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Wabern

Es ist Februar 2020, ich sitze in einem Fernzug durch die Steppe. Es sind dreißig Grad, die Sonne scheint durch stahlgefasste Fenster. Bevor sie aufging habe ich die neue Messerplatte bei iTunes gekauft, mit meinem Telefon. Ich höre sie zum ersten Mal, während nordafrikanische Landschaft vorbeizieht. Drei der sieben Stunden von Fes nach Marrakesch mit diesem Album über das Entkommen.

Die Misere des Jahres 2020 war zu diesem Zeitpunkt, obschon zu ahnen, nicht vorstellbar. Dennoch scheint der dieses Album bestimmende Eskapismus, vom März aus betrachtet, vollkommen adäquat. Eine Reaktion auf das Gefühl, eingeschlossen zu sein: nach drei Alben, in dieser Zeit, generell hier drin. Wir müssen raus. Das schlägt sich in einer gewissen Eeriness nieder, die ohne kontinentaleuropäische musikalische Entsprechung ist, und wohl auch ohne adäquate deutsche Vokabel1. Dieses Fernweh ohne Ziel, es ist wohl eher ein britisches Ding. Folgerichtig klingen Messer auf No Future Days, ihrem vierten Album, wie The Police, und wie die Specials in Ghost Town. Gefangen unter Thatcher, raus wollen und nicht raus können, eine Gruppe in ungewissen Zeiten.

Was bleibt, sind Texte als Türen und Orte, die blauen Augen in die ganz bestimmt sonnige, aber ebenso vage Ferne gerichtet. Das bedeutet eine Veränderung im Schreiben wie im Gesang von Hendrik Otremba – wurden auf Jalousie noch Geschichten erzählt, bewegen sich die Songs auf dieser Platte durch eine Welt aus wabernden Allegorien. Sie speist sich aus dem gleichen Universum wie Kachelbads Erbe, Protagonisten und Schauplätze finden hier ein unstetes Zuhause. Lena sagt, der Gesang sei noch mal ein Stück schnarrender geworden. Das ist nicht falsch, und es tut diesem Album gut. Text findet seine Entsprechung. Die Qualitäten der Gruppe Messer – Geschmack und Kohärenz – bestehen auch in dieser veränderten Form weiter.

Notizen aus dem Wüstenzug, vom ersten Hören der Platte.

  1. Das verrückte Haus: Braune Schilder, Sand in der Luft, Wolken ziehen herauf und bleiben fern, Casablanca Voyageurs. Unzweifelhaft ein Messersong, allein diese insistierende Bridge, und doch geht hier vieles auf, für die nun folgende Platte. Es ist dunkel in der Sonne, in einer khakifarbenen Welt. Das verrückte Haus und das Haus der Lüge, sie mögen über ihre Keller verbunden sein. Es ist eine andere Zeit.
  2. Der Mieter: Der eckige Funk der Strophen verebbt im Refrain, und mit ihm jede Orientierung. Mir gefällt die Orgel, und die Wortwahl. Wem gehört dieser Kopf? Am Strand angekommen, vergisst man sofort alles. Am Ende ist klar, dass es auf dieser Platte kein zweites Die kapieren nicht geben wird.
  3. Tapetentür: Das blecherne Piano klingt nach Sehnsucht. Hier ist ein Stück dieser energiegeladenen Idleness, die die Specials zu ihren düsteren More Specials-Zeiten ausgemacht hat: Resignation und Energie, zusammenreißen und losbrechen. Ein Auflehnen gegen den Verlust des Selbst im dunklen Ende der achtziger Jahre. Ich hätte nicht gedacht, dass sich die Worte „ein Telefon schellt“ mit derartigem Effekt singen lassen.
  4. Anorak: Das ist wohl nun das Commitment zum Rhythmus, zu blue-eyed Rocksteady, zu diesem etwas zu kopflastigen Police-Groove. Pures Momentum. Ich liebe es natürlich, den ganzen Referenzrahmen und auch den Text. Uhren verstellen, und dann ist das Ding gelaufen. Klar.
  5. Tiefenrausch II: Sehnsucht, Fernsucht und ein kurzes Innehalten, bevor man ihr nachgibt. Ich muss unvermittelt an die Buchhandlungen meines Lebens denken, und die Flucht, die es dort zu kaufen gab. Dann daran, wie die Bücher auf der Kofferraumablage aus dichtem, schwarzen Textil im Passat meiner Eltern auf der Autobahn in der gleißenden Sonne liegen. Der Track ist voller Details. Dieser total gute VST-Drumsound!
  6. Tod in Mexiko: Ziemlich sicher der Song der Platte, der von dieser Zeit zu Beginn des Jahres 2020 im Gedächtnis bleiben wird. Zugleich ein Verweis auf eine der signifikanten Passagen aus Kachelbad’s Erbe. Diese Stimmung ist schön, und schwer zu ertragen, die wistfulness (noch so ein Wort ohne deutsche Entsprechung) in Musik und Text trifft einen schwer zu bestimmenden Punkt nah am Herz. Die Zeit ist eine Wunde, das Alter ist ein Ort. Merkenswert.
  7. Die Frau in den Dünen: Ein Drängen, ein Losbrechen, ein Reißen in Sprache und Sound, Messermusik. Bezeichnend ist das Wiederholen eines Kernbegriffs – immer sind es Universalismen, eher Universen als Worte, die sich gut proklamieren und schreien lassen. Bausteine von Parolen, die den Hörenden die Entscheidung überlassen, was denn nun genau gewollt werden soll: Alles, Lust, Sand. Arbeit am Wort. Das ist wohl der Hit der Platte, denke ich, jedenfalls die höchste Intensität bisher. Von hier kann ich das Ende des Zuges in der Kurve sehen.
  8. Stern in der Ferne: „Die Fauna vergibt nicht, sie passt sich nur an“. Ich realisiere jetzt noch nicht, wie zutreffend das in einem Monat sein wird. Es muss großen Spaß machen, diesen Song live zu spielen.
  9. Versiegelte Zeit: Schließlich ins Freie. Im großen Kreis gehen, den knirschenden Sand unter den Chelsea-Boots, ein bisschen Freakout, die letzte rauchend innehalten, in die Sonne schauen. Ein Aquarium aus Licht. Das Ende eines sanftes Albums, das schließlich auch vom Ende der Menschen handelt.

  1. Die Spex schreibt vom Rumgeistern, das ist zwar kein Adjektiv, aber schön und treffend gesagt. 

All your City lies in Dust

Am letzten Tag der Dekade steht die Sonne tief, waagerecht zu den letzten schwarzen Oberflächen des Jahres 2019. So muss das sein, Echo einer Erinnerung an den Blick aus Kriesse’s Fenster in den Nuller Jahren. 2019 war ein Jahr mit hoher Dichte, das war klar, als es sich vor einer Ewigkeit über den Dächern der Stadt ausbreitete.

Die Konstanten in diesem Jahr waren Bewegung und Arbeit. Das war erwartet und geplant, und in der Kombination schöner und härter als vorgestellt. Ich habe in einem Hotelzimmer über Wilshire gearbeitet, in Garagen an den Westküsten der USA und Portugals, in einem Haus aus Holz am Tegernsee, auf einer Dachterasse über dem Beton Marseilles. Am Schreibtisch einer kolonialen Stube in Ho Chi Minh City, in einem sonnigen Innenhof in Paris. Neben dem Ofen in einer Scheune in Brandenburg. In Betten, Zügen, Nächten. An welchen Ort ich gelangte, Arbeit war bereits dort.

Vieles später: Los Angeles und seine Schatten, Sport1, Staples, Alkohol, schwarz weiß. Rave, Nebel Nebel, Love in a Basement. Eupalinos und die Wahrheit und Demut, die mich Web Design as Architecture gelehrt hat. Gebäude in Marseille, Rue Marengo. SEGMENT oder die Freude, Willen in Präsenz zu verwandeln. Wahre Partnerschaft. My life as perpetual experimental proof that a life can be lived this particular way.

Selbstdisziplin und Intensität sind berauschend, und berauschende Dinge darf man nicht übertreiben, sonst spürt man sie nicht. In den 2020er Jahren muss das Verschwinden gelernt werden. Langsamkeit, Intervall, den Kick der Disziplin rationalisieren. Mit den Jahren wird klar, dass diese Worte nicht das Gegenteil der Agenda sind, sondern ihr Endgame. Totale Intensität und völlige Ruhe als Einheit der Differenz, しんずい, following the material and guiding it at the same time, until coherence emerges organically. Musik kurz davor, am Ende der Zehner Jahre.

Winter

Frühling

Sommer

Herbst

Winter

Sets


  1. I never lost my adoration for the lessons the sport taught me, about resilience and grace, about humbleness, the american myth of hard work, about getting up and not blaming anyone but your own body and mind. 

Neue Kommunikation

2019 war das erste Jahr ohne die gedruckte Spex, also die Publikation, die (neben De:Bug und The Wire) meinen Zugang zu Musik wesentlich geprägt hat. Eigentlich nicht den Zugang, eher die Art, über Musik nachzudenken, darüber zu sprechen und zu schreiben. Über Musik schreiben, nicht um sie zu kritisieren oder öffentlich gut zu finden. Über Musik schreiben als Auseinandersetzung mit der Art, wie sie in die Welt und die eigene Psychologie passt. Darüber, was Musik empfindbar macht, also darüber, was Musik in der inneren Welt hervorbringt. Auf diese Weise über Musik zu schreiben, hat eine gewisse therapeutische Qualität. Über Musik schreiben ist auch immer: Die eigene Mythologie schreiben, eine Welt erfinden und dann darin leben.

Das Format der Fünf Alben des Jahres ist beliebig, inadäquat und überholt. Auf diese Weise vermeintliche Struktur schaffen zu wollen, ist müßig. Ich tue es weiterhin, weil es mir die Möglichkeit gibt, ein Jahr zu erinnern, anhand der Dinge, die wirklich zählen, eben weil sie keine Dinge, Momente, Tage oder sonstige Gegenstände sind. Sondern Prozesse, Loops, Echos, Perspektiven und Atmosphären, die nicht stattfinden, wenn Musik nicht stattfindet. Das Jahr ist nicht passiert ohne Musik, und es wird nicht erinnert ohne Musik.

Dies sind die fünf Alben, an denen sich kristallisiert, was ich in Zukunft 2019 nennen werde. Wie kann man das erklären, wer soll das lesen, wo soll das vorkommen? Danke, Spex.

Weiterhin bedeutungsvoll, häufig gehört und hängen geblieben: TR/ST – The Destroyer 1&25, Messer – Anorak 7″, Pessimist – s/t, Wax – 70007, Demdike Stare – Passion, Topdown Dialectic – Vol. 2, Galcher Lustwerk – Information, Belgrad – s/t, Martyn – Odds against us, Hiro Kone – A Fossil begins to Bray, Pom Pom – Untitled (2019)


  1. Halbwegs nach Zumthor: Dimensionen und Materialien, Licht, Luft und Klang. 

  2. Aus einem Gespräch mit Yagasaki Zentarō, aus der exzellenten Interviewsammlung Die Lehre des Gartens

  3. Meine Überzeugung, dass es wichtiger ist, wie die Dinge gesagt werden als was gesagt wird, führt nicht selten zu Missverständnissen. Mit Einerseits völlig normal/andererseits a fucking tragedy ist wirklich restlos alles erklärt bevor die Worte überhaupt im Gehirn angekommen sind. Ich verdanke dieser Sprache viel, emotional und für’s große, ganze Weltverstehen. 

  4. Und – echt – die Melancholie der Standorte

  5. Music to dance and cry to. Wichtig und schön, aber leider auf Albumlänge nicht auf dem Niveau des ersten Albums

Slowly forming Smoke on an industrial Winter Morning

Der Winter ist zurück, und mit ihm die eisige Luft. In ihr scheint mehr Raum zu sein, neben Molekülen und Edelgasen, Raum für das körperlose Material der Gedanken und Empfindungen, für die innere Welt und das Licht, das durch sie fällt. Scharf und klar scheint sie Auflösung jeder Wahrnehmung zu erhöhen, jede Empfindung schneidender und jeden Gedanken kristalliner zu machen. Luft, die zu diesen Dingen fähig ist, eine der großen Freuden der dunklen Jahreshälfte.

Möglicherweise ist diese Empfindung im Dezember 2019 so präsent, weil sie zusammenfällt mit dem neuen LP-Release von Shed1, Oderbruch, eine Art Heimatalbum. Sein Thema verhandelt es nach Shed-Kriterien: wie immer geht um das Verhältnis von Atmosphäre und Raum, um die strukturelle und formale Untersuchung eines alten Genres2. Folgerichtig ist der Opener B1 (Anfang und Ende) der große Hit der Platte, ein auf das Innere konzentrierter Banger, konstruiert aus der vollständig eigenen Materie des Shed-Universums. Durchaus spürbar fällt der Blick dabei aus der Stadt auf das umgebende Land (Sterbende Alleen).

Das Album steigt wie weißer Dampf in kalte Winterluft – die Form ständig verändernd, warm, gewichtlos und voller Momentum, pure Shedism. Der Aggregatszustand dieser Musik könnte nicht besser zur klaren Winterluftmaterie passen, sie erzeugt ein Gleichgewicht der Konzentration im Dies- und Jenseits der Wahrnehmung. Es ist Musik, die Schönheit im Dualismus des Daseins findet, abgeschlossen und aufgehoben zugleich. Das Innere, das beständig, klar und ruhig in der Welt verdampft. Musik für den Rest des Jahres, und alles was kommt.

(Und weil Shed nur ein Protagonist im Privatuniversum von René Pawlowitz ist, gibt es parallel das siebte WAX-Release. Für die schwere Luft der Nacht. Muss.)


  1. Überhaupt lassen sich die Jahre in solche mit und solche ohne Shed-Alben unterteilen. Die Jahre mit Shed sind die, die mich an den Rand von etwas gebracht haben, in denen etwas wortlos erklärt werden konnte, in denen zusätzlicher Platz zur Verfügung stand. 

  2. Mir fällt ein, dass die Kraftwerk-Platten meines Vaters, die ich als Kind hörte, jünger waren als es Techno heute ist. Zeit ist anekdotisch. 

Let’s save this particular now

Dieses Jahr hat in Los Angeles begonnen, nachdem die ersten beiden Monate in einer Art Druckwelle an mir vorbeigezogen waren, nachdem WAF GMBH ihre Existenz rechtsgültig begonnen hatte. Es war eine Rückkehr an einen Ort, den ich während meiner vorigen Besuche nicht verstand, aber mich stets fasziniert zurückließ. Das fundamentale Versagen dieser Stadt, eine Stadt zu sein1, ihre psychotische Dunkelheit, die Geometrie ihrer Schatten im immerzu perfekten Licht – mein Versuch, eine Perspektive auf Los Angeles zu finden hält an und findet inzwischen in einem Are.na-Channel statt: Parsing L.A..

Seit meiner Rückkehr habe habe ich nicht aufgehört, über diese projizierte Stadt und ihre Orte nachzudenken. Ebenso habe ich nicht aufgehört, Boy Harsher zu hören. Die dunkle Campyness des Projekts aus (enttäuschenderweise: Massachusetts) fließt gleichermaßen in den schwarzen Sonnenschein, der so spezifisch für Los Angeles ist. Diese Musik füllt Industriebrachen und flutet die mit 20 Meilen pro Stunde vorbeiziehenden leeren weißen Kuben, die Gebäude sein sollen. Wie so vieles in den Vereinigten Staaten ist sie eine Rekonstruktion europäischer Affekte mit amerikanischen Mitteln. Wie so vieles in Los Angeles speist sich ihre Anziehungskraft aus eben dieser monumentalen Fakeness.

Ich habe die Alben und LPs von Boy Harsher mehr gehört als viele andere Musik in diesem Jahr. Los Angeles blieb und die Stimmung blieb und die Erinnerung an das Licht und die Menschen blieb. Es ist schwer, sich der Sleaziness zu erwehren, dem Eingeständnis einiger Kaputtheit und der Weite und Freiheit, die von dieser Musik ausgeht. Das hat viel mit Jae Matthews‘ Gesang zu tun, geschult an der Attitüde und Anziehungskraft der europäischen Goths (Siouxsie Sioux, Anja Huwe, man muss die richtigen YouTube-Videos kennen).

Motion, Westerners und Morphine (ey, diese Titel) haben mich durch einige Härten halluziniert, als Narrative einer Welt, die es nur ausgedacht gibt, und halt in Los Angeles, wo alles erfunden ist. Es ist großartige Musik, wie L.A. eine großartige Stadt ist, wie es nichts sharperes gibt als eine Truckerjacke aus gewachstem Twill im richtigen Licht.

Boy Harsher wurden zum Kristallisationspunkt meiner Beach Goth-Playlist, vermutlich der reinste Ausdruck meiner Lust an brachial doofer Affirmation, zu der ich in diesem Jahr gefunden habe. Diese Playlist bedeutet mir viel – ebenso wie Los Angeles und meine Perspektiven in der Stadt, denen Boy Harsher Raum und Permanenz in 2019 gegeben haben, auch auf dem kalten Boden der Tatsachen zum Ende der Dekade.

There was a moment among the abstract government buildings. I was very tired, the mournful groove of Boy Harsher oozing from my wireless earpiece, an electric scooter zooming past. I realized where I was, which world, how far I had walked. Let’s save this particular now. (Berlin, September 2019)


  1. Traversing the airspace above L.A. and the valley beyond makes the vastness of this country apparent. It is, fundamentally, still the far west, unclaimed nature, emptied of its original inhabitants, painted with a thin layer of civilisation and semi-permanent architecture. Were the people settling here to leave, it would turn full western-trope ghost town of monumental dimensions. 

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