischen ausgekundschaftet und geschmackvoll vermarktet durch sehr gute Labels wie Dark Entries, Minimal Wave und Archivaren (wie Mutant Sounds). Das ist nicht schlecht, denn Gruppen wie Lunapark und Nagamatsu haben größere Publika verdient. 

  2. Der 12″-Remix von Qual ist vollständig floortauglich; es ist eine Schande, das B-Seiten-Dubs kein Ding mehr sind – ebensowenig wie B-Seiten, for that matter. 

Dezember

Es war ein klares, kristallenes, nüchternes Jahr, eindeutig in den bleibenden Momenten wie in seinen Tiefpunkten. Nach 2016 war wenig zu träumen und viel zu realisieren. Wir wissen schmerzhaft genau, wo unsere Grenzen liegen. Wir kennen Techniken, um uns verlässlich für einen Moment daraus zu befreien. Diese Effizienz macht misstrauisch, und jeder Erfolg muss zu Skepsis führen. Darum müssen nach dem Interimsjahr 2017 nun neue Dinge und neue Konstellationen erfunden werden, auf die wir uns anwenden können.

Ich bin diesem Jahr dankbar für simple Momente ruhender Schönheit, die kein produktives Reißen erzeugten, sondern einfache Teilhabe an der Gegenwart. Das fiel mir nie leicht.

In Basel gibt es einen Fluss im Sonnenlicht und all den Beton, es gibt die Möglichkeit einer Insel und das gelbe Licht in der Nacht in Weimar. Es gibt den Regen in gläsernen Schluchten und immer noch Teppich in den Terminals des Changi Airport. Wieder Tate Modern, wo Tillmans 2017 formuliert. Es gibt die Möglichkeit, loszulassen, Kopf und Körper auf wundervolle Weise zu erledigen. Es gibt die dunklen Tropen (die Welt ist unglaublich). Wir dürfen den Besten zuhören. Es gibt ein Konzert der Einstürzenden Neubauten und das Bauhaus steht für uns noch. Nicht überall, aber überall hier gibt es ungebrochene, ewige Gemeinschaft, true Zeitgenossenschaft.

Everything one invents is true.

Tracks, die wichtig waren, kurz vor und kurz nach den definierenden Momenten des Jahres 2017.

Winter

  • Killah Priest – Cross my Heart
  • Kangding Ray – Epsilon
  • Tangerine Dream – Phaedra
  • Maurizio – M06a1
  • Jesse Osborne-Lanthier – Blackwell Dynonetics
  • Kyoka – Hovering
  • Senking – Lighthouse Hustle
  • Black Marble – Static
  • Einstürzende Neubauten – Keine Schönheit ohne Gefahr
  • Gener8ion – H808
  • Joy Orbison – Rite Ov
  • CO/R – Bells, Walking
  • Einstürzende Neubauten – Morning Dew

Frühling

  • Colourbox – Looks Like We’re Shy One Horse/Shoot Out
  • Kangding Ray – Purple Phase
  • Carsten Jost – Army Green
  • Freddie Gibbs – How we Do
  • Sverca – Peels a Tangerine (Regis Remix)
  • Shed – Taken Effect
  • Ital Tek – Re Entry
  • Vril – Lazar
  • Freddie Gibbs – Knicks
  • JP Enfant – Rem Phase
  • Fragile – Fast Lane
  • Alva Noto – Bit
  • Seawash – Closer (Vox)
  • Artefakt – The Mental Universe

Sommer

  • Trust – Peer Pressure
  • Lorn – Vestige I
  • Peter van Hoesen – Coast to Coast
  • Rin – Blackout
  • Island People – Colour District
  • D.A.F. – Kebabträume
  • Alva Noto – Milan
  • Curren$y – Scottie Pippen
  • Few Nolder – Wisher
  • Tha Audio Unit – Make a Move
  • Rhythm & Sound – Troddin Version
  • Tlim Shug – Rari Techno
  • Sawlin – Motion Keeper
  • RZA – Airwaves
  • Maud Geffray – 1994
  • Zomby – Zprite

Herbst

  • 死サイコロ – Жребий брошен
  • Lavascar – Lavascar
  • Lee Gamble – M25 Echo
  • Rin – Monica Bellucci
  • M.E.S.H. – Search. Reveal.
  • Pilotpriest – White Blazer (Darknet Edit)
  • Demdike Stare ‎– At Rest (Version 2)
  • Die Dominas – Die Wespendomina
  • Turinn – 1625
  • Rhythm & Sound – Mango Drive
  • Basic Channel – Q1.1 B01
  • Lee Gamble – UE8
  • Gaika – Roadside
  • Nick Cave and the Bad Seeds – Weeping Song

Winter

  • Caapi – Untitled
  • Lee Gamble – You Hedonic
  • Vril – Anima Mundi (Side 2)
  • New Order – Ultraviolence
  • Andy Stott – Posers
  • Demdike Stare – Savage Distort
  • Miles – Plutocracy
  • Claro Intelecto – Sunshine
  • Q3A – Temple of Retribution
  • D’Marc Cantu – Fenset
  • Mama Bubo – Sen
  • Claro Intelecto – Ageless Eyes

Sets sind idealerweise transportable Atmosphären für Momente in Transit oder im Flow. Das Tape ist nicht tot, und ich freue mich über Labels wie Oblast, die diesem Format gerecht werden. Weiterhin häufig gehört und bemerkenswert gefunden:

Sets

Wie war das, mit der Musik in diesem neuesten Jahr? Zuweilen scheint Musik nicht existiert zu haben, weil kein Raum blieb für den Modus Musik hören (Releases nachvollziehen, Labels verfolgen, Empfehlungen nachgehen). Umso nachdrücklicher musste ich realisieren, wie bedeutsam die Auseinandersetzung mit dem System Musik weiterhin ist. Im Verlauf des Jahres habe ich es zunehmend besser verstanden, mich an diese ganz funktionale psychologische Rolle zu erinnern.

Meine wichtigsten Releases des Jahres 2017 sind wohl nicht zufällig in besonderer Weise Quellen für Atmosphären und empfundene Räume – also psychologische Infrastruktur, aus der heraus neue Maneuver geplant und vergangene losgelassen werden können. In dieser Hinsicht war das Jahr möglicherweise dort grundlegend, wo Neues auf die etablierten Muster traf. Ein Aufbruch, der nur im Rückblick wahrnehmbar ist. Fünf Platten in 2017.

  • Rhythm & Sound – The Versions (Asphodel)

    Zu Beginn des Jahres brach meine Schwäche für Dub-basierte Musik durch zum untechnoiden, organischen Teil der Basic Channel-Releases. King Tubby und Scratch Perry also, alte bekannte aus verschiedenen Phasen meiner Musiksozialisation1. Mit seinem Rhythm & Sound-Projekt fand Moritz von Oswald zu Beginn des Jahrtausends einen Weg, die rohe Kraft dieser Musik und seine hochflorigen Oberflächen in eine Form zu bringen, die für das Leben in der Stadt Berlin sinnvoll ist.

    The Versions ist ein flexibles Gerüst für ganz verschiedene emotionale Zustände und Energielevel: Troddin‘ Version, wie ich an der Ankerklause in die langen Schatten am Maybachufer einbiege. Wie ich in einer Nacht erst nach Minuten bemerke, wie vollkommen King Version meine Bewusstheit durchdrungen hat und ich meine Arbeit vollkommen hooked mit ganz anderer Perspektive fortsetze. Musik als spartanisches Bühnenbild, offene Räume schaffend, dabei unbedingt im Einzelnen zutreffend.

  • Rin – Eros (Division)

    Es ist unterhaltsam und beruhigend, dass auch die internetbedingte Permeabilität aller Dinge es bislang nicht geschafft hat, das alte Biest Pop zu vernichten. Noch gelingt es der westweltlichen Konsumkultur2, gleichermaßen zutreffende wie verkaufbare Aussagen über den State of Mind ihrer jungen Generationen zu machen. Enter: Rin.

    Während ich seine Wegbereiter der vergangenen Jahre maximal unterhaltsam und angenehm Lo-Fi fand, funktioniert Rin vollständig und ernsthaft, weil er das Versprechen von Cloud-, Vapor- und Tube-Irgendwas einlöst: Es geht um Vibe und um Vibe allein, ein Wort, das keine Entsprechung in vorangegangenen Konzepten hat. Eros ist purer Vibe und kann es sein, weil Rin sein Debütalbum erfolgreich von allen Verpflichtungen gegenüber Trap, Narrativ, Authentizität (Abteilung: inadäquate Konzepte) und kritischeren Künstlern befreit.

    Auch deshalb ist Eros eine der am häufigsten gehörten Platten dieses Jahres: eine gezielt zustandsverbessernde Substanz. Und vielleicht auch, um bei aller Düsternis das Grinsen und die Gewissheit zu ermöglichen: The Kids are alright.

  • Island People – S/T (Raster-Media)

    Ich verbrachte in diesem Jahr einige Tage in den Tropen, auch ein wenig auf der Suche nach der Empfindung einer spezifischen heißen Düsternis. Die ist natürlich imaginiert und, wie häufig in solchen Fällen, eng mit Musik und einer Stimmung verbunden: Drony, hazy, washed out as fuck.

    Damit sind die definierenden Schlagworte für Island People genannt, das gefühlt akustische All-Star-Release Island People bei Raster-Media. Es ist eine Platte unbedingter Konzentration, eine Auseinandersetzung mit der Natur und der eigenen Beziehung zu ihr. Ihr Blick ist frei von Romantik: The Jungle is Neutral, und in dieser Musik ist stets Raum für den Sturz ins Dunkle und das Lauern in der Tiefe. Shadows and I ist von faszinierender Spannung, es ist kaum möglich, diesem Track nicht völlig gebannt zu folgen, wie dem stürzenden Atmosphärendruck vor dem tropischen Unwetter.

    Es gibt Parallelen zu Darkside3, doch wo sich das Projekt von Nicolas Jaar dem Groove hingibt, floaten Island People ins ungewisse Weite, der Sonne oder dem Untergang entgegen, je nach dem. Ein prägendes Album.

  • Vril – Anima Mundi (Giegling)

    In den vergangenen Jahren notierte ich an dieser Stelle kein Vril-Release, obwohl sein spezifisch affirmativer Moodboardtechno permanent zum Rahmen meines Lebens und Arbeitens in 2016 und 2015 gehörte.

    Vril entwickelt seinen rigiden ästhetischen Entwurf langsam und introspektiv weiter, ohne Umbrüche und Einflüsse – es ist kein Ausbreiten, sondern ein tiefer gehen. Das gefällt mir natürlich. 2017 erreichte dieser Prozess eine neue Schicht, eine noch stärkere Zuwendung zu Atmosphären und Soundarchitekturen, einen Schritt weg von den Ansprüchen des Floors:

    Umso mehr tritt in den Vordergrund, was mich seit den Staub-Releases fesselt: Die Poesie der Ebene, Sustain ohne Release. Auf Anima Mundi verhallen die Bars mit statischen hundert BPM im Rauch, ohne ihre deutlich spürbare, aber drastisch kontrollierte Energie einzulösen. Ihre meditative Qualität tritt in den Vordergrund.

    Anima Mundi war eine Quelle von Energie und Raum in diesem Jahr, stilles Momentum wo ich es am meisten brauchte, Wärme und Verständnis auf den langen Wegen. Wie häufig war ich dankbar für dieses verrauschte Tape.

  • Lee Gamble – Mnestic Pressure (Hyperdub)

    Ich habe viel Musik von Lee Gamble gehört, in den letzten Jahren, und ich habe überproportional viel darüber nachgedacht. Doch jetzt eben wird mir bewusst, dass es das szenische Weltentwerfen ist, das seine Arbeit so bedeutsam für mich macht. Lee Gamble baut den Kosmos seiner Releases vollständig aus, füllt ihn mit Vokabular, Satelliten, Architektur, Gadgets und Wurmlöchern. Hier besteht eine Parallele zu meinen liebsten Filmen, Geschichten und Büchern. Mich interessiert Ausstattung mehr als Handlung, Charakteranlage mehr als Charakterentwicklung.

    Mnestic Pressure ist das mit Abstand interessanteste Release des Jahres 2017 – und in seiner fraktalhaft ausufernden Kohärenz auch das schönste. Lee Gamble verwendet Material aus seinen weit reichenden Beobachtungsradien, um Musik zu erfinden, die mehr Sinn ergibt als die Quellen auf denen sie basiert. Da ist eine schlüssige Welt auf der anderen Seite des Covers, und es ist heilsam und inspirierend, sich dort mit halbem Bewusstsein aufzuhalten: Mnestic Pleasure, Soundtrack besserer Horizonte.

    Müsste ich erklären, wie ich mich 2017 in den komplexeren meiner emotionalen Konfigurationen gefühlt habe: You Hedonic, Ghost und A tergo Real wären wahrheitsgemäße Antworten. Was Lee Gamble hier entwirft, erscheint mir zutreffender und adäquater als das, was wir diesseitig als Realität zu akzeptieren haben. Es ist, wie ich im November schrieb: Das sind alles wahnsinnige Hits, nur halt nicht in der Welt, unter dem Atmosphärendruck des allzu Physischen.

Shortlist: Kangding Ray – Hyper Opal Mantis, Artefakt – The Mental Universe, Kyoka – Sh, Turinn ‎– 18 And A Half Minute Gaps?, Shed – The Final Experiment, Carsten Jost – Perishable Tactics, CO/R – Gudrun, Jesse Osborne-Lanthier – Unalloyed, Unlicensed, All Night!, Peter van Hoeen – Coast to Coast, Jacques Greene – Lucky Me, Gaika – Spaghetto


  1. Ich erinnere mich genau an den Equalizer an der Stereoanlage meines Vaters, an eine Folge von Flüssigkristallformen, die zu den bevorzugt abgespielten Reggaeplatten in geringer Varianz voranoszillierte. Ich war stets fasziniert vom repetitiven Momentum, und es scheint eine Vorliebe für Rhythmus, Echo und massiger Trägheit geblieben zu sein. 

  2. Die unter den Bedingungen dieser Zeit angenehmerweise zusehends an Westlichkeit verliert, trotz aller Tendenzen hat diese Zeit ihr Gutes. Es geht voran. 

  3. Beides Single-Release All-Star-Bands, beide einer meditativen post-elektronischen Langsamkeit verschrieben, beide singulär in Genre und Referenzraum. 

Es ist eines der ersten Konzerte, die in der Philharmonie an der Elbe zur Aufführung gebracht wurden: Einstürzende Neubauten spielen an einem Ort, der 1983 wohl weder als architektonische Möglichkeit noch als Repräsentanz für die Entwicklung der Gruppe zu denken war, nur einige hundert Meter Luftlinie von dem Ort1 entfernt, an dem Bargeld/Einheit/Unruh vor 34 Jahren geduckt nach Methoden suchten, eine neue Musik zu machen.

Man muss diesen geringen räumlichen und großen zeitlichen Abstand als Rohstoff für das begreifen, was am 21. Januar 20172 hier also aufgeführt wird: Die Greatest Hits der Neubauten, weiterhin damit beschäftigt, ihre jeweils aktuell existierende Version letztgültig abzuschaffen, sie aufzulösen in Musik. Ich sehe sie zum ersten Mal live, es ist also ein signifikanter Tag meines beginnenden Jahres 2017.

Ich mag es nicht verstreichen lassen ohne meine Notizen des Abends im Angesicht großer Schönheit hier niederzuschreiben:

(Hier leben die Blinden, die glauben was sie sehen)

Blixa Bargeld’s Eröffnung, das Ensemble werde nun Stücke aus den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrtausends zur Aufführung bringen muss selbst bei vollkommener Unempfindsamkeit für Blixa’s Charme nicht als Gag zum Einstieg, sondern als einfache Formulierung des Anspruchs der Neubauten verstanden werden: Ihrer berechtigten Arroganz, über Musik hinaus zu greifen, Kultur- und Identitätstechniken zu formulieren, Leben zu ermöglichen.

Die essentiellen Neubauten-Praxen: das Vorfinden und Entwickeln von Instrumenten und Texten zu nicht näher spezifizierten Zwecken, das spätere Hervorholen und Einsetzen dieser experimentell erprobten Hard- und Software-Lösungen zu ganz anderen Zwecken, die Aufschichtung jeder Iteration und der folgende Tagebau für die jeweils nächste Schicht. Die historisch-rabiate Aufführungspraxis, wie Blixa sagt.

Es ist dann die Aufführung der Einstürzenden Neubauten verschiedener Epochen. Keine Coverversionen, eher forschende Blicke zurück auf die Aggregatzustände dieser Gruppe. In allen geht es selbstverständlich um Widerstände als Spannungen, mehr im elektrotechnischen als im gesellschaftlichen Sinne. Widerstand gegen das falsche Außen, Widerstand gegen Architekturen, Widerstand gegen die eigene Insignifikanz. Auch an diesem Abend schöpfen sie aus dem Vollen, aus dem Soundmaterial von Unruh und Moser, aus den Texten von Blixa, aus der Bodenhaftung von Arbeit und Hacke. Wie 1983, wenige Meter jenseits der Elbe, führen sie also alles ins Feld. Es ist immer noch das Selbe, tiefer in den Strada des gleichen Flussbettes. Nicht nur in diesem Zusammenhang ist Susej ein Schlüssel für diesen Abend und die Bedeutung der Einstürzenden Neubauten.

Die Signifikanz der Einstürzenden Neubauten ist zu keinem kleinen Teil darin bedingt, dass sie auf einfache Weise das Richtige sagen, wie es sonst niemand tut, was wichtig ist, was essenziell ist.

(Sehnsucht ist die einzje Energie)

Natürlich basiert alles, was hier aufgeführt wird, auf einer Kameraderie, die nur nach 20 Jahren Existenz und mit einem Pool aus Referenzmaterial, der keiner Erklärungen bedarf, möglich ist. Ein Auflösen, wie Zucker, ineinander.

Die finale Zugabe ist das klimaktisch kontrahierende Redukt, vorgetragen von einem nun vollkommen anwesenden Blixa Bargeld. Ich bin vollkommen hingerissen von diesem Stück Musik, das zentrale Fragen meiner Studienzeit präziser behandelt als es meine Abschlussarbeit tat. Dass es dabei außerdem kolossale Erotik entfaltet, ist schwer zu fassen. Diese spezifische Performance dieses Stückes erlebt zu haben, ist mir überaus kostbar.

Zwischendurch, im blauen Licht, wenn es das PA-Team der Philharmonie allzu gut mit dem vermeintlichen Popmusikthema des Abends meint, wirkt es, als spielten alle ihr eigenes Konzert, perspektivische Parallel-Konzerte, natürlich ein Trugschluss.

(Die neuen Tempel haben schon Risse)

Vor der porösen Schallisolation des allzu neuen Konzertsaals klärt sich der Blick auf das Vermächtnis der Neubauten: Das persistente Streben nach Auflösung, der Drang zum Nichts. Geboren aus den reaktiven Widerständen ihres Frühwerks ist es das zentrale Motiv ihrer Arbeit. Alles, was an Material angehäuft wird, muss verbraucht werden, damit der Prozess, die Beschwörung der Einstürzenden Neubauten weiterbestehen kann. Auch dieses Konzert ist die weitere Perpetuierung der Selbstauflösung – das Monument dieser Gruppe ist die Leere, die Stille, ausgerechnet.

Gleichwohl, es ist bewegte Stille, in der sie als perfekte Antithese zum Schall ihrer Umwelt existieren, aufgelöst und niedergeschlagen in der Harmonie des Widerparts.

Am Ende schleichen sie sich raus, evaporieren, endlich nichts und Bestandteil von allem.

Beste Rettungsdecke ever.


  1. Das Hafenklang-Studio und seine Nebenräume, inklusive des Flutkellers, in dem Blixa die erodierten Riffs einspielte, die viele Jahre später zur Grundlage von Susej werden sollten – 2007 so zusammengesetzt wie es gedacht war. So wie Blixa es selbstverständlich im Kopf hatte, immer. Siehe unten. 

  2. Das Konzert ist momentan in voller Länge hier zu sehen. 

November

Es ist eine große Konzentration in der Musik von Vril. Das war schon immer so, seit den ersten 12″ auf Staub: der lange, forschende Blick auf das Wenige, das da ist. In der tiefen Auseinandersetzung mit der Reduktion der Mittel findet sich in dieser Musik wieder fraktalhafte Komplexität – Minimal und maximaler Monumentaltechno sind hier identisch, es ist eine Frage der Auflösung im Sinne des Feinheitsgrades der Wahrnehmung1.

Anima Mundi, das zunächst als Tape veröffentlichte nächste Vril-Album, nimmt diese Konzentration deutlicher in den Blick: Es geht weniger um die Dramaturgie der Tracks, ihre affirmative Funktion auf dem Floor, Vril beraubt sich also seiner augenscheinlich größte Stärke.

Umso mehr tritt in den Vordergrund, was mich seit den Staub-Releases fesselt: Die Poesie der Ebene, Sustain ohne Release. Auf Anima Mundi verhallen die Bars mit statischen hundert BPM im Rauch, ohne ihre deutlich spürbare, aber drastisch kontrollierte Energie einzulösen. Ihre meditative Qualität tritt in den Vordergrund, es trifft auch hier die vollkommen grandiose Beobachtung von Rainald Goetz zu: “Kunst, die man nicht sieht. Musik, die man nicht hört. Ein Denken, das alles irgendwie denkbare schon erledigt hat und jedem dadurch alle Freiheit gibt”.

Ein stilles Release nach der großen Welle, dem Boiler Room und den Videofeatures. Ich hätte es gern als Album, für das Gefühl des nahenden Ende dieses Jahres.

  • Vril – Anima Mundi. Tape, LP (unveröffentlicht). Giegling, 2017.

  1. Ich hatte einen ähnlichen Gedanken zum Set von Fis + Renick Bell beim Atonal 

Neuere Texte über Musik

Ältere Texte über Musik