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Clear without being known

The Colossus of Maroussi schien mir langwierig, während des Lesens, das Gefühl war wunderbar und richtig, selbst wenn Henry Miller seinem Text abhanden kommt und die Gedanken einzeln auflesen muss. Aus der Ferne, nachdem es ausgelesen ist, scheint das Buch bedeutsamer, als sei sein aggregierter Inhalt aus Landschaftsbeschreibungen, Psychosen, herbeifabulierten Seancen, Abenteuern, den Problemen mit allerlei Wetterlagen und Vehikeln in seiner Gesamtheit eine Lektion über das mediterrane leben, über das Verlassen der Welt und das ankommen im Sonnenlicht. Es ist kein Signifikantes Buch in meinem Leben, aber es zu lesen war ein signifikantes Ereignis, ein Echo meiner Reise nach Athen und eine weitere Achse zwischen Süden und Norden. Die Umstände und Inhalte werden dem zentralen Aspekt gerade: die eigentümliche, introvertierte Qualität seiner Sprache und der Idee des Schreiben als ganzes Leben, als die allumfassende Metadisziplin der Ideen, dem Gegenüber der Architektur als Metadisziplin des Raumes. Dieses Buch wird eine der Erinnerungen dieses Jahres sein, das nun zur Hälfte herumgebracht ist. Ich schließe es und denke an Flucht.

Gradient

They say run to feel free, but more than freedom, running restores a sense of sharpness to the self. When absorbing physical strain, perception becomes direct and precise, removing the dust and sludge that is the ego-induced lack of cognitive presence. After running, when the world has returned, I immediately want to run again.

The body at the beach is a different one, it is salty and dry, like weathered atlantic rock in the sun. Constantly washed by the spray, and static. Like every particle of the system that forms the beach, its only relations are to the sun and the wind and the invisible stars. The body exists in stasis, it becomes part of the cosmic scale, its smallest component.

Für die Dauer des Laufes spielt nichts eine Rolle, nicht die Stadt, nicht das Wetter, nicht die anderen laufenden Menschen. Der Lauf ist equipmentlos und praktisch, er kann leicht überall und immer stattfinden – aber die Einfachheit des Laufes besteht darin, dass er die Welt für eine Weile durch einen simplen, konkreten, verstehbaren Prozess ersetzt. Der Lauf ist die Welt und die Welt ist der Lauf.

I have been discovering running as something that can belong to my self, my inner self, not my context-aware, pattern-reading intellectual self. Part of it is leaving the mental and physical state and place, by getting up and by fleeing it. An other part is facing the world directly – it’s the planet and me, entering into a brief, unmediated relation. I see the parallax of its landscapes change as they pass me. It sees me making progress like a slow cloud, incapable but determined. Running occurs in a time outside of time, in brief spurts, and it concerns the body over the mind, cognition over recognition. Running is universal, eternal, normal as dirt and precious and free of shape and boundary, like water.

I went for a run today, in a straight line from the column at Casa da Música to the atlantic shore, where I sat down for a while.

Zu Laufen bedeutet einen Ort in Besitz zu nehmen, eine Stadt oder ein Viertel psychologisch abzuschreiten, sie nach deinen Regeln zu durchteilen. Die Geometrie deines Laufes ist dein Zuschnitt der Welt.

Apply less Pressure to Time

Als dieses Jahr gerade begonnen und die Krankheit nachgelassen hatte, notierte ich die Möglichkeit, weniger Kraft aufzuwenden. Hier, am letzten Tag des Jahres, ist klar, dass es der wesentliche Gedanke und der Beginn einer Zeit war. 2022 war wunderbar, endlos und schön, wärmer und ruhiger als meine Erinnerung reicht. Ich machte mich auf Wege, und da werde ich nun für einige Zeit sein.

Zeit auf einer Insel zu verbringen, deren Grenzen unmittelbar sichtbar sind, erzeugt einen anderen Sinn für Hier und Jetzt, eine innere Relation zum Universum und seiner Ausdehnung. Es ist erhebend und reduktiv zugleich: Ich bin ein statistischer Punkt, klar verortet auf X- und Y-Achse. Einfacher gesagt: Ich weiß mit großer Präzision, wo ich bin und wo die Sterne beginnen. Das ist beruhigend, und ein wichtiger Bestandteil des Inseldaseins.

Im Juni sprang ich innerhalb einer Woche in sechs Gewässer: den Rhein, die Isar, den Eisbach, den Pilsensee. Dann zwei unbenannte Flüsse in den Abruzzen, schließlich das Mittelmeer. Diese langsame Zeit dehnt sich in meiner Erinnerung aus, wie ein zusätzliches Leben, das in diesem Jahr in meines mündete. Im November saß ich am Praja da Luz, und es war immer noch vorhanden. The traveller faces the present mingled with the past: its reflection in the spaces, the aged beams of the wooden ceilings, in fragments of Rome, beneath running water, following the yellow street lights, in the touch of linen, the rare full night of sleep, in the smell of espresso and the bells of a church, the fur of a small animal, an early walk to the trees and a run circling the ancients.

Damit ich mich okay fühlen kann, muss alles eine gewisse Intensität aufweisen. Immer zu viel, und ein wenig zu ernst. Es muss ein Risiko eingegangen werden, und es muss offengelegt werden, dass dieses Risiko eingegangen wird: Winning by the virtue of failing to be taken entirely seriously. Das betrifft Sprache, Gestaltung und Kunst und Musik. Ich verbrachte das Jahr in dieser geistigen Atmosphäre, und was ich sah, tat und hörte entsprach ihr. Wo und was auch immer die Schnittmenge von Nothings gonna Hurt you Baby, Street Pulse Beat1 und Dominator ist, dort war ich zu Hause. Sonic journal of a walking person, 2022.

Winter

Frühling

Sommer

Herbst

Winter

Niemand hat mehr Energie in mein Jahr gebracht als SPFDJ. Ihre Sets und Playlists sind die Definition von gutem Geschmack at breakneck speed. Immer alle Regler oben und alle Potis ganz rechts. Way to go, Speedy Fockin‘ DJ.


  1. High on Semidulce in einem maroden Fiat 500, in einem Sandsturm, auf einer Insel, in der Nacht 

Der Lange Sommer

Dieses Jahr war Zeit für Musik. Nach den vergessenen, überarbeiteten Jahren zu Beginn der Dekade war 2022 hell und weit, es begann früh und blieb offen, wie ein langer wacher Sommer. Ich konnte Musik aufmerksam hören, selten fand ich mich in Situationen, in denen ich sie benutzen musste – und wenn, dann tat ich es mit der Lust, das Bewusstsein zu verlieren (SPFDJ, give me strength). Das war eine Entscheidung und ein Bruch.

Meine Aufmerksamkeit und Begeisterungsfähigkeit für Details in Musik war wieder präsent, die Freude über wilde Entschlossenheit und kluge Ideen: Manchmal bin ich so hingerissen, dass mein Glaube an Schönheit und Würde für einen Moment wieder hergestellt ist1. Diese Quelle von Optimismus wurde mir in diesem Jahr wieder bewusst. Ich wollte bewegt werden, ich wurde bewegt, und Musik war die Richtung.

Wenn ich diese fünf Releases betrachte, scheinen sie mir universell, wenig gebunden an Erfahrungen oder Orte. Was ich gehört habe, habe ich dauernd gehört. Keine dieser Platten ragt heraus, wie es Darkside’s Spiral im vergangenen Jahr tat. Diese Platten sind abstrakt, vielschichtig und deep, sie eint eine gewisse Ruhe. Wenige Freakouts, keine Gitarren, keine großen Gesten und kein Geschrei. Vielleicht bin ich da etwas auf der Spur, vielleicht habe ich mich weniger an der Welt gerieben, weniger von mir vebraucht als ich gewonnen habe. Das wäre neu und gut, und vielleicht ist das die Richtung des vierten Jahrzehnts.

Listen to the few that understand rationality and poetry alike, who cannot fathom difference between knowing and making, able to create the world by speaking it. The ones that act and think in silence, obscured and friends with shadows and birds and moss, disconnected as in free.

Generell relevant, stets vorhanden oder kurz wichtig: Au Suisse – S/T, Borderland – S/T, The KVB – Unity Remixes, Carsten Jost – La Collectionneuse, Sten – Earthshine8, Yves Jates – M, Sky H1 – Azure, Onoe Caponoe – Voices From Planet Cattele, Mhamad Safa – Ibtihalat, Relaxer – Licking, She Past Away – X, Kuedo – Infinite Window, VA – Best of Delsin Records 2022, Airchina – LP3, Andy Stott – The Slow Ribbon


  1. Ocean Vuong hat es besser gesagt: There are moments, I think, that are more heartbreaking or absurd in reading, which I respond to by simply putting the book down (…) For me, those moments are so full of astonishment that there is no room even for their expression. (…) Maybe there’s just something wrong with me in that I cry and laugh at life — but often end up in muted awe and wonder of words. 

  2. Es gibt selbstverständlich immer etwas zu sagen, zumal über die technischen und handwerklichen Aspekte dieser Musik, und über die Art, wie sie verankert ist, die übliche Suche nach Verbindungen zu Welt und Selbst: Musik die es nicht gibt 

  3. Ein wichtiger Teil dieses Katalogs läuft natürlich unter dem Pseudonym Hyroglyphic Being, und der vielleicht interessanteste Teil als Mitglied von Africans with Mainframes. 

  4. Also dieser anderen Sorte House, mit der ich immer meine Schwierigkeiten hatte: zu nervös, zu freaky, zu sehr anything goes, why not und all das. Ich lag falsch, wie mit so vielen anderen Dingen, die mal richtig gewesen sind. 

  5. So ihre selbstgewählten Genrebeschreibungen, die treffender nicht sein könnten. 

  6. Ich kann nicht anders als die Echos und Schichtungen von Dub als Gewicht wahrzunehmen, nicht wie das Gewicht eines schweren Objektes, eher wie das implizit wahrgenommene, eher gewusste Gewicht des Wassers über mir am Grund eines Pools. 

  7. Neben der viel besprochenen Achse Detroit–Berlin gibt es natürlich auch Detroit–Hamburg. Von Oswald ist Hamburger, und die Stadt fand in den frühen nuller Jahren zu einer eigenen Version von Detroit: die Stoik der Musik und der Menschen, ihr Schalk und ihre Sachlichkeit, sie entsprachen einerander für einige Jahre. Dial Records formten daraus eine eigenständige Version von Techno, die mir vor vielen Jahren Hamburg ermöglicht hat. und das dieses Jahr bestimmt hat, in dem ich die Stadt zu verlassen begann. 

  8. Ein Verweis zurück auf The Essence, eine der zentralen Platten des Dial-Universums. 

Coastal Worship

Elektronische Musik reflektiert die Bedingungen ihrer Produktion, die Schichtung der Ebenen, die Dramaturgie von Bars und Parts – sie sind das Relief der Interfaces der Maschinen, mit denen sie erzeugt wurden, freigelegte Produktionsspuren sozusagen. In in der kargen Dramaturgie Floor-orientierter Musik werden sie besonders deutlich, lassen sich reverse-engineeren und zurückführen auf unmittelbare, lineare, westliche Emotionslogik und die Devices, die erfunden wurden um diese effizient zu bedienen1. 2022 sind alle Devices Software, sie sind ein Staub der Möglichkeiten, eine Wüste aus imaginierten Plugins und Effekten und digitalem Klebstoff dazwischen. Das Wissen um Produktionsmaterial hat eine neue Qualität erreicht und mit ihr eine gewisse Porösität von Musik, die Angriffspunkte für komplexere Ideen und mehr verschiedene Menschen ermöglicht.

Mhamad Safa ist einer dieser Menschen. Er weiß das Poröse zu greifen, er findet Schnittstellen die komplex genug sind für die rhythmischen Traditionen seiner Sozialisation: Es braucht eine prozessorientierte Betrachtung, einen Stream oder ein zirkuläres Verständnis, um die Tiefen der nordafrikanischen und levantinischen Songstrukturen zu lesen. Sein Release Ibtihalat ist detailreich zerklüftet und polished zugleich, ein komplexes System, dessen fraktale Struktur nicht in Bars und Parts zu beschreiben ist. Diese Musik ist wild und geordnet zugleich, sie ist beides in jedem Moment.

Ein Track wie Ouda & the Strikers ist als Dramaturgie, als Storytelling zu begreifen und im gleichen Moment als Musik, deren überwältigende Präsenz fast skulpturale Qualität bekommt. Sie ist Designprozess und Beschwörung, eine Legierung aus Industrie und psychologischer Macht, Mathematik und Ritual.

Nicht nur diese Auflösung von Körper und Intellekt in Musik legt den Vergleich zu Iannis Xenakis nahe, sondern auch die Fähigkeit, Maschinen perfekt zu verstehen und sie mit diesem Wissen gegen ihre eigene Natur zu verwenden. Wie Xenakis gliedert auch Mhamad Safa seine Devices in die Geschichte der Kulturtechnologie ein, älter und weiser als die in Platinen und Code eingeschriebenen Interessen ihrer allzu weißen Urheber.

Ibtihalat ist eine der anstrengenden und interessantesten Platten des Jahres. Musik zum Denken, Musik zum nichts mehr denken. Ein Plateau von dem aus beinahe unsere Zukunft zu sehen ist.

(Ich begann diesen Text im April und konnte ihn nicht beenden. Im Dezember, beim wieder-hören der interessanten und wichtigen Musik des Jahres, weiß ich was ich sagen wollte.)


  1. Die weiße Transparenz dieser Maschinen hat erst in den Händen der schwarzen Diaspora in Detroit, Chicago und London Raum und Funkiness gewonnen. Wir sprechen nicht von Techno, wenn wir von weißen Männern sprechen. 

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